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Grundrechtsschutz durch BVerfG und EuGH: Freund­liche Sig­nale aus Karls­ruhe?

Gastbeitrag von Dr. Alexander Brade

06.01.2021

Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe

unununius - stock.adobe.com

Der jüngste Beschluss des Zweiten Senats zum EU-Haftbefehl entschärft die Beziehung des BVerfG zum EuGH. Der Senat schwenkt dabei nicht nur auf eine Karlsruher Linie ein, sondern setzt auch intern eigene Akzente, analysiert Alexander Brade. 

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Es war eine Überraschung noch vor dem Jahreswechsel: Mit seinem Beschluss in Sachen Europäischer Haftbefehl III (Beschl. v. 01.12.2020, Az.: 2 BvR 1845/18 u.a.) vollzieht der Zweite Senat des Bundeverfassungsgerichts (BVerfG) eine bemerkenswerte Kehrtwende; er erkennt die Unionsgrundrechte erstmals als Prüfungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde an und stellt die Identitätskontrolle nunmehr hintan. 

Damit schließen sich die Richterinnen und Richter der neuesten Rechtsprechung des Ersten Senates an. Ende 2019 hatte der Erste Senat in den Entscheidungen zum sog. "Recht auf Vergessenwerden I und II" den Prüfungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde und damit auch seine eigene Rolle als Verfassungsgericht im europäischen Grundrechtsverbund neu bestimmt.

Rückblick: Der eigene Weg des Zweiten Senats 

Der Zweite Senat des BVerfG hat Verfassungsbeschwerden seit jeher ausschließlich am unmittelbaren Maßstab des Grundgesetzes (GG) gemessen. Noch in seinem Beschluss Europäischer Haftbefehl II aus dem Jahr 2015 nimmt er statt der Unionsgrundrechte die Grundrechte des GG zum Ausgangspunkt und prüft speziell für die von Art. 1 Abs. 1 GG umfassten Verteidigungsrechte "einen solchen schwerwiegenden Grundrechtsverstoß im Rahmen der Identitätskontrolle". Im Jahr 2017 hat der Zweite Senat zwar in einem, dem vorliegenden vom Sachverhalt her gleichgelagerten, Beschluss offen gelassen, ob die Auslieferung eines Beschwerdeführers per Europäischem Haftbefehl aus Deutschland nach Rumänien zum Zwecke der Strafverfolgung wegen der dortigen Haftbedingungen gegen die Menschenwürdegarantie des GG verstößt. Dies geschah aber allein deshalb, weil bereits ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG wegen Nichtvorlage an den EuGH vorlag.

Die Kontrollinstrumente sind in der Rechtsprechung des Zweiten Senats stets die Hauptdarstellerinnen, sei es, wie die PSPP-Entscheidung eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat, der Ultra-vires-Kontrollvorbehalt, bei dem das BVerfG über das Vehikel des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG prüft, ob sich das Handeln von EU-Organen im Rahmen des Zustimmungsgesetzes gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG bewegt oder die Maßnahme aus dem vom parlamentarischen Gesetzgeber vorgegebenen Rahmen ausbricht. Der hier interessierende Identitätsvorbehalt wurzelt ebenfalls im GG und nicht im Unionsrecht. Im Rahmen der Identitätskontrolle prüft das BVerfG nämlich, ob die durch Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze – darunter die Menschenwürde des GG, die der Zweite Senat im Beschluss Europäischer Haftbefehl II für verletzt hielt – bei der Übertragung von Hoheitsrechten durch den deutschen Gesetzgeber oder durch eine Maßnahme von EU-Organen berührt werden. 

Gegen beide Entscheidungen ist in der Wissenschaft vielfach Widerspruch erhoben worden und in der Tat dürfte jeweils kein Anlass zur Aktivierung der Kontrollinstrumente bestanden haben; in Sachen Europäischer Haftbefehl II wird dies besonders daran deutlich, dass der Zweite Senat selbst nicht von einem Konflikt mit dem Unionsrecht ausging. Nichtsdestotrotz agierte er von seiner Warte aus jeweils konsequent und machte bis zuletzt – selbst vor dem Hintergrund der Beschlüsse Recht auf Vergessenwerden I und II des Ersten Senats – keinerlei Anstalten, davon abzurücken. Auch noch in der Jahresvorausschau 2020 des BVerfG zum hiesigen Verfahren, heißt es zur Frage des Prüfungsmaßstabs: "mit Verfassungsrecht vereinbar".

Unionsgrundrechte first, Identitätskontrolle second

Über die Gründe dafür, warum der Zweite Senat dennoch nunmehr die Unionsgrundrechte zum unmittelbaren Prüfungsmaßstab im Rahmen des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG erhebt und die Identitätskontrolle daher "auf eine absichernde Sekundärebene verlagert", kann man nur spekulieren: Gab letztlich die neue Vorsitzende Richterin des Zweiten Senats Doris König, die anders als noch im 2015er-Beschluss zudem als Berichterstatterin fungierte, den Ausschlag? Sie gilt bereits seit ihrer Habilitationsschrift aus dem Jahr 2000, spätestens aber seit dem von ihr mitgezeichneten Sondervotum zum Einheitlichen Patentgericht als Kritikerin einer (beständigen) Erweiterung der Kontrollbefugnisse des BVerfG in Sachen europäischer Integration. Dass diese Ausdehnung zuweilen zulasten des EuGH geschah, bedarf keiner weiteren Erwähnung. Seinen Höhepunkt fand diese Entwicklung bekanntlich in der PSPP-Entscheidung des BVerfG von Mai 2020. Was liegt also näher als in einer derart aufgeheizten Situation den Weg des geringsten Widerstands (mit) zu gehen, den der EuGH-Präsident Koen Lenaerts bereits ausdrücklich begrüßt hat? Er wird schließlich zitiert mit den Worten: "Ich habe mich sehr über das Karlsruher Urteil [in Sachen Recht auf Vergessenwerden] gefreut."

Auf diese Weise schlägt der Zweite Senat nun zwei Fliegen mit einer Klappe: Er betont den (neuen) eigenen Kontrollanspruch im "europäischen Verfassungsgerichtsverbund" und agiert dadurch zugleich integrationsfreundlicher als noch im Beschluss Europäischer Haftbefehl II. Auch Pragmatismus mag vor diesem Hintergrund eine gewisse Rolle gespielt haben: Denn jeder der denkbaren Ansätze zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen den Grundrechten des GG und der EU-Grundrechtecharta (Anwendung der Grundrechte des GG, "Europäisierung" der Grundrechte des GG oder Anwendung der Unionsgrundrechte) hat, persönliche Präferenzen außen vor gelassen, seine Vorzüge und Nachteile. Ist man also, wie offenbar der Zweite Senat angesichts seiner nur rudimentären Begründung (Rn. 36 f.), kein "Überzeugungstäter", spricht bei nüchterner Betrachtung wohl Vieles dafür, "schlicht" den Spielball des Ersten Senats aufzunehmen, statt eine abweichende Rechtsauffassung "tragend" zu machen und folglich das Plenum nach § 16 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) anrufen zu müssen.

Eigene Akzente des Zweiten Senats

Bei näherer Betrachtung fällt jedoch auf, dass der Zweite Senat dem Ansatz des Ersten Senats aus der Entscheidung "Recht auf Vergessenwerden II" nicht vollumfänglich folgt. Bereits im 1. Leitsatz ("grundsätzlich") adressiert er seine eigenen Kontrollvorbehalte, die auch sonst im Beschlusstext stärker hervortreten. Zwar erfolgt die Identitätskontrolle fortan gewissermaßen unter umgekehrtem Vorzeichen, sie fällt aber nach wie vor vom Umfang her stattlich aus, während der Erste Senat sich auf die Erwähnung dieses Kontrollvorbehalts beschränkt hat. Gleichzeitig nimmt der Zweite Senat einen gänzlich neuen Umstand in den Blick, der sich so bei der Entscheidung zum "Recht auf Vergessenwerden II" (noch) nicht findet: Die Verpflichtung, bei der Auslegung der Rechte der Charta sowohl die vom EGMR konkretisierten Konventionsrechte als auch die von den Verfassungs- und Höchstgerichten der Mitgliedstaaten ausgeformten mitgliedstaatlichen Grundrechte (einschließlich der des GG), heranzuziehen.

Des Weiteren fehlt in den Leitsätzen und auch darüber hinaus ein Hinweis auf die vom Ersten Senat jüngst geprägte Integrationsverantwortung, die sich nicht nur auf die Abwehr offensichtlicher und strukturell bedeutsamer Kompetenzüberschreitungen von Stellen der Europäischen Union beschränkt (sog. reaktive Integrationsverantwortung), sondern auch proaktiv die Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland und damit auch das BVerfG dazu verpflichtet, dergestalt an der Entfaltung des Unionsrechts mitzuwirken, dass sie die Unionsgrundrechte anzuwenden hätten.

Das darf freilich nicht so weit gehen, dass innerstaatlich gewonnene Maßstäbe vorschnell dem Unionsrecht unterlegt werden; das BVerfG hat sich vielmehr auf eine Anstoßfunktion zu beschränken. Wünschenswert wäre es aber in der Haftbefehlsentscheidung zum Jahreswechsel durchaus gewesen, die "Gesamtwürdigung der Haftbedingungen" näher auszuformen, also der Frage nachzugehen, unter welchen Voraussetzungen ihre "kumulativen Wirkungen" überhaupt in Betracht gezogen werden müssen. Die dahinterstehende Rechtsfigur des additiven Grundrechtseingriffs ist nämlich außerhalb des deutschen Rechtsraums praktisch unbekannt – und das, obwohl es sich dabei um ein universelles (Rechts-)Problem handelt. 

Abgesehen davon bleibt zu hoffen, dass sich die auch vom Zweiten Senat ausdrücklich hervorgehobene "enge Kooperation" mit dem EuGH nicht als leeres Versprechen erweist. Maßgeblich dafür wird vor allem die Handhabung des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV sein. Der vorliegende Beschluss gibt in diesem Punkt indes keinerlei Anlass zur Kritik: Anders als im Beschluss Europäischer Haftbefehl II durfte eine Vorlage hier schon deshalb unterbleiben, weil der EuGH im Jahr 2016 klargestellt hat, dass eine Überstellung zum Zwecke der Strafvollstreckung dann zu unterbleiben hat, wenn sie zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 4 GrCh führt – ein Maßstab, der sich auch mit Art. 1 Abs. 1 GG deckt.

Ende gut, alles gut?

Damit verliert der spätestens seit dem Jahr 2015 schwelende Konflikt mit dem EuGH um die Deutungshoheit im Grundrechtsbereich spürbar an Schärfe. Die Probe aufs Exempel wird der beim BVerfG anhängige Fall "Egenberger" sein, der unter anderem die Frage aufwirft, ob das kirchliche Selbstbestimmungsrecht als Teil der Verfassungsidentität anzusehen ist. Das "Tauziehen" am BVerfG konnte intern unterdessen der Erste Senat im Wesentlichen für sich entscheiden; eine gewisse Skepsis schwingt im Beschluss Europäischer Haftbefehl III zwar stets mit, sie bleibt letztlich aber wahrscheinlich zum Wohle des kollegialen Miteinanders unausgesprochen. 

"Leidtragende" des neuen Prüfungsmaßstabs sind die Grundrechte des GG; daneben gerät § 95 Abs. 1 S. 1 BVerfGG "unter die Räder", der seinem Wortlaut nach die Tenorierung des aktuellen Beschlusses, wonach das Grundrecht aus Art. 4 der Charta der Grundrechte verletzt worden sei, ersichtlich nicht trägt. Denn für den Fall der Stattgabe der Verfassungsbeschwerde schreibt diese Norm ausdrücklich vor, "in der Entscheidung festzustellen, welche Vorschrift des Grundgesetzes […] verletzt wurde." Für Abhilfe kann hier allein der Gesetzgeber sorgen. Für die Rechtschutzsuchenden dürften die Vorteile indes die Nachteile überwiegen. Denn nunmehr kann zumindest für die Rechtspraxis als geklärt gelten, dass die Unionsgrundrechte zum Prüfungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde zählen.

Dr. Alexander Brade ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Habilitand am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Umwelt- und Planungsrecht an der Universität Leipzig bei Prof. Dr. Kurt Faßbender.

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Grundrechtsschutz durch BVerfG und EuGH: . In: Legal Tribune Online, 06.01.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43907 (abgerufen am: 14.11.2025 )

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