Der Solidaritätszuschlag kann bis auf weiteres bleiben. Karlsruhe lehnte eine Verfassungsbeschwerde von sechs FDP-Abgeordneten ab und nutzte das Verfahren zu grundsätzlichen Klärungen. Christian Rath erläutert.
Wenn Karlsruhe haushaltsrelevante Urteile spricht, wird die Politik nervös, denn es geht meist um zig Milliarden Euro. In der Folge sind schon Koalitionen zerbrochen.
Am heutigen Mittwoch war jedoch erstmal großes Aufatmen angesagt. Das Karlsruher Urteil zum Solidaritätszuschlag wirft keine Pläne über den Haufen.
Dennoch ist es ein wichtiges Urteil. Denn der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat den Fall zum Anlass genommen, das Recht der Ergänzungsabgaben einmal gründlich zu durchdenken und zu regeln (Urt. v. 26.03.2025, Az. 2 BvR 15005/20).
35 Jahre nach der Wiedervereinigung
Der Solidaritätszuschlag wurde 1995 eingeführt, um den besonderen Finanzbedarf des Bundes wegen der Wiedervereinigung zu finanzieren. Der Soli beträgt 5,5 Prozent der Einkommensteuerschuld (nicht des Einkommens).
Seit 2021 gelten allerdings großzügige Freigrenzen, so dass 90 Prozent der Steuerpflichtigen den Soli nicht mehr bezahlen müssen. Nur wer pro Jahr mehr als rund 18.000 Euro Einkommensteuer bezahlt, muss dazu auch noch den Soli-Zuschlag berappen.
2020 erhoben sechs FDP-Bundestagsabgeordnete als Privatpersonen Verfassungsbeschwerde, unter ihnen der zwischenzeitliche FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr und die zwischenzeitlichen Finanz-Staatssekretär:innen Florian Tomcar und Katja Hessel. Sie bemängelten, dass der Soli immer noch erhoben wird, obwohl es keinen Sonder-Bedarf mehr für den Aufbau Ost gebe.
Hätte die Klage Erfolg gehabt, wären nicht nur jährliche Einnahmen in Höhe von rund 12 Milliarden Euro weggefallen, eventuell hätte der Bund auch 65 Milliarden Euro an reiche Steuerzahler:innen zurückzahlen müssen.
FDP-Klage ist gescheitert
Doch der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die Klage der Abgeordneten rundum abgelehnt. Der Solidaritätszuschlag sei "noch" verfassungskonform, entschied das Gericht, denn der "wiedervereinigungsbedingte finanzielle Mehrbedarf des Bundes" sei noch nicht evident weggefallen. Das Grundrecht auf Eigentum werde durch das Solidaritätszuschlagsgesetz als Inhalts- und Schrankenbestimmung also rechtmäßig eingeschränkt.
Ein Gutachten im Auftrag der Bundesregierung hatte den Mehrbedarf insbesondere für die Ost-Renten und die strukturelle Arbeitslosigkeit mit rund 13 Milliarden Euro pro Jahr beziffert. Zwar hatte ein Sachverständiger in der mündlichen Verhandlung bestritten, dass der Mehrbedarf vereinigungsbedingt ist, er sah ihn eher als Folge der Abwanderung von Ostdeutschen nach Westdeutschland. Das BVerfG ließ letztlich offen, welche Seite Recht hat; der Streit der Ökonom:innen zeige aber, dass es keinen "evidenten" Wegfall des Mehrbedarfs gebe.
Auch das Ende des Solidarpakts II im Jahr 2019 zeige kein Ende der Aufgabe an, so das Gericht. Denn es sei nur eine spezifische Form, Geld in die neuen Bundesländer zu transferieren, beendet worden.
Der Soli sei mit 5,5 Prozent der Steuerschuld auch nicht unverhältnismäßig hoch, so die Richter:innen. Außerdem stehe das Aufkommen des Soli nicht außer Verhältnis zum Mehrbedarf. Schließlich habe der Bundestag 2021 den Soli ja ausdrücklich reformiert und die meisten Steuerbürger:innen ausgenommen. Von rund 18 Milliarden Euro sank das Aufkommen deshalb auf rund 12 Milliarden Euro. Das entsprach ungefähr dem damaligen vereinigungsbedingten Mehrbedarf.
Zudem verletze es nicht den Gleichheitssatz gem. Art. 3 Grundgesetz (GG), dass nur noch die gut verdienenden Steuerpflichtigen die Ergänzungsabgabe bezahlen; schließlich fordere das Sozialstaatsprinzip eine soziale Ausgestaltung des Steuerrechts, so die Richter:innen.
Bei der Verkündung des Urteils saßen nur sechs Richter:innen auf der Richterbank. Die Senatsvorsitzende und Vizepräsidentin Doris König war ebenso erkrankt wie der dienstälteste Richter im Senat, Ulrich Maidowski. Verlesen wurde das Urteil daher von Richterin Christine Langenfeld und der Berichterstatterin Rhona Fetzer.
Ergänzungsabgabe bekommt mehr Konturen
Den Maßstabsteil der Entscheidung nutzten die Richter:innen, um einige dogmatische Streitfragen zu klären. Der Solidaritätszuschlag ist ja eine Ergänzungsabgabe gem. Art 106 Abs. 1 Nr. 6 GG. Die Norm benennt aber keine tatbestandlichen Voraussetzungen.
Das BVerfG hat nun entschieden, dass eine Ergänzungsabgabe nur zur Deckung eines "aufgabenbezogenen finanziellen Mehrbedarfs" des Bundes zulässig ist. Die Aufgabe kann wie hier die Bewältigung der Wiedervereinigung sein, als Beispiele nennt das Gericht auch den Ausbau des Bildungswesens oder der Bundeswehr.
Das Mehrbedarfs-Kriterium sei erforderlich, so das Gericht, weil die Ergänzungsabgabe damit zumindest potenziell ein definiertes Ende hat: wenn die Aufgabe erfüllt ist. Diese Begrenzung schütze einerseits die Steuerbürger:innen vor Überlastung, andererseits die föderale Ordnung vor einer "Aushöhlung".
Ansonsten ist das Bundesverfassungsgericht aber recht großzügig mit dem Bundestag. Er kann künftig frei wählen, ob er einen finanziellen Mehrbedarf durch die Erhöhung klassischer Steuern wie der Einkommensteuer oder der Mehrwertsteuer decken will oder durch die Einführung einer neuen Ergänzungsabgabe. Die Ergänzungsabgabe sei nicht subsidiär, betonen die Richter:innen.
Ergänzungsabgaben haben für den Bund zwei Vorteile gegenüber einer Erhöhung etwa der Einkommensteuer: zum einen fließt das Steueraufkommen gem. Art. 106 Abs. 1 GG ausschließlich dem Bund zu (und nicht auch den Bundesländern). Außerdem hat der Bundesrat bei der Einführung von Ergänzungsabgaben gem. Art. 105 Abs. 3 kein Vetorecht.
Auch für die Bürger:innen hat eine Ergänzungsabgabe Vorteile gegenüber einer Erhöhung etwa der Einkommensteuer. Wenn der Mehrbedarf nur beim Bund anfällt, müsste die Erhöhung bei einer gemischten Steuer viel höher ausfallen, um dem Bund den gleichen Betrag zu verschaffen, weil hier ja rund die Hälfte der Einnahmen an die Länder geht.
Die Ergänzungsabgabe ist laut BVerfG eine normale Steuer, d.h. die Einnahmen fließen in den allgemeinen Haushalt und nicht in einen Sondertopf. Sie müssen auch nicht zweckgebunden ausgegeben werden.
Das Ende des Mehrbedarfs
Relevant war in der Entscheidung vor allem die Frage, wie lange der Bund eine Ergänzungsabgabe erheben kann. Richterin Langenfeld betonte in ihrer Einführung zwar, die Ergänzungsabgabe könne "in zeitlicher Hinsicht nicht unbegrenzt erhoben werden". Wirklich ausgeschlossen ist dies freilich nicht.
Zunächst stellen die Richter:innen klar, dass eine Ergänzungsabgabe nicht befristet werden muss. Die Zeitdauer bestimme sich vielmehr nach der Aufgabe. Erst wenn diese erledigt ist, muss die Ergänzungsabgabe abgeschafft werden. Auch der vom Bundesfinanzhof ins Spiel gebrachte "Generationenabstand" von circa 30 Jahren wird von den Karlsruher Richter:innen verworfen.
Weil es nur um die Erfüllung der Aufgabe geht, halten die Richter:innen auch die Orientierung an einer "Notlage" in Abgrenzung von einer "Normallage" nicht für hilfreich. Auch die Beschränkung auf "Bedarfsspitzen" lehnen sie ab.
Die Tücke der Aufgaben könnte nun aber dazu führen, dass die Ergänzungsabgabe letztlich doch dauerhaft erhoben werden kann. Denkbar ist dies insbesondere wenn eine Aufgabe neu auftaucht, insofern einen Mehrbedarf erzeugt, dann aber zur Daueraufgabe wird.
Zwingend ist eine Verstetigung der Ergänzungsabgabe aber nicht. Schließlich gibt es ja keinen Zwang, das Instrument zu nutzen. Parteien wie CDU, CSU und FDP haben im Fall des Soli ja schon lange für eine Abschaffung geworben.
Umwidmung des Soli ist verboten
Doch was gilt, wenn die ursprüngliche Aufgabe erfüllt ist, parallel dazu aber eine neue Aufgabe für neuen Mehrbedarf des Bundes sorgt? In einer früheren Entscheidung (Beschl. v. 09.02.1972, Az. 1 BvL 16/69) hatte das Gericht noch eine Umwidmung der Ergänzungsabgabe für möglich gehalten. Auch in der mündlichen Verhandlung wurde diskutiert, ob der Soli auch zur Finanzierung der Pandemiebewältigung verwendet werden kann oder zur Finanzierung der nach dem russischen Überfall auf die Ukraine stark gestiegenen Militärausgaben.
Das Bundesverfassungsgericht hat nun aber seine Rechtsprechung von 1972 ausdrücklich aufgegeben. Wenn die Aufgabe erfüllt ist, muss der Bundestag eine Ergänzungsabgabe abschaffen. Bei Bedarf kann er dann per Gesetz gleichzeitig eine neue Ergänzungsabgabe für die Finanzierung des neuen Mehrbedarfs beschließen.
Kritik an den neuen Aufgaben
Der Bundestag hat nun also im Zusammenhang mit Ergänzungsabgaben drei klar umrissene Aufgaben. Zum einen muss er eindeutig benennen, durch welche Aufgabe der finanzielle Mehrbedarf entsteht. Zum anderen muss er beobachten, ob der Mehrbedarf noch besteht oder ob die Aufgabe erfüllt ist. Wenn die Aufgabe (teilweise) erfüllt ist, muss der Bundestag die Ergänzungsaufgabe wieder abschaffen oder reduzieren.
Die (einst von den Grünen nominierte) Richterin Astrid Wallrabenstein stimmte zwar im Ergebnis mit der Mehrheit, lehnte aber die neue Dogmatik im Maßstabsteil ab. Wenn der Bundestag die neue Aufgabe benennen und die Entwicklung des Mehrbedarfs beobachten muss, erschwere das die Erhebung einer Ergänzungsabgabe. Sie hat die Sorge, dass der Bundestag dann eher auf das Instrument verzichten wird, als sich verfassungs-prozessrechtlichen Risiken auszusetzen.
Für Wallrabenstein würde die politische Kontrolle durch die Wähler:innen genügen. Dass Steuerpflichtige hier auch noch das Bundesverfassungsgericht anrufen können, hält sie für problematisch. So überschreite das BVerfG nicht nur seine Kompetenzgrenzen. Zudem gebe es den Steuerbürger:innen auch noch ein Kontrollrecht über die Staatsfinanzen, das bei der Verwendung von Steuern auch nicht bestehe. Wallrabenstein hält dies für eine Fehlauslegung von Art. 14 GG.
Die Sorge der Richterin ist zwar interessant, aber wohl etwas übertrieben. Dem Bundestag wird es bei Bedarf sicher nicht schwer fallen, neue Aufgaben mit finanziellem Mehrbedarf zu benennen. Und solange das BVerfG nur bei einem "evidenten" Wegfall der Aufgabe einschreiten will, sollte die Verunsicherung durch die neue Entscheidung nicht allzu groß sein. Dies ist im Gegenteil eher großzügig gegenüber dem Bundestag.
BVerfG-Grundsatzurteil zur Ergänzungsabgabe: . In: Legal Tribune Online, 26.03.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56878 (abgerufen am: 26.04.2025 )
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