Ob die Bundeswehroperation "Pegasus" der – wenigstens nachträglichen – Zustimmung des Bundestags bedurft hätte, wird seit ihrer Durchführung 2011 heiß diskutiert. Das BVerfG hat die Frage am Dienstag verneint – zu Recht, findet Robert Glawe.
"Der Antrag wird zurückgewiesen." Mit dieser Urteilsformel hatten wohl die wenigsten Beobachter gerechnet (Az. 2 BvE 6/11). Erstmals seit seiner judikativen Entdeckung vor über zwei Jahrzehnten – im "Somalia-Urteil" vom Juli 1994 – ist der Parlamentsvorbehalt bei Auslandseinsätzen der deutschen Streitkräfte damit durch Folgerechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) eingegrenzt worden. Zwar betrifft die Entscheidung von Mittwoch lediglich Fälle, bei denen "Gefahr im Verzug" vorliegt. Doch gerade diese Eilentscheidungen sind in der Verfahrenspraxis hoch bedeutsam, zumal in außenpolitisch unruhiger werdenden Zeiten: Ad-hoc-Einsätze in Krisengebieten, insbesondere Evakuierungen und Geiselbefreiungen, sind und bleiben ein wahrscheinliches Szenario.
Anlass zur Entscheidung hatte ein Einsatz dieser Art im Februar 2011 in Libyen gegeben: Unter dem Einfluss der seinerzeitigen Unruhen in den Nachbarländern Tunesien und Ägypten eskalierte dort im Februar 2011 der innenpolitische Konflikt zwischen der Regierung und deren Gegnern zu einem bewaffneten Aufstand gegen das Regime von Muammar al-Gaddafi. Im Zuge der "Operation Pegasus", einem Evakuierungseinsatz deutscher und britischer Streitkräfte, wurden vom 26. Februar bis zum 3. März 2011 insgesamt 262 Personen, darunter 125 Deutsche, während der Aufstände aus Libyen ausgeflogen. Schwerpunkt dieser Operation war die Evakuierung von 132 Menschen mit zwei Transall-Maschinen der Bundeswehr von einem Ölfeld nahe des ostlibyschen Wüstenortes Nafura.
An Bord der Flugzeuge waren auch 20 mit Handwaffen bewaffnete Militärpolizisten und Fallschirmjäger der Bundeswehr zur Erfassung der an Bord zu nehmenden Personen sowie zur äußeren Absicherung. Es kam – anders als im Fall der Operation Libelle 1997 in der albanischen Hauptstadt Tirana – zu keinem Schusswechsel während der 45-minütigen Aufnahme der Zivilpersonen. Die Bundesregierung bewertete diese Maßnahme später als "gesicherte Luftevakuierung", nicht als Einsatz bewaffneter Streitkräfte.
Mitentscheidungsrecht "parlamentsfreundlich auszulegen"
Dies sah das BVerfG anders. Mit seinem heute verkündeten Urteil hat es auch vordergründig die Parlamentsrechte gestärkt. Es betont ausdrücklich den wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt als ein "wirksames Mitentscheidungsrecht" des Deutschen Bundestages, das "angesichts seiner Funktion und Bedeutung parlamentsfreundlich auszulegen" sei.
Solch ausführliche Erläuterungen zur Bedeutung des Parlamentsvorbehaltes – im Wesentlichen eine Wiedergabe der großzügigen AWACS-Rechtsprechung aus dem Mai 2008 – lassen das "Ja, aber…" in der Argumentation der Karlsruher Richter bereits erwarten. Und so kommt es dann auch: "Soweit dem Grundgesetz eine Zuständigkeit des Deutschen Bundestages in Form eines wehrverfassungsrechtlichen Mitentscheidungsrechts entnommen werden kann, besteht kein eigenverantwortlicher Entscheidungsraum der Bundesregierung." Diese Formel geht zwar ebenfalls auf das AWACS-Urteil 2008 zurück, doch ist nun erstmals das konditionierende "Soweit" verfassungsgerichtlich näher bestimmt worden.
Bei Gefahr im Verzug ist die Bundesregierung demzufolge ausnahmsweise berechtigt, den Einsatz bewaffneter Streitkräfte vorläufig allein zu beschließen. Der Bundestag muss dem Einsatz jedoch umgehend zustimmen, damit dieser fortgesetzt werden darf. Tut er das nicht, so muss der Einsatz zwar beendet werden – die Eilentscheidung der Regierung wird dadurch jedoch nicht in Gänze rechtswidrig, sondern entfaltet die gleiche Rechtswirkung wie die unter regulären Umständen mit Zustimmung des Bundestages getroffene Entscheidung.
Parlamentsbefragung bei Eilfällen nur im Nachhinein praktikabel
Für eine konstitutive parlamentarische Zustimmung bleibt bei einem von der Exekutive im Eilfall beschlossenen und bereits begonnenen Einsatz daher lediglich ex nunc Raum. Die parlamentarische Verweigerung der Zustimmung verpflichtet die Bundesregierung, einen noch laufenden Einsatz zu beenden und die Streitkräfte zurückzurufen. Ist die Militäroperation allerdings bereits abgeschlossen, bevor der Bundestag erstmals die Möglichkeit hat, sich mit der Sache zu befassen, bleibt für eine konstitutive Zustimmung kein Raum mehr: "Die Einsatzentscheidung der Bundesregierung bedarf in einem solchen Fall trotz der Subsidiarität der exekutiven Eilkompetenz zu ihrer Wirksamkeit oder Rechtmäßigkeit keiner nachträglichen Genehmigung durch den Bundestag."
Mit einer Genehmigung im Nachhinein ließe sich auch allenfalls eine politisch-präjudizierende Wirkung für zukünftige ähnlich gelagerte Fälle erreichen; sie bliebe wirkungslos, soweit vollendete Tatsachen geschaffen wurden. Das erkennt das BVerfG zutreffend, wenn es auf die fehlende Rechtserheblichkeit eines nachträglichen konstitutiven Beschlusses abstellt: "Wenn ein rechtserheblicher parlamentarischer Einfluss auf den konkreten Einsatz der Streitkräfte aus tatsächlichen Gründen nicht mehr möglich ist, ergibt sich aus dem wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt keine Pflicht der Bundesregierung, eine Beschlussfassung des Bundestages herbeizuführen."
2/2: "Gefahr im Verzug" auch bei Geheimhaltungsbedürftigkeit?
Dieser Aspekt macht das besondere Vertrauenserfordernis zwischen Regierung und Parlament im Zusammenhang mit Militäroperationen deutlich. Wie das BVerfG ausführt, ist dem offenbar auch nach Ansicht der antragstellenden Fraktion ausreichend Rechnung getragen worden. Angesichts der Tatsache, dass der Außenminister die Fraktionsvorsitzenden im Bundestag unmittelbar nach Beendigung der Evakuierung telefonisch informierte, die Obleute der relevanten Ausschüsse umgehend schriftlich in Kenntnis gesetzt wurden und die politisch-parlamentarischen Informationsmöglichkeiten erst mit einer Kleinen Anfrage aus dem Juni 2011 in Anspruch genommen wurden, sah sich das BVerfG nicht veranlasst, über die konkreten Unterrichtungsrechte des Parlaments bei Eilentscheidungen zu entscheiden.
Die Antragsteller haben ihrem Vorstoß insofern die falsche Fallfrage zugrunde gelegt. Denn der tatbestandliche Anwendungsfall "Gefahr im Verzug" dürfte nunmehr an Bedeutung gewonnen haben. Inwieweit ihm neben dem Zeitmoment (Eilbedürftigkeit) auch ein Umstandsmoment (z.B. Geheimhaltungsbedürftigkeit) zu entnehmen ist, wird nun außerhalb dieses Verfahrens zu bestimmen sein. Offen bleibt zudem, wem letztendlich die Entscheidungskompetenz auf Exekutivseite zugewiesen ist. Ist es wirklich "die Bundesregierung", also das Kollegialorgan im Sinne des Art. 62 Grundgesetz (GG)? Die hatte auch im Fall "Pegasus" weder geschlossen darüber beraten noch den Einsatz beschlossen.
Eine Entscheidung auch im Sinne der Soldaten
Insoweit bleibt der Wermutstropfen, dass das Urteil zu weitergehenden (auch materiellen) Rechtsfragen nicht Stellung nehmen und die erhoffte Klärung der vielen ausfüllungsbedürftigen Passagen im Wehrverfassungsrecht nicht liefern kann; sei es zum Verteidigungsbegriff des Art. 87a GG oder zu den erlaubten Einsatzformen der Streitkräfte im Allgemeinen. Hier erinnert Karlsruhe abermals dezent daran, dass die insoweit Verantwortlichen andernorts zu suchen sind: "Es ist Sache des Gesetzgebers, Form und Ausmaß parlamentarischer Mitwirkung je nach Anlass und Rahmenbedingungen des Einsatzes näher auszugestalten". Soweit der Gesetzgeber nicht verfassungsändernd tätig werden will, hat der Zweite Senat daher heute einer extensiven parlamentarischen Anspruchshaltung ihre Grenzen aufgezeigt.
Seit der letzten Entscheidung im wehrverfassungsrechtlichen Kontext, dem "Lissabon-Urteil" aus 2009, hat sich die Senatsbesetzung weitgehend geändert: Nur zwei der Richter von damals waren auch an der jetzigen Entscheidung beteiligt. Mit dieser haben sie bei näherer Betrachtung weniger das Parlament gestärkt, als vielmehr diejenigen, deren Perspektive in der Rechtsprechung oft nicht besonders prominent zum Tragen kommt: Durch die alleinige Eilkompetenz bei Gefahr im Verzug werde "…dem Interesse der eingesetzten deutschen Soldaten Rechnung getragen, nur aufgrund einer rechtlich verlässlichen und nicht etwa schwebend unwirksamen Anordnung in einen bewaffneten Auslandseinsatz entsandt zu werden."
Der Autor Dr. iur. Robert Glawe ist Rechtsanwalt und Major der Reserve. Gegenstand seiner Promotion waren Organkompetenzen und Handlungsinstrumente auf dem Gebiet der nationalen Sicherheit. Er veröffentlicht regelmäßig zu sicherheitsrechtlichen und sicherheitspolitischen Themen.
Dr. Robert Glawe, BVerfG zum Parlamentsvorbehalt bei Militäreinsätzen: Kehrtwende auf dem geflügelten Pferd . In: Legal Tribune Online, 23.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16992/ (abgerufen am: 28.03.2024 )
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