Ein Familienrichter verbietet einer Muslimin, bei Gericht ein Kopftuch zu tragen – wohlgemerkt in ihrem eigenen Scheidungsverfahren. Eine Gerichtsposse aus der Provinz Brandenburgs.
Das Kopftuch vor Gericht bewegt derzeit die Öffentlichkeit. Für die Ausübung unmittelbarer Hoheitsfunktionen als Staatsanwältin oder Richterin gelten qualifizierte Neutralitätsverpflichtungen. Unterschiedlich bewertet wird, wie dies z.B. für den Sitzungsdienst kopftuchtragender Referendarinnen zu handhaben ist. Positiv entschieden hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), dass eine Teilnehmerin nicht allein wegen ihres Kopftuches aus dem Zuschauerraum eines Gerichtssaales verwiesen werden darf (Beschl. v. 27.06.2006, Az. 2 BvR 677/05).
Andere Fragen stehen im Raum, sind jedoch (noch) nicht (verfassungs-)gerichtlich geklärt. Rechtsanwältinnen sind zwar Organe der Rechtspflege (§ 1 Bundesrechtsanwaltsordnung), aber unabhängig und nicht dem Staat zurechenbar. An Parteivertreterinnen lassen sich funktionsimmanent keine Neutralitätserwartungen stellen. Konsequenterweise kann auch von einer Anwältin nicht erwartet werden, ein aus religiösen Gründen getragenes Kopftuch vor Gericht abzulegen. Ebenso vereinbar ist das Kopftuch mit der Rolle als Zeugin.
Dass es einer (anwaltlich vertretenen) Partei als Privatperson untersagt sein sollte, in einem Verfahren in eigener Sache vor Gericht Kopftuch zu tragen, war bislang nicht ernsthaft diskussionswürdig.
Kopftuchverbot in Luckenwalde
Offenbar abweichend bewertet wird dies jedoch vom Amtsgericht Luckenwalde, wie ein aktueller und irritierender Fall – vertreten von Rechtsanwältin Najat Abokal aus Berlin – zeigt: In einer Scheidungssache eines muslimischen Ehepaares hat der dortige Familienrichter das persönliche Erscheinen der Ehepartner nach § 128 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) angeordnet. Verbunden mit der gerichtlichen Ladungsverfügung ist eine Anordnung, dass die Ehefrau (notabene: in ihrer eigenen Scheidungssache!) vor Gericht ein Kopftuch nicht tragen dürfe:
"Es wird darauf hingewiesen und zugleich um Beachtung gebeten aus gegebenem Anlass, dass religiös motivierte Bekundungen wie Kopftuch usw. im Gerichtssaal/während der Verhandlung nicht erlaubt werden. Es muss daher mit entsprechenden Anordnungen gerechnet werden und bei Nichtbeachtung mit entsprechenden Ordnungsmaßnahmen. Insoweit vor diesem Hintergrund [sic!] steht es den Beteiligten frei, insbesondere der anwaltlich vertretenen Antragstellerin, auf ihre persönliche Teilnahme und Anhörung zu verzichten und hiermit die Bevollmächtigte zu beauftragen."
Als Rechtsgrundlage für diese Anordnung – die nur schwer mit dem zugleich angeordneten persönlichen Erscheinen in Übereinstimmung zu bringen ist – kommt allenfalls die sitzungspolizeiliche Generalklausel des § 176 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) in Betracht. Die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung obliegt hiernach dem Vorsitzenden.
Das Kopftuch als Ordnungsstörung?
Voraussetzung einer Verfügung ist aber eine Ordnungsstörung, was sich nicht nach dem Empfinden des Richters richtet, sondern nach objektiven Kriterien. Auch die Würde des Prozesses einschließlich einer angemessenen Bekleidung ist Teil der Sitzungsordnung. Gerichtsprozesse symbolisieren in besonderer Weise die Ausübung staatlicher Hoheitsfunktionen (Rechtspflege) und sind daher auch auf Elemente einer öffentlichen Ritualisierung sowie rollenspezifischer Verbildlichung angewiesen.
Verhandlungsteilnahme etwa in Bekleidung, die bedrohlich wirkt (Rockermontur in Leder, Springerstiefel), die die Ernsthaftigkeit staatlicher Rechtspflege in Frage stellt (Karnevalskostüm, Ballettkleid) oder respektlos gegenüber den Verfahrensbeteiligten ist (Badehose oder Bikini), kann eine sitzungspolizeiliche Verfügung rechtfertigen.
Das Tragen eines religiös motivierten Kopftuchs ist hingegen offensichtlich keine Störung der Sitzungsordnung. Das Kopftuch ist als Ausdruck von persönlicher Alltagsreligiosität weder respektlos gegenüber den Organen der Rechtspflege, noch verletzt es Neutralitätserwartungen, die lediglich staatlichen Organen entgegengebracht werden können.
2/2: Zuschauerinnen dürfen ein Kopftuch tragen
Überzeugend hatte daher das BVerfG in der eingangs erwähnten Kammerentscheidung die sitzungspolizeiliche Verfügung eines Jugendrichters des Amtsgerichts Tiergarten wegen Verletzung des Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG)) und der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) aufgehoben. Der Richter hatte eine Teilnehmerin im Publikum des Saales verwiesen, weil sie ein Kopftuch trug und er dieses im Gerichtssaal nicht dulden wollte. Die Kammer des BVerfG führte hierzu aus:
"Des Schutzes aus Art. 4 GG geht der Einzelne nicht deshalb verlustig, weil er sich als Zuhörer in einem Gerichtssaal befindet. Verträgt sich das der Religionsausübung dienende Verhalten mit einem störungsfreien Ablauf der Sitzung, ist es vom Gericht mit Blick auf Art. 4 GG hinzunehmen […]. Für den konkreten Fall des Tragens von Kopfbedeckungen im Gerichtssaal gilt daher, dass eine Ungebühr und damit eine Störung der Sitzung nicht vorliegt, wenn das Aufbehalten eines Hutes oder Kopftuchs lediglich aus religiösen Gründen erfolgt und auszuschließen ist, dass mit ihm zugleich Missachtung gegenüber der Richterbank oder anderen Anwesenden ausgedrückt werden soll […] und solange der Zuhörer als Person identifizierbar bleibt."
Missachtung der Grundrechte der Betroffenen
Erst recht muss dies für eine Prozesspartei gelten. In einer Familiensache (Scheidungs- und Scheidungsfolgeverfahren) kommt hinzu, dass es um die Verhandlung über eine höchstpersönliche Statusfrage geht. Aufgrund des persönlichen und unmittelbaren menschlichen Einschlags in einer Familiensache berührt die Möglichkeit, an der mündlichen Verhandlung in Person teilzunehmen und sich nicht lediglich anwaltlich vertreten zu lassen, die Subjektstellung im Prozess. Mangels erkennbarer zwingender Gründe des Gemeinwohls verletzt eine Anwendung des § 176 GVG, mit der die Scheidungsklägerin faktisch von der Teilnahme an der Verhandlung ausgeschlossen wird, offensichtlich die Religionsfreiheit der Betroffenen.
Zugleich diskriminiert die familiengerichtliche Praxis wegen des Geschlechts, weil von dem "Kopftuchverbot" vor Gericht ausschließlich Frauen betroffen sind und diesen daher – anders als dem Ehepartner – die Möglichkeit entrissen wird, die eigene – möglicherweise prekäre – familiäre Situation auch persönlich gegenüber dem erkennenden Gericht zu schildern. Insoweit werden dem Ehemann ohne sachlichen Grund asymmetrisch prozessuale Handlungsvorteile verschafft.
Die Fairness des Verfahrens ist insoweit beeinträchtigt. Nachteile für die prozessuale Handlungsfähigkeit kann die Betroffene nur vermeiden, wenn sie sich vor der Öffentlichkeit und dem (im Fall: männlichen) Richter unter Überwindung innerer Zwänge "entblößt". Die damit verbundene sexistische Demütigung ist greifbar.
Ein solcher objektiv grober Missbrauch des richterlichen Verfahrensermessens stellt nicht nur die Unvoreingenommenheit des Gerichts in Frage und mag unter dem Gerichtspunkt der Rechtsbeugung (§ 339 Strafgesetzbuch) zu würdigen sein. Er gefährdet auch das Grundvertrauen in die Institutionen der Rechtspflege, auf das der Staat angewiesen ist. Die rechtsprechende Gewalt ist ein entscheidender gesellschaftlicher Stabilitätsanker, der Normen im öffentlichen Bewusstsein etabliert und stabilisiert. Sie darf daher keine Ressentiments eines provinziellen Alltagsrassismus und -sexismus mit prozessualen Mitteln fortsetzen.
Der Autor Prof. Dr. Klaus F. Gärditz ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Friedrich-Wilhelms Universität Bonn und Richter am OVG im Nebenamt. Die Autorin Maria Geismann, LL.M. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl in Bonn.
Prof. Dr. Klaus F. Gärditz und Wiss. Mit. Maria Geismann, LL.M., Pflicht zur Neutralität von Prozessparteien: Scheidung nur ohne Kopftuch . In: Legal Tribune Online, 17.07.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23473/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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