Das Tarifeinheitsgesetz ist weitgehend mit dem Grundgesetz vereinbar. Zwar ist der Gesetzgeber zur Nachbesserung angehalten, das Gesetz bleibt aber in Kraft, urteilte das BVerfG.
Das Tarifeinheitsgesetz ist im Wesentlichen mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) wies die Verfassungsbeschwerden mehrerer Gewerkschaften gegen das Gesetz weitgehend ab (Urt. v. 11.07.2017, Az. 1 BvR 1571/15 u.a.). Allerdings muss der Gesetzgeber nachbessern. Die Entscheidung ist mit Gegenstimmen ergangen; zwei Mitglieder des 1. Senats haben ein Sondervotum abgegeben.
Das Gesetz sei insofern verfassungswidrig, als dass die Interessen von kleineren Berufsgruppen oder Branchen bei der Verdrängung bestehender Tarifverträge vernachlässigt werden könnten. Der Gesetzgeber müsse insofern Abhilfe schaffen, urteilten die Karlsruher Richter.
Mehrere Gewerkschaften sowie ein Gewerkschaftsmitglied hatten gegen das Tarifeinheitsgesetz Verfassungsbeschwerde erhoben und gerügt, dass das Gesetz die Koalitionsfreiheit aus Art 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG) verletze. Zwei Tage hatte das BVerfG verhandelt.
Es war einmal: ein Betrieb, ein Tarifvertrag
Der sogenannte Grundsatz der "Tarifeinheit", wonach in einem Betrieb eines Unternehmens auch nur ein Tarifvertrag gelten soll, war fester Bestandteil der deutschen Arbeitsgerichtsrechtsprechung. Bis das Bundesarbeitsgericht (BAG) diesen Grundsatz im Juli 2010 aufgegeben hatte. Dies hatte zur Folge, dass in einem Betrieb seitdem unterschiedliche Tarifverträge konkurrierender Gewerkschaften zur Anwendung gelangen konnten.
Insbesondere in Bereichen der Daseinsvorsorge führte dies in der jüngeren Vergangenheit zu längeren Arbeitskampfmaßnahmen sogenannter "Spartengewerkschaften" wie der Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL) oder der Pilotenvereinigung Cockpit. Diese waren zwar zulässig, führten jedoch zu erheblichen wirtschaftlichen Schäden der betroffenen Unternehmen und zu einer "Geiselhaft" der betroffenen Bürger. Der Gesetzgeber führte das Prinzip der Tarifeinheit durch das sog. "Tarifeinheitsgesetz" im Jahr 2015 wieder ein.
Das Tarifeinheitsgesetz ordnet an, dass im Fall der Kollision von Tarifverträgen innerhalb eines Betriebes der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft verdrängt wird, die weniger Mitglieder im Betrieb hat. Die Minderheitsgewerkschaft hat sodann einen Anspruch auf sog. "Nachzeichnung" des verdrängenden Tarifvertrages der Mehrheitsgewerkschaft.
Kein Recht auf Blockade
Das BVerfG teilte in seiner Entscheidung mit, dass Art. 9 Abs. 3 GG kein Recht auf Blockademacht zum eigenen Nutzen vermittele und keine Bestandsgarantie für einzelne Koalitionen enthalte.
Auch stellten die Karlsruher Richter klar, dass das Tarifeinheitsgesetz durchaus in die Koalitionsfreiheit eingreife: Sowohl die drohende Verdrängung des eigenen Tarifvertrages als auch eine gerichtliche Feststellung, in einem Betrieb in der Minderheit zu sein, könnten eine Gewerkschaft bei der Mitgliederwerbung und der Mobilisierung ihrer Mitglieder für Arbeitskampfmaßnahme schwächen.
Das Streikrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG allerdings werde durch das Tarifeinheitsgesetz nicht angetastet. Zwar bestünden für die Gewerkschaften Unsicherheiten über die eigenen Möglichkeiten eines Tarifabschlusses. Diese begründe aber keine Haftung der Gewerkschaften für unternehmerische Einbußen im Falle eines Streiks – weder bei klaren noch bei unsicheren Mehrheitsverhältnissen. Dies hätten die Arbeitsgerichte in verfassungskonformer Anwendung der Haftungsregeln sicherzustellen.
2/2: Regelungskompetenz beim Gesetzgeber
Ein Dorn im Auge war den klagenden Gewerkschaften zudem die Frage, inwieweit der Gesetzgeber überhaupt die Regelungskompetenz für das Verhältnis der Gewerkschaften untereinander habe. Diese habe der Gesetzgeber durchaus, entschieden nun die Verfassungsrichter. Insbesondere sei der Gesetzgeber nicht gehindert, etwa aus Gründen des Gemeinwohls Rahmenbedingungen zu verändern, um gestörte Paritäten wieder herzustellen oder um einen fairen Ausgleich auf einer Seite zu sichern.
Insgesamt seien die aus dem Gesetz resultierenden Belastungen in einer Gesamtabwägung überwiegend zumutbar. Denn zum einen hätten die Betroffenen es selbst in der Hand, ob es zu einer Verdrängung komme oder nicht. Denn die Tarifvertragsparteien könnten vereinbaren, dass die Kollisionsnorm nicht zur Anwendung kommt.
Um unzumutbare Härten zu vermeiden, dürfen – so das Gericht – bestimmte tarifvertraglich vereinbarte Leistungen, auf die sich die Beschäftigten in ihrer Lebensplanung typischerweise einstellen und auf deren Bestand sie berechtigterweise vertrauen, wie etwa Leistungen zur Alterssicherung, zur Arbeitsplatzgarantie oder zur Lebensarbeitszeit, allerdings nicht verdrängt werden. Da der Gesetzgeber hier keinen Schutzmechanismus vorgesehen habe, seien hier die Gerichte gehalten, entsprechende Zumutbarkeitsprüfungen vorzunehmen.
Verdrängen und Weiterleben
Das BVerfG stellt überdies klar, dass die beeinträchtigende Wirkung auch dadurch gemildert werde, dass die Verdrängung eines Tarifvertrages nur so lange andauere, wie der verdrängende Tarifvertrag laufe und kein weiterer Tarifvertrag eine Verdrängung bewirke. Der verdrängte Tarifvertrag lebe danach für die Zukunft wieder auf.
Schließlich würden die beeinträchtigenden Wirkungen auch durch den Anspruch der Minderheitsgewerkschaft, den Mehrheitstarifvertrag nachzuzeichnen und damit die Bedingungen auch für die Mitglieder dieser Gewerkschaft zur Anwendung zu bringen, gemildert. Dieser Nachzeichnungsanspruch sei so auszulegen, dass er sich auf den gesamten verdrängenden Tarifvertrag beziehe.
Kleine Berufsgruppen und Branchen vernachlässigt
Allerdings fehlten nach der Einschätzung der Richter Schutzvorkehrungen für Angehörige einzelner Berufsgruppen oder Branchen, deren Tarifvertrag verdrängt werde. Es sei bisher nicht sichergestellt, dass die Interessen der Minderheiten nicht von den Mehrheitsgewerkschaften vernachlässigt würden.
Bis Ende 2018 muss der Gesetzgeber Abhilfe schaffen, gab das BVerfG auf. Bis zu einer Neuregelung dürfe die Vorschrift gleichwohl angewendet werden. Dafür müsste im Zweifel plausibel dargelegt werden, dass die Interessen der Minderheiten von der Mehrheit ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt wurde.
Verdrängung der Spartengewerkschaften legitimiert
Das heutige Urteil des BVerfG dürfte zur Erleichterung sowohl bei den Spitzenverbänden der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite als auch in der großen Koalition geführt haben. Wenig begeistert dürften hingegen die Spartengewerkschaften sein, ist doch ihre Verdrängung aus den Betrieben durch die Mehrheitsgewerkschaften infolge dieses Urteils heute legitimiert worden.
Aus praktischer Sicht dürfte die Sicherung der Befriedungsfunktion infolge des heutigen Urteils allerdings kaum noch erfüllt werden können: Droht keine Haftungsfolge für einen unzulässigen Streik, wird auch eine Minderheitsgewerkschaft von einem solchen kaum abzuhalten zu sein.
Interessant dürfte auch sein, wie das Gesetz bis zur gesetzlichen Neuregelung im Hinblick auf die Verdrängung von Tarifverträgen in der Praxis zur Anwendung gelangt. Dass die Mehrheitsgewerkschaft die Interessen einzelner Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, bereits in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat, dürfte wohl eher nicht der Normalfall sein.
Dennis Lüers, LL.M. ist Partner bei vangard in München und Fachanwalt für Arbeitsrecht.
Dennis Lüers, LL.M., BVerfG zu Tarifeinheitsgesetz: Aufatmen für Arbeitgeber . In: Legal Tribune Online, 11.07.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23428/ (abgerufen am: 23.04.2024 )
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