Das BVerfG erlaubt Deutschland die Mitwirkung an einem schuldenfinanzierten 750-Milliarden-Euro-Konjunkturpaket. AfD-Gründer Bernd Lucke ist mit seiner Klage vorerst gescheitert. Christian Rath berichtet.
Auf diese Entscheidung hat man in allen europäischen Hauptstädten gewartet - nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 26. März dem Bundespräsidenten zunächst verbot, das deutsche Gesetz zum EU-Wiederaufbaufonds zu unterzeichnen.
Würde Karlsruhe schon wieder allen erklären, wie die EU zu funktioneren hat? Viele erinnerten sich an das EZB-Urteil vom Mai 2020, in dem der Zweite Senat nicht nur der Europäischen Zentralbank (EZB), sondern auch dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) Kompetenzüberschreitungen vorwarf.
Auch diesmal war der Zweite Senat zuständig. Allerdings ist der damalige Vorsitzende Andreas Voßkuhle inzwischen ausgeschieden. Dem Senat steht jetzt die Richterin Doris König vor und Voßkuhles Richterposten nahm die von den Grünen nominierte Rechtsprofessorin Astrid Wallrabenstein ein. Der Zweite Senat ist also nicht mehr derselbe.
Und es waren auch andere Kläger. Tonangebend war diesmal der Hamburger Volkswirtschaftsprofessor Bernd Lucke, der 2013 die AfD gegründet hatte und heute zur Kleinpartei "Konservativ-liberale Reformer" gehört. Unterstützt wurde er von einem "Bündnis Bürgerwille" und 2.281 Bürger:innen. Die Schriftsätze stammten vom Marburger Rechtsprofessor Hans-Detlef Horn.
CSU-Politiker Peter Gauweiler hatte auf eine Klage verzichtet, weil er sie nicht aussichtsreich fand. Viele Beobachter:innen werteten das als Omen.
Für Rätselraten sorgte allerdings die dramatische einstweilige Anordnung des BVerfG an den Bundespräsidenten. Üblicherweise genügt hier ein Telefonanruf ins Schloss Bellevue. "Hängebeschlüsse", die staatliche Stellen zum Stillhalten verpflichten, bis über einen Eilantrag entschieden ist, waren bisher in Karlsruhe unbekannt. Das Gericht kündigte im März zwar eine Begründung für das ungewöhnliche Vorgehen an, diese steht aber immer noch aus.
Immerhin veröffentlichte der Zweite Senat seine Entscheidung über den Eilantrag (Beschl. v. 15.04.2021, Az.: 2 BvR 547/21) unerwartet schnell. Die Richter:innen hatten sich offensichtlich gesputet, um die Unruhe im Rest Europas zu begrenzen. Und auch im Ergebnis ging es für die EU und die Bundespolitik glimpflich aus: Das BVerfG hat Luckes Eilantrag in vollem Umfang abgelehnt.
Der EU-Wiederaufbaufonds
Das EU-Programm, um das gestritten wurde, trägt den schönen Namen "Next Generation EU" und soll die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie in den 27 EU-Mitgliedsstaaten eindämmen. Dabei sollen die EU-Staaten 390 Milliarden Euro als nicht zurückzahlbare Zuschüsse erhalten und weitere 360 Milliarden Euro als Darlehen. Wenn die EU auf dem Kapitalmarkt als Schuldnerin auftritt, können hoch verschuldete EU-Staaten wie Italien von günstigeren Zinsen profitieren, so der Gedanke dahinter.
Die Gelder sollen zwar nur zur Linderung der Corona-Folgen ausgegeben werden. Zugleich soll das Programm aber nicht nur Geld verteilen, sondern auch die Modernisierung der Mitgliedstaaten voranbringen. So soll mit den EU-Mitteln der digitale und ökologische Wandel der EU-Staaten finanziert werden, aber auch Bildung und der soziale und territoriale Zusammenhalt. Es gibt vermutlich wenig, was man nicht mit den EU-Mitteln finanzieren kann.
Die EU-Kommission erhofft sich einen Wachstumsimpuls von jährlich zwei Prozent. Die Summe von 750 Milliarden Euro soll bis 2026 an den Kapitalmärkten aufgenommen und bis 2058 zurückgezahlt werden.
Dieser Eigenmittelbeschluss wurde am 14. Dezember 2020 im EU-Ministerrat gefasst. Nun müssen aber auch noch alle nationalen Parlamente zustimmen. Der Bundestag votierte am 25. März mit großer Mehrheit für den Aufbaufonds. CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne stimmten dafür, die AfD stimmte dagegen und die Linke enthielt sich. Einen Tag später stimmte auch der Bundesrat für das Gesetz.
Doch dann verbot das BVerfG dem Bundespräsidenten per einstweiliger Anordnung die Unterzeichnung des Gesetzes. Er solle damit bis zur Entscheidung über die vorliegenden Eilanträge warten.
Luckes Vorwürfe
Lucke monierte, dass die EU mit dem Wiederaufbaufonds ihre Kompetenzen aus den EU-Verträgen überschreite. Verletzt sei das "Verschuldungsverbot" aus Art. 311 EU-Arbeitsvertrag (AEUV) und das "Beistandsverbot" aus Art. 125 AEUV, die sogenannte No-Bailout-Klausel, die eine Übernahme fremder Schulden ausschließt. Lucke befürchtet, dass die EU am Ende die aufgenommenen Schulden nicht zurückzahlen kann und dann die Mitgliedstaaten einspringen müssen - wobei letztlich möglicherweise allein Deutschland zahlungsbereit wäre.
Dieses Risiko dürfe Deutschland aber nicht nicht eingehen, so Lucke. Der Bundestag habe seine "haushaltspolitische Gesamtverantwortung" verletzt und damit auch die "Verfassungsidentität" Deutschlands, so die Verfassungsbeschwerde.
Die Kläger beriefen sich wie üblich auf ihr Wählerrecht aus Art. 38 Grundgesetz, das das BVerfG in ständiger Rechtsprechung zu einem "Recht auf demokratische Selbstbestimmung" weiterentwickelt hat.
Der Senat ging bei der Prüfung des Eilantrags in drei Schritten vor. Zunächst wurde relativ knapp festgestellt, dass die Verfassungsbescherde weder offensichtlich unzulässig noch offensichtlich unbegründet ist. Anschließend nahm das Gericht eine "summarische Prüfung" der Verfassungsidentität vor. Mit Ultra-Vires-Fragen könne später auch der EuGH befasst werden. Abschließend wurde die für Karlsruher Eilverfahren typische Folgenabwägung durchgeführt.
Untypisch ist dagegen die summarische Prüfung, die Karlsruhe sonst nur anwendet, wenn es um die Prüfung völkerrechtlicher Verträge vor der Ratifikation geht. Die Richter fanden, dass hier durchaus eine ratifikationsähnliche Lage gegeben war.
Summarische Prüfung sprach gegen Lucke ...
Die summarische Prüfung der Richter:innen ergab, dass die Verfassungsidentität Deutschlands nicht ernsthaft gefährdet ist. So hafte Deutschland für die Schulden der EU nicht direkt. Eine Haftung komme nur in Frage, wenn die EU die Anleihen nicht aus eigenen Mitteln zurückzahlen und sich auch keine Mittel auf dem Kapitalmarkt besorgen kann. Und auch dann hafte Deutschland nicht gesamtschuldnerisch, sondern nur seinem Anteil entsprechend ("pro rata").
Sollten andere EU-Staaten zahlungsunfähig sein, könne Deutschland zwar ersatzweise herangezogen werden, aber auch hier zunächst nur anteilsgemäß. Nur im Fall, dass alles zusammenbricht und am Ende nur noch Deutschland als Schuldner übrigbleibt, käme eine Belastung Deutschlands in dem von Lucke an die Wand gemalten Umfang in Betracht. Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestags sei deshalb "nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit" berührt.
Da die "Berührung" der Verfassungsidentität aber auch nicht ausgeschlossen sei, solle dies im Hauptsacheverfahren weiter geprüft werden, so die Richter:innen. Dabei könnte es auch um die Frage gehen, ob der Bundestag hinreichenden Einfluss auf die Verwendung der Mittel hat.
...die Folgenabwägung ebenso
Erst bei der Folgenabwägung nannten die Richter:innen die entscheidende Zahl: Selbst im denkbar schlechtesten Fall, wenn Deutschland die EU-Schulden ganz allein zurückzahlen müsste, wäre dies eine verkraftbare jährliche Summe von "rund 21 Milliarden Euro". Zum Vergleich: Der Bundeshaushalt hat derzeit ein Volumen von rund 500 Milliarden Euro.
Dem stellten die Richter:innen die Folgen gegenüber, die drohen, wenn dem Bundespräsidenten die Unterschrift bis zum Ende des Hauptverfahrens verboten würde, obwohl das Projekt keine Verfassungsrechte verletzt. Das Gericht erwähnte neben den Folgen für die Wirtschaft, die auf den kurzfristig erforderlichen Konjunkturimpuls verzichten müsste, auch erhebliche außen- und europapolitische Verwerfungen. Immerhin beruhte der Wiederaufbaufonds auf einer deutsch-französischen Initiative.
Sollte sich später herausstellen, dass der EU-Eigenmittel-Beschluss ultra vires erging - was nun ja nicht summarisch geprüft worden war -, halten die Richter dies für reparabel. Das Verfassungsgericht würde im Hauptsacheverfahren den Fall dann dem EuGH vorlegen. Dieser würde ggf. den Eigenmittelbeschluss für nichtig erklären. Damit entfiele die Rechtsgrundlage für den Fonds und über die bereits eingegangenen Verpflichtungen müsste neu verhandelt werden.
Der Beschluss fiel im Ergebnis einstimmig. In Teilen der Begründung gab es eine Gegenstimme. Es wurde aber nicht mitgeteilt, welche Richter:in hier dissentierte.
Das Verfahren wird nun zwar in der Hauptsache fortgesetzt. Der jetzige Beschluss klang aber nicht so, als ob hier mit großen Überraschungen zu rechnen wäre. Der Berichterstatter BVR Peter M. Huber dürfte dann auch nicht mehr dabei sein - seine Amtszeit endet im November 2022.
BVerfG zum EU-Wiederaufbaufonds: . In: Legal Tribune Online, 21.04.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44779 (abgerufen am: 07.12.2024 )
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