Ein Kind muss nicht die Möglichkeit haben, seinen mutmaßlich leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater zu einem Vaterschaftstest zu zwingen, entschied das BVerfG. Sonst würde zu viel Porzellan zerschlagen.
Der deutsche Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, einem nichtehelichen Kind einen isolierten Abstammungsklärungsanspruch gegenüber seinem mutmaßlich leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater einzuräumen. Das entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am Dienstag (Urt. v. 19.04.2016, Az. 1 BvR 3309/13). Nach Ansicht der Karlsruher Richter reicht es aus, dass ein Kind die Feststellung der Vaterschaft nach § 1600d Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) beantragen und dabei auch seine Abstammung klären lassen kann.
In dem nun in Karlsruhe gelandeten Fall war ein solches Verfahren bereits rechtskräftig abgeschlossen. Schon im Jahr 1955 hatte das zuständige Landgericht den Antrag auf "Feststellung blutsmäßiger Abstammung" gegen den Mann rechtskräftig abgewiesen, der die Geburt der Frau im Jahr 1950 zwar beim Standesamt angezeigt, sich aber nie als ihr Vater bezeichnet hatte. In dem Feststellungsverfahren wurde die damals Vierjährige vom Jugendamt vertreten, das noch bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein zwingend für die Vertretung der Kinder in solchen Verfahren zuständig war.
Nachdem im Jahr 2008 die rechtsfolgenlose Abstammungsklärung nach § 1598a BGB eingeführt worden war, versuchte die Frau aus Coesfeld erneut, den Mann, von dem ihre im Jahr 1972 verstorbene Mutter ihr gesagt hatte, er sei ihr leiblicher Vater, von einem DNA-Test zu überzeugen. Der schon damals über 80-Jährige weigerte sich weiterhin, woraufhin sie ihn auf Einwilligung in eine genetische Abstammungsuntersuchung und auf Duldung der Entnahme einer DNA-Probe in Anspruch nahm. Wie schon die Vorinstanzen hat es nun auch das BVerG abgelehnt, in den Kreis der Personen, die zur isolierten Klärung der Abstammungsverhältnisse nach § 1598a BGB verpflichtet sind, auch den mutmaßlich leiblichen Vater einzubeziehen.
§ 1600d: Jeder kann Vaterschaft feststellen lassen
"Die Entscheidung stellt niemanden rechtlos", erklärt Jutta Wagner. Die Notarin und Fachanwältin für Familienrecht aus Berlin bezeichnet die Möglichkeiten, heute in derartigen Fällen vorzugehen, als breit gefächert: "Nicht zuletzt auch auf Anstoß des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gibt es heute eine erhebliche Offenheit und Klarheit auf diesem Gebiet".
Über § 1600d BGB kann die Vaterschaft im gerichtlichen Verfahren festgestellt werden. Die Vorschrift dient dazu, einem Kind, das keinen rechtlichen Vater hat, seinen Erzeuger - nach entsprechender Klärung der leiblichen Abstammung - auch statusrechtlich als Vater zuzuordnen. Sie löst also u.a. Unterhaltspflichten aus.
Um das Verfahren einzuleiten, muss es zwar Anhaltspunkte dafür geben, dass der Mann, den das Kind für seinen leiblichen Vater hält, auch sein Erzeuger ist. Allerdings reicht dafür zum Beispiel schon die berühmte Beichte der Mutter auf dem Sterbebett - oder eben deren Behauptung durch das Kind.
BVerfG: § 1598a könnte weiter gehen - muss aber nicht
§ 1598a BGB dagegen ermöglicht eine isolierte Abstammungsklärung in bestimmten Konstellationen. Der Anspruch auf Einwilligung in eine genetische Untersuchung wurde nach einer Entscheidung des BVerfG eingefügt, nachdem die Karlsruher Richter im Jahr 2007 (Urt. v. 13.02.2007, Az. 1 BvR 421/05) entschieden hatten, dass es ein Verfahren mit dem ausschließlichen Ziel der Feststellung einer Vaterschaft geben müsse. Die Vorschrift gibt dem Vater, der Mutter und dem Kind gegenüber den jeweils anderen beiden Familienmitgliedern einen Anspruch auf Einwilligung in eine genetische Abstammungsuntersuchung, um die leibliche Abstammung zu klären.
Die Norm hat keine Voraussetzungen außer dem Verwandtschaftsverhältnis, es braucht keinen Anfangsverdacht. Sie hat aber auch keine statusrechtlichen Folgen. Sie beseitigt eine rechtliche Vaterschaft nicht und stellt auch keine Vaterschaft mit Wirkung für alle fest. Nach einhelliger Meinung gilt die Vorschrift nur für den rechtlichen, nicht aber für einen möglichen leiblichen Vater, bindet also nur Mitglieder einer rechtlichen Familie.
Der Gesetzgeber hätte das anders regeln können, also dem Kind auch eine isolierte Abstammungsklärung gegenüber dem mutmaßlich leiblichen Vater ermöglichen können, wenn der nicht der rechtliche ist. Das sei aber weder verfassungsrechtlich geboten noch lasse sich aus dem Schutz der Privatsphäre nach Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention ableiten, dass eine solche isolierte Abstammungserklärung neben der rechtlichen Vaterschaftsfeststellung bereit stehen müsste.
Weiter als mit ihrer Entscheidung aus dem Jahr 2007 wollen die Karlsruher Richter in die Ausgestaltung privater Rechtsbeziehungen nicht eingreifen. Der Schutz der Kenntnis der eigenen Abstammung, der auch zur Einführung von § 1598a BGB führte, sei nicht absolut, sondern müsse mit widerstreitenden Grundrechten in Ausgleich gebracht werden, betonen sie nun.
2/2: Viele Interessen in einer offeneren Welt
Zwar schütze das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Kindes auch davor, dass ihm Informationen über die eigene Abstammung vorenthalten werden. Aber dieses Recht werde begrenzt durch die kollidierenden Grundrechte der anderen Menschen, welche von einem isolierten Abstammungsklärungsverfahren betroffen sind. Im schlimmsten Fall würde sonst viel Verletzung verursacht, aber nichts erreicht, so der Erste Senat. Und auf diesen Fall, dass das Abstammungsklärungsverfahren nämlich zu einem negativen Ergebnis führt, habe der Gesetzgeber abstellen dürfen. Dann wüsste das Kind noch immer nicht, wer sein Vater ist, möglicherweise wären aber zwei Familien in ihren Grundfesten erschüttert.
Für Jutta Wagner sind diese Erwägungen nachvolllziehbar und richtig. "Die viel offeneren sozialen und rechtlichen Strukturen, in denen wir leben, führen zwangsläufig zu mehr kollidierenden Interessen. Diese müssen in einem komplizierten Setting berücksichtigt werden", so die Familienrechtlerin gegenüber LTO.
Der mutmaßliche Vater, dessen Vaterschaft gegen seinen Willen festgestellt werden soll, und die Mutter des Kindes haben ein Recht darauf, dass ihre sexuelle Beziehung nicht bekannt wird. Dass dieses Recht hinter dem des Kindes auf Kenntnis von der eigenen Abstammung zurücktreten müsste, ändere daran nichts, argumentiert das BVerfG. Denn eben diese Abstammung solle ja gerade erst durch das Verfahren geklärt werden.
Schon der Verdacht, dass er nicht der leibliche Vater seines Kindes ist, beeinträchtige aber auch nicht nur den rechtlichen Vater in seinem Selbstverständnis, sondern nehme auch der gesamten rechtlichen Familie von Vater und Kind "Gewissheit und Vertrauen in ihre familiären Beziehungen".
Der Schaden wäre nicht wieder gut zu machen
Das ist die notwendige Konsequenz auch einer Abstammungsklärung nach § 1598a BGB, welche das BVerfG selbst für erforderlich erklärt hat. Aber ein auf Nicht-Familienmitglieder ausgeweiteter Abstammungsanspruch würde noch viel weitere Kreise und damit mehr Menschen in Mitleidenschaft ziehen, begründen die Verfassungsrichter nun. So würde die Möglichkeit, dass er ein weiteres Kind hat, auch die Familie des mutmaßlichen Vaters erheblich durcheinander bringen. Egal, wie das Verfahren ausginge: Der schon angerichtete Schaden wäre nicht wiedergutzumachen, so der Erste Senat des BVerfG.
Mit Blick auf das auch vom BVerfG anerkannte Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung stellt sich eine echte Rechtsschutz-Lücke allenfalls für die - vermutlich sehr wenigen - Menschen, die bereits ein gerichtliches Verfahren gegen den Mann verloren haben, den sie aufgrund bestimmter Anhaltspunkte für ihren leiblichen Vater halten.
Das BVerfG betont in seiner Entscheidung, dass die Antragstellerin nur "nach ihrer eigenen Einschätzung" daran gehindert sei, diesen Weg über § 1600d BGB zu gehen. Auch aus Sicht von Familienrechtlerin Wagner wäre die Antragstellerin in Karlsruhe besser beraten gewesen, wenn sie versucht hätte, ein Wiederaufnahmeverfahren zu erreichen. "Die neuen medizinischen Möglichkeiten hätten zu einem anderen Ergebnis kommen können als die Gutachter in dem Verfahren in den 50-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts", so Wagner. Die hatten aufgrund einer anthropologisch-erbbiologischen Untersuchung angenommen, dass der heute fast 90-Jährige nicht ihr Vater sei. Aufgrund der Bluteigenschaften hatten die Gutachter das damals aber nicht ausschließen können.
Pia Lorenz, BVerfG befürchtet zu viele Kollateralschäden: Kein isolierter Vaterschaftstest gegen mutmaßlich leiblichen Vater . In: Legal Tribune Online, 19.04.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19129/ (abgerufen am: 04.10.2023 )
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