Kommunal-Verfassungsbeschwerde am BVerfG: Die Klage der klammen Kreise

von Dr. Christian Rath

04.11.2025

Stehen Ansprüche der Kommunen auf eine ausreichende Finanzierung unter dem "Vorbehalt der Leistungsfähigkeit" der Länder? Das muss bald das Bundesverfassungsgericht entscheiden. Christian Rath stellt das Leitverfahren aus Sachsen-Anhalt vor.

Es geht um Milliarden, politisch und rechtlich. Und die Lage verschärft sich. Bereits für das Jahr 2024 stellte das Statistische Bundesamt ein Defizit von Gemeinden, Städten und Landkreisen in Höhe von 24,8 Milliarden Euro fest. Für dieses Jahr werden weitere 30 Milliarden Verluste prognostiziert. 

Auf politischer Ebene sollen die Kommunen nun davor geschützt werden, dass der Bundestag mit Zustimmung der Länder teure Gesetze beschließt, die die Kommunen letztlich umsetzen müssen. Am 18. Juni hat die Ministerpräsidenten-Konferenz (MPK) eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur so genannten Veranlassungskonnexität ("Wer bestellt, bezahlt") eingerichtet. Sie soll bis 7. November, also noch in dieser Woche, zu Ergebnissen kommen, die dann auf der nächsten MPK am 4. Dezember beschlossen werden könnten.

Doch typisch Deutschland: Neben dem politischen Streit gibt es auch Verfahren am Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Hier klagen mehrere Landkreise gegen ihre jeweiligen Bundesländer. Möglicherweise haben die Kommunen hier bessere Chancen, ihre Rechte zu wahren, als in den zähen Bund-Länder-Verhandlungen. 

Neues Leitverfahren am BVerfG

Schon seit 2019 ist beim BVerfG eine gemeinsame Kommunal-Verfassungsbeschwerde der kreisfreien Stadt Pirmasens und des Landkreises Kaiserslautern gegen das Land Rheinland-Pfalz anhängig (Az: 2 BvR 1850/19). Das Land habe es unterlassen, ihnen eine angemessene Finanzausstattung zu sichern. 

Eigentlich wollte der Zweite Senat das Verfahren in diesem Jahr entscheiden; jedenfalls stand es auf der Liste der 2025 geplanten Entscheidungen. Nach einer ersten Karlsruher Prüfung ergab sich jedoch, dass die gemeinsame Klage nicht als Leitverfahren geeignet ist. Denn Rheinland-Pfalz war seinen Kommunen inzwischen durch eine Änderung des Landesfinanzausgleichsgesetzes entgegengekommen. Die Stadt Pirmasens und der Kreis Kaiserslautern hielten das jedoch nicht für ausreichend. Sie klagten weiter, aber ohne ihre Klage an die neue Lage anzupassen. 

Nach Informationen von LTO will das BVerfG daher ein anderes Verfahren zur Leitentscheidung machen. Im Dezember 2024 hatten auch zwei defizitäre Landkreise aus Sachsen-Anhalt eine gemeinsame Verfassungsbeschwerde erhoben. Das BVerfG soll feststellen, dass das Land Sachsen-Anhalt ihre Rechte aus Art. 28 Abs. 2 Grundgesetz (GG) verletzt hat, indem es ihnen keine "angemessene kommunale Finanzausstattung" sicherte. 

Konkret geht es um den Salzlandkreis mit der Kreisstadt Bernburg und den Landkreis Mansfeld-Südharz um die Kreisstadt Sangerhausen. Vor allem der Kreis Mansfeld-Südharz aus dem alten mitteldeutschen Braunkohlerevier leidet unter dem Strukturwandel. Er verlor ein Drittel seiner Einwohner und hatte 2024 mit 10,2 Prozent die höchste Arbeitslosenquote in Sachsen-Anhalt. In den letzten zehn Jahren hat der Kreis Mansfeld-Südharz neun Mal Defizite erwirtschaftet, musste also Schulden aufnehmen, um seine Aufgaben erfüllen zu können.

Formuliert wurde die Verfassungsbeschwerde von den Kölner Anwälten Jochen Hentschel und Nico Herbst. Das Land Sachsen-Anhalt wird vom Münchener Rechtsprofessor Stefan Korioth vertreten. Das Verfahren soll Anfang nächstes Jahr in den Zweiten Senat kommen. Berichterstatter ist Peter Frank, der ehemalige Generalbundesanwalt, der Ende 2023 auf Vorschlag der unionsregierten Länder zum Verfassungsrichter gewählt wurde

Warum ist Karlsruhe zuständig?

Die Landkreise berufen sich auf Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG: "Die Gewährleistung der [kommunalen] Selbstverwaltung umfaßt auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung", heißt es dort. Das GG als Bundesverfassung macht hier den Ländern Vorgaben, zu denen die Kommunen staatsrechtlich ja gehören.

Die Kommunen können ihre im Grundgesetz garantierten Rechte mit der Kommunal-Verfassungsbeschwerde auch beim BVerfG einklagen. Allerdings besteht diese Möglichkeit nach Art 94 Abs. 1 Nr. 4b GG bei Landesgesetzen nur subsidiär, "soweit nicht Beschwerde beim Landesverfassungsgericht erhoben werden kann". 

Auf den ersten Blick scheint der Weg nach Karlsruhe damit versperrt. Denn auch die Landesverfassung (LV) von Sachsen-Anhalt gewährt in Art. 87 LV die kommunale Selbstverwaltung. Zudem heißt es in Art. 88 LV: "Das Land sorgt dafür, daß die Kommunen über Finanzmittel verfügen, die zur angemessenen Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich sind". In Art. 75 Nr. 7 LV ist die Möglichkeit einer Kommunal-Verfassungsbeschwerde vorgesehen. 

Auch die Landesregierung von Sachsen-Anhält betont daher die Subsidiarität und hält die Karlsruher Verfassungsbeschwerde der beiden Landkreise für unzulässig. 

Die Landkreise verweisen dagegen auf eine Entscheidung des BVerfG von 2017, die zufälligerweise auch Sachsen-Anhalt betraf (Urt. v. 21.11.2017, Az. 2 BvR 2177/16: Kinderförderungsgesetz Sachsen-Anhalt). Danach gilt die Subsidiarität der Bundes-Verfassungsbeschwerde nicht, "wenn die landesverfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung hinter dem Gewährleistungsniveau des Art. 28 Abs. 2 GG zurückbleibt".

Das Zurückbleiben des landesverfassungsrechtlichen Schutzes sehen die Landkreise darin, dass das Landesverfassungsgericht in Dessau den Anspruch der Kommunen auf eine finanzielle Mindestausstattung unter den "Vorbehalt der Leistungsfähigkeit des Landeshaushalts" stellt. Einen derartigen Vorbehalt gebe es in Art. 28 GG nicht, so die Landkreise. Deshalb sei der Schutz des Grundgesetzes stärker.

Für das Land argumentiert dagegen Rechtsprofessor Korioth: "Jeder Finanzausgleich steht unter dem Vorbehalt des Möglichen". Etwas anderes könne auch Art. 28 GG nicht entnommen werden. 

Das ist aber genau die Frage, die das BVerfG klären soll. Deshalb beschäftigt sich der Zweite Senat nun gründlich mit der Klage der beiden sachsen-anhaltinischen Landkreise, die wohl nicht an der Zulässigkeit scheitern wird.

Landkreise in der "Gletscherspalte"

Die Landkreise finanzieren sich über zwei Wege. Zum einen zahlen die kreisangehörigen Gemeinden eine Kreisumlage an den Landkreis. Zum anderen ergänzt das Land das Budget der Landkreise. Steuern können die Landkreise nicht erheben.

Nun leiden die beiden sachsen-anhaltinischen Landkreise darunter, dass viele ihrer Gemeinden finanziell in großen Schwierigkeiten stecken. Diese Gemeinden klagen deshalb gegen die Kreisumlage und haben oft Erfolg.

Denn die klammen Gemeinden können sich auf eine ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) stützen. Dieses hat 2013 entschieden (Urt. v. 31.012013, Az. 8 C 1.12), dass der Mindestfinanzbedarf der Kommunen einen "abwägungsfesten Posten im Finanzwesen des jeweiligen Landes" darstelle. Eine Haushaltsnotlage des Landes könne ihm nicht entgegengehalten werden. 

Diese unantastbare Position machen die Gemeinden mit Erfolg auch gegenüber den Landkreisen geltend. Das Oberverwaltungsgericht (OVG) in Magdeburg (Urt. v. 22.11.2022, Az. 4 L 30/21) entschied: Der Kernbereich der gemeindlichen Selbstverwaltungsgarantie dürfe auch nicht zugunsten des jeweiligen Kreises angetastet werden. Damit setzte das OVG der Kreisumlage eine "absolute" Grenze: "ihre Erhebung darf nicht dazu führen, dass das absolute Minimum der Finanzausstattung der kreisangehörigen Gemeinden unterschritten wird".

Geschützt sind laut BVerwG die Mittel, die zur Erfüllung der kommunalen Pflichtaufgaben erforderlich sind, sowie eine "freie Spitze", um zusätzlich freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben "in einem bescheidenen, aber doch merklichen Umfang" wahrzunehmen.

Theoretisch können sich auch die sachsen-anhaltinischen Landkreise auf den vom BVerwG postulierten "abwägungsfesten" kommunalen Mindestfinanzbedarf berufen. Denn staatsrechtlich gelten auch die Landkreise als Kommunen. Allerdings können sie nicht bei den Verwaltungsgerichten klagen, wenn sie ihren Mindestbedarf gegenüber der Gesetzgebung des Landes geltend machen, sondern müssen sich direkt an das Landesverfassungsgericht in Dessau wenden. Und dort wird der Mindestfinanzbedarf der Kommunen (und damit auch der Landkreise) eben nicht als abwägungsfest gesehen. 

Vorbehalt der Leistungsfähigkeit des Landeshaushaltes

So hat das Landesverfassungsgericht Anfang des Jahres (Urt. v. 21.01.2025, Az.: LVG 6/23) seine Position noch einmal bekräftigt: "Ein Anspruch der Kommunen gegen das Land auf eine finanzielle Mindestausstattung nach dem Bedarf für die angemessene Erfüllung ihrer Aufgaben steht unter einem Vorbehalt der Leistungsfähigkeit des Landeshaushalts". Das Landesverfassungsgericht beruft sich dabei nicht nur auf eigene Rechtsprechung aus den Jahren 1999 und 2012, sondern auch auf Urteile der Landesverfassungsgerichte aus Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Es handelt sich also um ein grundsätzliches Problem mit bundesweiter Bedeutung.

Die Lage der Landkreise ist vertrackt. Wenn klamme Gemeinden gegen die Kreisumlage klagen, gewinnen diese, weil ihre Position bundes-verfassungsrechtlich als abwägungsfest gilt. Wenn aber die Landkreise gegen mangelhafte Landeszuweisungen klagen, verlieren sie, weil ihre Position landes-verfassungsrechtlich unter dem Vorbehalt der Leistungsfähigkeit des Landes steht. "Aus dieser juristischen und wirtschaftlichen 'Gletscherspalte' kann die Beschwerdeführer und die anderen betroffenen Landkreise in Sachsen-Anhalt nur das Bundesverfassungsgericht befreien", heißt es in der Verfassungsbeschwerde der beiden Landkreise. Der Begriff "Gletscherspalte" stammt von Hans-Günter Henneke, dem Hauptgeschäftsführer des Deutschen Landkreistages.

Das Bundesverfassungsgericht müsste also feststellen, dass sich aus Art. 28 Abs. 2 GG für die Landkreise ein unantastbarer Anspruch auf eine finanzielle Mindestausstattung ergibt. Die Rechtsposition des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt wäre dann nicht falsch, aber auf die Interpretation der Landesverfassung beschränkt. 

Was wären die Folgen?

Sollten die Landkreise beim BVerfG Erfolg haben, wäre die Mindestfinanzausstattung aller Kommunen (Gemeinden, Landkreise und kreisfreie Städte) für unantastbar erklärt. Das Urteil würde zunächst aber vor allem den 294 Landkreisen helfen, denn die kreisangehörigen Städte und Gemeinden können ihre Rechte auf der Grundlage der Rechtsprechung des BVerwG ja schon bisher gegen die Landkreise durchsetzen.

Falls die Landkreise in Karlsruhe aber verlieren, weil auch das BVerfG die Finanzansprüche der Kommunen unter einen "Vorbehalt der Leistungsfähigkeit" stellt, könnte auch das die Position der Landkreise verbessern. Denn dann könnten sie sich ihrerseits gegenüber den Gemeinden, die gegen die Kreisumlage klagen, auf diesen Vorbehalt berufen. Deshalb müssen auch Städte und Gemeinden ein Interesse am Erfolg der Landkreis-Klage haben. 

Zudem ist es auch ein Vorteil für alle Kommunen, wenn die Unantastbarkeit ihrer Mindestfinanzierung nicht nur vom BVerwG, sondern auch vom BVerfG anerkannt ist. Dann ist auch der Gesetzgeber daran gebunden. Bisher hat das BVerfG hierzu noch nicht Stellung genommen.

Falls das Land Sachsen-Anhalt verliert, könnte es sich gegenüber den Ansprüchen der Landkreise (und der Städte und Gemeinden) nicht mehr auf sein eigenes Haushaltsdefizit berufen. Woher die Länder dann das zusätzlich benötigte Geld nehmen sollen, wird das BVerfG vermutlich offenlassen. 

In Betracht kommen wie üblich drei Möglichkeiten: Steuererhöhungen (die der Bund beschließen müsste, weil die Länder fast keine Steuergesetzgebungskompetenz haben), erhöhte Schuldenaufnahme und Reduzierung der eigenen Landesausgaben. Soweit die finanziellen Engpässe der Landkreise auf gesetzlichen Vorgaben der Länder beruhen, könnten die Länder zudem auch die Aufgaben der Landkreise reduzieren oder die Standards absenken.

Es wäre hilfreich, wenn das BVerfG bald entscheidet, so dass sich alle Beteiligten in den zugespitzten föderalen Finanzverhandlungen auf die (neuen) verfassungsrechtlichen Regeln einstellen können. Es geht schließlich um Milliarden Euro.

Zitiervorschlag

Kommunal-Verfassungsbeschwerde am BVerfG: . In: Legal Tribune Online, 04.11.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/58525 (abgerufen am: 14.11.2025 )

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