Bislang verfolgte die Politik die Strategie, die heikle Frage der Triage gar nicht erst zu stellen. Doch nun verlangt das BVerfG diesbezüglich Vorgaben. Welche Leitplanken es dabei dem Gesetzgeber vorgibt, analysiert Michael Kubiciel.
Dass man mit einem Unterlassen seine Pflichten ebenso verletzen kann wie mit einem aktiven Tun, ist in Ethik und Rechtswissenschaft anerkannt. Politisch kann es hingegen klug sein, eine Frage offen zu lassen, wenn jede Antwort, gleich wie sie ausfiele, Irritationen und Widerspruch in der Gesellschaft auslöst. Wenn dann noch Rechtswissenschaftler:innen über die richtige Antworten streiten und der Deutsche Ethikrat gesetzgeberische Zurückhaltung empfiehlt, ist es rechtspolitisch nachvollziehbar, dass der Gesetzgeber untätig bleibt. So kommt es, dass fast alle mit der Triage verbundenen Rechtsfragen bis heute ungeklärt sind. Gesetzliche Regelungen existieren nicht, sondern nur die Triage-Empfehlungen der Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI).
Unklar ist damit auch, ob Mediziner, die eine Triage vornehmen, rechtswidrig handeln und ob die sogenannte ex post Triage – die Unterbrechung einer intensivmedizinischen Betreuung zugunsten eines anderen Menschen – eine Straftat darstellt. Nicht nur für Ärztinnen und Ärzte ist dieser Zustand der Rechtsunsicherheit schwer erträglich. Auch Risikopatienten und ihre Angehörigen müssen sich die bange Frage stellen, ob sie im Notfall bei knappen Intensivplätzen auf eine Behandlung hoffen dürfen.
Fast zwei Jahre nach Beginn der Corona-Pandemie hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nun daran erinnert, dass das Unterlassen einer gesetzlichen Regelung nicht folgenlos bleibt, sondern Konsequenzen haben kann, die gegen das Grundgesetz, genauer: das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, verstoßen. Menschen mit Behinderung seien in der Pandemie ganz besonders gefährdet, weil sie in Heimen oder bei der täglichen Unterstützung höheren Infektionsrisiken ausgesetzt seien und zudem schwerer erkranken könnten. Vor allem aber könnte die Behinderung im Fall einer Triage tödliche Folgen haben, da "die nicht nur vage Möglichkeit“ bestehe, dass sie "mangels gesetzlichen Schutzes vor Diskriminierung bei einer Verteilungsentscheidung über lebensnotwendige intensivmedizinische Ressourcen" nachrangig berücksichtigt werden.
Bei Anwendung der DIVI-Empfehlungen droht Diskriminierung von Behinderten
Die Triage-Empfehlungen der DIVI-Empfehlungen hält das BVerfG für ungeeignet, den Schutz von Behinderten sicherzustellen. Diese stellen für die Frage der Triage maßgeblich auf das Kriterium der Erfolgsaussicht der intensivmedizinischen Behandlung ab. Das Kriterium der Erfolgsaussicht an sich kritisiert das BVerfG nicht. Doch es bestünde bei den DIVI-Empfehlungen das Risiko, dass die mit einer Behinderung einhergehenden Erkrankungen und Gebrechen zu Unrecht als negative Indikatoren für schlechte Erfolgsaussichten der intensivmedizinischen Behandlung eingestuft werden.
Zwar sollen nach den DIVI-Empfehlungen Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) nur dann Eingang in die Auswahlentscheidung finden, wenn sie "in ihrer Schwere oder Kombination die Überlebenswahrscheinlichkeit bei einer Intensivtherapie erheblich verringern". Allerdings sehen die Richterinnen und Richter das Risiko, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit nicht eindeutig nur auf die aktuelle Krankheit bezogen wird. Denn es sei nicht ausgeschlossen, dass eine Behinderung pauschal mit Begleiterkrankungen in Verbindung gebracht oder stereotyp mit schlechten Genesungsaussichten verbunden wird. Zudem wird in den DIVI-Empfehlungen zur Beurteilung der Gebrechlichkeit auf eine Skala verwiesen, die das Bundesverfassungsgericht als problematisch ansieht. Diese Skala stellt zwar nicht ausdrücklich auf Behinderungen ab, sondern auf Gebrechlichkeit. Nach Auffassung des BVerfG könnte aber der Umstand, dass viele behinderte Menschen im Alltag auf Assistenz angewiesen sind, dazu führen, dass vorschnell auf die "Gebrechlichkeit" des Patienten geschlossen werde; auch hier seien die Empfehlungen nicht klar genug. Schließlich habe die DIVI selbst darauf hingewiesen, dass im klinischen Alltag bei Kapazitätsengpässen ohne klare Kriterien vielfach ad hoc entschieden werden müsse. Dass "subjektive Momente" bei der Entscheidung über knappen Ressourcen eine Rolle spielen könnten, sei damit nicht ausgeschlossen, kritisiert das BVerfG.
Da gesetzliche Vorgaben fehlen und die medizinischen Empfehlungen uneindeutig sind, kommt der Erste Senat zu dem Ergebnis, es sei "nicht hinreichend gewährleistet, dass die Betroffenen in einer solchen Situation wirksam vor einer Benachteiligung wegen ihrer Behinderung geschützt sind." Auf diese Problematik hatten die Vereinten Nationen bereits im Mai 2020 hingewiesen. Die Bundesrepublik hatte sich daraufhin zwar in einer Erklärung gegen eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen ausgesprochen; konkrete Schritte der Exekutive und Legislative folgten dem jedoch nicht. Dies wird sich nun ändern müssen. Der Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verdichte sich hier zu einer Schutzpflicht, so das BVerfG. Diese Schutzpflicht adressiert zunächst den Gesetzgeber. Er muss Regelungen schaffen, die den skizzierten Diskriminierungsgefahren entgegenwirken.
Lebensalter darf bei Triage keine Rolle spielen
Dabei steht dem Gesetzgeber zwar ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu, wie das BVerfG betont. Es sind jedoch einige Leitplanken zu berücksichtigen. So betont das Gericht, dass die Erfolgsaussicht der Therapie – verstanden als die "Wahrscheinlichkeit, die aktuelle Erkrankung durch Intensivtherapie zu überleben" – ein zulässiges Entscheidungskriterium sei, da es nicht auf eine Bewertung menschlichen Lebens abstelle. Ob der Gesetzgeber sich jedoch tatsächlich dieses Kriterium zu eigen macht, ist offen: Das BVerfG lässt es genügen, dass der Gesetzgeber lediglich Verfahrensregelungen schafft, die die oben genannten Diskriminierungsgefahren prozedural einhegen. Eher beispielhaft nennt der Senat das Vier-Augen-Prinzip, Dokumentationspflichten und Fortbildungen. Entscheidend ist lediglich, dass ein wirksamer Grundrechtsschutz gewährleistet sei, d.h. stereotype und schematische Triage-Entscheidungen mit den beschriebenen diskriminierenden Effekten vermieden werden. Wie dies geschieht, ist eine Frage guter Gesetzgebung, nicht des Verfassungsrechts. Der Gesetzgeber muss Regelungen schaffen, die unzulässige Schematisierungen verhindern – er muss aber selbst keine Schemata erarbeiten, sondern kann auf – zu präzisierende – Empfehlungen medizinischer Fachgesellschaften verweisen und die Entscheidung im Einzelfall den Mediziner überantworten.
Klar ist hingegen, dass die "längerfristig erwartbare Überlebensdauer" kein zulässiges Kriterium ist, da dies Menschen diskriminiere, die aufgrund von Behinderungen tatsächlich oder vermeintlich eine kürzere Lebenserwartung haben. Es ginge, so das Gericht "dann nicht um das Überleben der akuten Erkrankung, sondern um die Maximierung von Lebenszeit." Damit weist der Senat auch implizit Vorschläge aus der Wissenschaft zurück, dem Lebensalter eine ausschlaggebende Bedeutung bei der Priorisierungsentscheidung zuzubilligen. Alles weitere bleibt dem Gesetzgeber überlassen, auch die heiklen Fragen, ob die Regelung für Fälle der ex post Triage gelten und ob die Beachtung dieser Regeln das Handeln von Ärzten strafrechtlich rechtfertigt. Viele erachten die damit verbundenen rechtlichen Probleme für unlösbar – bis heute. Doch die Politik muss nach dem Beschluss des BVerfG nun unverzüglich handeln. Bundesjustizminister Buschmann hat bereits die "zügige" Vorlage eines Entwurfes angekündigt.
Der Autor Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel lehrt Deutsches, Europäisches und Internationales Straf- und Strafprozessrecht, Medizin- und Wirtschaftsstrafrecht an der Universität Augsburg.
Nach der Entscheidung des BVerfG: . In: Legal Tribune Online, 28.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47075 (abgerufen am: 08.12.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag