Der NSA-Untersuchungsausschuss erhält keine Einsicht in die Selektorenliste, so das BVerfG am Dienstag zugunsten der Bundesregierung. Christoph Smets zu dem Urteil, das mehr als eine unangenehme Alles-oder-nichts-Entscheidung darstellt.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit am Dienstag veröffentlichtem Beschluss das Interesse der Bundesregierung an der Geheimhaltung der NSA-Selektorenliste höher eingestuft als das Informationsinteresse des Parlaments. Auch die Einsetzung einer "sachverständigen Vertrauensperson" wurde als unzureichend angesehen, um das parlamentarische Informationsinteresse des NSA-Untersuchungsausschusses zu erfüllen. Die (verfassungs-)politisch verständliche Entscheidung ist trotzdem ein Rückschlag für die demokratische Aufsicht über Geheimdienstaktivitäten.
NSA und BND hatten unter der Bezeichnung "Joint SIGINT Activity" ein "aus Verbalnoten bestehendes Geheimschutzabkommen" und ein Memorandum of Agreement darüber geschlossen, den "internationalen Fernmeldeverkehr in Krisenregionen" aufzuklären, so die Ausgangslage, die das BVerfG dem Urteil zugrunde legte. Dazu wurde der Datenverkehr eines Internet-Knotenpunkts in Frankfurt a. M. auf bestimmte Suchbegriffe, die sogenannten Selektoren, untersucht. Einerseits ließ sich schon aufgrund der unsicheren Filterung nicht ausschließen, dass dabei insbesondere deutsche Personen oder Firmen bespitzelt wurden, die der BND grundsätzlich nicht ausspähen darf (vgl. §§ 1 Abs. 2 und 2 Abs. 1 Nr. 4 Bundesnachrichtendienstgesetz).
Andererseits hat der BND so der NSA faktisch bei deren Auslandsaufklärung gegen deutsche Interessen geholfen. Es verbinden sich daher rechtliche mit politischen Fragen zu einer hohen Brisanz für die deutsche Innen- und Außenpolitik. Daher fragte der NSA-Untersuchungsausschuss auch die Selektorenliste an, der Zugriff darauf wurde ihm aber verweigert. Stattdessen bestellte die Bundesregierung eine sachverständige Vertrauensperson - wohlgemerkt der Regierung, nicht des Ausschusses -, die schließlich Bericht erstattete.
Vertrauensperson ersetzt die Akteneinsicht nicht
Unter Außerachtlassung der verfassungsprozessrechtlichen Fragen soll nur auf die wichtigsten materiellen Erwägungen des BVerfG Bezug genommen werden. Es erkennt an, dass das Recht auf Aktenvorlage unmittelbar aus dem Verfassungsrecht stammt (Art. 44 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz) und damit zum Kern des Untersuchungsrechts gehört. Dieses Recht zur Vorlage beziehe sich im Grundsatz auf alle Akten, die mit dem Untersuchungsgegenstand in Zusammenhang stehen. Damit waren jedenfalls die Aufzeichnungen über die bei der Überwachung verwandten Selektoren grundsätzlich vom Recht des Ausschusses auf Aktenvorlage erfasst, so das Gericht. Grundsätzlich bestimme außerdem der Ausschuss, welche Akten er benötigt und müsse sich auch nicht mit bloßen Auskünften oder Aktenteilen zufrieden geben.
So sieht das BVerfG im Bericht der von der Bundesregierung beauftragten sachverständigen Vertrauensperson auch "keine Maßnahme an Erfüllung statt", weil diese – anders als der Ermittlungsbeauftragte nach § 10 Untersuchungsausschussgesetz (PUAG) – eine eigene inhaltliche Interpretation und rechtliche Würdigung vornimmt und damit nicht der Ausschuss, sondern die Bundesregierung "Herrin im Verfahren" ist. Die vom Autor zuvor geäußerte Auffassung, die Vertrauensperson sei letztlich Beauftragte der Bundesregierung, bestätigt das BVerfG und rechnet deren Bericht der Bundesregierung zu.
Diese Feststellungen zum Recht auf Aktenvorlage würden im Grunde auch eine vollumfängliche Vorlage vertraulicher oder geheimer Akten gebieten. Somit bestehe auch ein besonderes Informationsinteresse an der Vorlage der Selektorenliste "zur Gewährleistung der demokratischen Rückanbindung der Nachrichtendienste und der Bundesregierung." Denn der internationale Austausch entkoppele die Informationsgewinnung zumindest teilweise von der demokratischen Verantwortung. Auch wiederholt das BVerfG seine in der Vergangenheit oft und nachdrücklich geäußerte Warnung vor den Gefahren einer anlasslosen Vorratsspeicherung von Daten. Laut BVerfG steht dem aber das Interesse der Bundesregierung an "funktionsgerechter und organadäquater Aufgabenwahrnehmung" entgegen.
2/2: Spionage ist Regierungssache
Dieses Interesse leitet das BVerfG aus dem Gewaltenteilungsprinzip her, das der Bundesregierung die auswärtigen Angelegenheiten und speziell auch die Nachrichtendienste mit dem Zweck besonders des Schutzes von Leib, Leben und Freiheit der Bürger auch vor terroristischen Gefahren zuweise. In der Folge eines Geheimhaltungsverstoßes könne die Bundesregierung diese Aufgabe aber nicht erfüllen: Denn dann entstünde wegen der Strafmaßnahmen des weitergebenden Staates im Hinblick auf verfassungsfeindliche, sicherheitsgefährdende und (natürlich) terroristische Aktivitäten eine "Sicherheitslücke".
Ein Bruch des Vertrauens kommt daher für das BVerfG nicht in Frage: Denn die "Third Party Rule", wonach Geheiminformationen grundsätzlich nicht an Dritte weitergegeben werden, würde "nicht durch Rechtszwang, sondern als selbstverständliche Geschäftsgrundlage durch das gegenseitige Interesse an der Vertraulichkeit und institutionellen Verlässlichkeit rein faktisch gewahrt […]". Es sei deswegen unerheblich, dass auch nach Auffassung des BVerfG das Parlament und seine Organe "nicht als Außenstehende behandelt werden [können], die zum Kreis derer gehören, vor denen Informationen zum Schutz des Staatswohls geheimzuhalten sind."
Die Bestimmung, wer "Dritter" i. S. d. Regel ist, liegt nämlich gemäß internationalen Gepflogenheiten bei der übermittelnden Stelle, hier den USA. Diese waren aber nicht überraschend der Auffassung, dass auch parlamentarische Kontrollorgane ebensolche Dritte sind.
Fazit: Ein bisschen Spionage muss sein
Das BVerfG versucht zu beruhigen: Es gehe schließlich nicht um einen gesamten Sachverhaltskomplex, sondern "nur" um die genauen Ziele; die Gefahr eines "kontrollfreien Raumes" bestehe daher nicht. Weil die politisch brisanten Ziele (so etwa Regierungseinrichtungen, Institutionen der EU und Parlamentsabgeordnete) von der sachverständigen Vertrauensperson allgemein benannt worden waren, seien die konkreten Personen und Institutionen "eher von allgemeinem politischen Interesse".
Die verfassungsrechtliche Einschätzung des BVerfG kann hier mehr als in anderen Beschlüssen ohne die politische Komponente nicht gesehen werden. Die Wahl lautete für die Bundesregierung und damit letztlich auch für das BVerfG: Herausgabe der Liste und damit (vorläufiger) Ausschluss aus Geheimdienstkooperationen, ggf. Offenlegung von durch Deutschland weitergegebenen Informationen; oder Geheimhaltung der Liste und Verhinderung von durchgreifender parlamentarischer Kontrolle. Weil der Preis für das Erste zu hoch erscheint, wird den Vereinigten Staaten (und ggf. den Diensten anderer Staaten) de facto erlaubt, sozusagen "ein bisschen" zu spionieren. Denn soweit die Bundesregierung keine Konsequenzen zieht, wird mit ihrer hier für verfassungsgemäß erachteten Auffassung auch die konsequente und durchgreifende Kontrolle ausländischer Geheimdienste verhindert.
Wer genau bespitzelt wurde, kann nämlich entgegen der Auffassung des BVerfG im Hinblick auf die spionierten Sachbereiche sehr wohl wesentlich sein. Wie es selbst betont, liegt die Beurteilung dessen, was wesentlich ist, gerade nicht bei der Bundesregierung, sondern beim Ausschuss. Auch im Beschluss des BVerfG steht dieser Kontrolle aufgrund der "Third Party Rule" letztlich vor allem "der bekundete Wille der Vereinigten Staaten von Amerika entgegen". Selbst wenn man politisch der Ansicht sein mag, dass die negativen Folgen für die innere Sicherheit größer sind, als die für die Integrität Deutschlands und Europas: Ein Grund zum Feiern ist das Urteil nicht.
Der Autor ist wissenschaftlicher Beschäftigter an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Lehrstuhl für öffentliches Recht und Verwaltungslehre) und promoviert an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn zur deutschen Verfassungsgeschichte, -theorie und Staatsorganisation.
Christoph Smets, BVerfG verneint Herausgabe der NSA-Selektorenliste: Ein bisschen Spionage muss sein . In: Legal Tribune Online, 16.11.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21178/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
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