Öffnet sich das BVerfG für Rechtsschutz von Ausländern gegen deutsche Überwachung? Und wie soll der BND in Zukunft kontrolliert werden? Am Dienstag dürfte es zu einer Grundsatzentscheidung kommen.
Die vergangenen Monate waren nicht gerade arm an aufsehenerregenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Mit seinen Urteilen zum Recht auf Vergessenwerden I und II haben die Richter um Berichterstatter BVR Johannes Masing nicht nur wesentlich an einer Grundsatzentscheidung zum Persönlichkeitsrechtschutz im Internet mitgewirkt, sondern auch noch das Verhältnis der Grundrechtsprüfung zwischen BVerfG und EuGH neu geregelt. Mit der kürzlich verkündeten EZB-Entscheidung haben die Karlsruher Richter des Zweiten Senats aufgezeigt, wie Grundrechte am Ende die deutsche Mitwirkung an EZB-Maßnahmen beschränken können. Und am Dienstag könnte das nächste wegweisende Urteil fallen, Az. 1 BvR 2835/17.
Geklagt haben in Karlsruhe ausländische Journalisten und Menschenrechtler. Sie arbeiten in Mexiko, Guatemala oder Slowenien zu Themen von organisierter Kriminalität über Korruption bis hin zu Terrorismus. Alles Themen, für die sich auch der deutsche Auslandsgeheimdienst, der Bundesnachrichtendienst (BND), interessiert. Deshalb befürchten die Kläger, bei ihrer Arbeit auch ins Visier des BND zu geraten.
Weltweiter Überwachungsschutz aus dem GG?
Verfassungsrechtlich wird es damit sehr grundsätzlich: Dürfen sich auch Ausländer im Ausland auf deutsche Grundrechte berufen, wenn sie sich durch die deutsche Staatsgewalt verletzt sehen? Sollen sie also aus aller Welt nach Karlsruhe kommen können, um eine Grundrechtsverletzung zu rügen?
In der zweitägigen mündlichen Verhandlung im Januar 2020 wurde in Karlsruhe schon eine Richtung deutlich. Eine territoriale Beschränkung des Grundgesetzes (GG) wollten die Richter nicht so recht erkennen. Die Nachfragen von der Richterbank durfte man wohl eher so verstehen, dass man den Art. 1 Abs. 3 GG ("Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht") als eine Grundrechtsbindung über die deutschen Staatsgrenzen hinaus verstehen kann.
Eine Internationalisierung bei den Grundrechten scheint für die Richter allerdings eng verknüpft mit den spezifischen Gefährdungslagen des Art. 10 GG, also speziell zugeschnitten auf das Fernmeldegeheimnis. Es geht um die klassische Abwehrfunktion der Grundrechte – Mensch gegen Staat. Wenn sich die Karlsruher Verfassungsrichter mit einem Urteil für Beschwerden gegen die Auswirkungen staatlicher Überwachungsmaßnahmen auch aus dem Ausland öffnen, dann erhielten Ausländer eine Art grundrechtliches Zusatzticket für Karlsruhe. Sie würden nur etwas gewinnen, ihre Position in ihren jeweiligen ausländischen Rechtsordnungen bliebe dadurch unberührt.
Hätte das BVerfG das grundlegend anders gesehen, dann wäre es um die Erfolgsaussichten der Beschwerdeführer von vornherein sehr schlecht bestellt gewesen – eine zweitägige Verhandlung hätte man sich in Karlsruhe sparen können.
Es geht um ein zentrales Werkzeug des BND
So aber ging es in der mündlichen Verhandlung ausführlich um die Arbeitsweise des BND bei der Fernmeldeaufklärung. Das BND-Gesetz erlaubt dem Auslandsgeheimdienst die sogenannte strategische Fernmeldeaufklärung. Dabei handelt es sich um eine anlassunabhängige Überwachung der Internetkommunikation von E-Mail bis Video-Chat. Dazu lassen sich die Geheimdienstler von Internetanbietern Daten ausleiten. Nach Recherchen von Spiegel und dem Bayerischen Rundfunk soll es um bis zu 1,2 Billion Internetverbindungen am Tag gehen.
Immer wieder haben die Geheimdienstler betont, dass durch die Fernmeldeaufklärung ein ganz erheblicher Teil ihrer Information gewonnen wird. Vor allem für Erkenntnisse aus solchen Regionen sei das wertvoll, in denen die Gewinnung menschlicher Quellen schwierig und besonders gefährlich ist. Der BND soll die Bundesregierung schnell mit Informationen aus dem Ausland versorgen, damit sie außenpolitische Entscheidungen treffen kann.
Der Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) erinnerte in der Verhandlung in Karlsruhe an Konflikte in Iran, Irak oder Libyen. Außerdem dienten Geheimdienstinformationen dem Schutz deutscher Soldaten im Ausland sowie zur Entschärfung von Terrorismus, Entführungen oder Cyberangriffen. Die Frage, wer hinter einem Angriff stecke, könne über Krieg und Frieden entscheiden, verteidigte der Chef des Kanzleramtes die Fernmeldeaufklärung.
Wie gut sortiert der BND deutsche Kommunikation aus?
In der mündlichen Verhandlung stellten leitende BND-Mitarbeiter ausführlich dar, was bereits jetzt schon getan wird, um zu verhindern, dass verbotenerweise die Kommunikation von Deutschen miterfasst wird. Dazu setzt der BND ein eigenes sogenanntes DAFIS-Filtersystem ein. Dieses Stufensystem soll etwa deutsche E-Mail-Adressen oder Verbindungen mit der Deutschlandvorwahl "+49" schon vorab aussortieren. Das Problem: Es gibt auch weniger eindeutige Fälle.
So fange der BND bei der Ausland-Ausland-Überwachung Tag rund 150.000 Kommunikationsdatensätze ein, also E-Mails oder Textnachrichten, die interessant sein könnten, so ein leitender BND-Beamter bei der mündlichen Verhandlung. Dafür sorgten ausgewählte Suchbegriffe, das laufe alles automatisch ab. Am Ende eines Tages blieben davon 250 interessante Meldungen übrig. Diese Aussortierung erfolge dann durch Mitarbeiter, meist Fremd-Muttersprachler, des BND. Sie lesen manuell E-Mails, Textnachrichten oder hören sich abgefangene Gespräche an. Sie entscheiden, was wichtig ist und weiterverfolgt werden muss.
An dieser Stelle gäbe es die Möglichkeit, so beschreiben es die BND-Beamten, noch festzustellen, dass durch die automatische Aussiebung eine Kommunikation erfasst wurde, die laut Gesetzeslage gar nicht hätte erfasst werden dürfen. Also zum Beispiel, wenn doch ein Deutscher an der Kommunikation beteiligt war. So eine Überwachung wäre dann nur nach den weiteren Voraussetzungen des sogenannten G-10-Gesetzes erlaubt. Solche Fehlerfassungen passierten in rund 30 Fällen pro Monat, sagte ein leitender BND-Beamter. Gemessen an der hohen Zahl abgefangener Datensätze hielt er das für einen "guten Wert".
Das Instrument der Fernmeldeaufklärung sei auch deshalb so wichtig für den BND, weil auf diesem Weg überhaupt erst neue Suchbegriffe gewonnen werden können, also der Dienst im laufenden Betrieb erst erfährt, wonach er zukünftig suchen sollte, hieß es in der mündlichen Verhandlung.
BVerfG mit vielen Fragen zur BND-Compliance
Die Ausführungen waren erkennbar um einen Spagat bemüht: Wie viel muss der Geheimdienst in Karlsruhe von seiner Praxis preisgeben, um die Richter zu überzeugen, und wie viel muss und sollte nicht öffentlich werden? Besonders interessierte den Senat, was der BND intern dafür tut, solche Kommunikation auszusortieren, die den Kernbereich der privaten Lebensgestaltung betrifft und solche, bei der die besondere Vertrauensbeziehung beispielsweise von Journalisten oder Anwälten betroffen ist.
BND-Mitarbeiter erläuterten dazu, dass auch hier das Stufensystem wirke. Außerdem gebe es eine interne Qualitätssicherung, eine eigene Abteilung, die Suchbegriffe und Zweifelsfälle überprüft. Auch lag den Richtern eine interne "Dienstvorschrift SIGINT" des BND vor. Sie enthält Vorgaben für die Nachrichtenauswerter: Was sind Anzeichen für eine Kommunikation mit Kernbereichsbezug oder die Annahme, dass ein besonders geschütztes Vertrauensverhältnis vorliegt? Fragen wie diese soll die Dienstvorschrift beantworten.
Doch auch hier scheinen die Details knifflig. Die SIGINT verweist auf § 53 Strafprozessordnung (StPO), der Zeugnisverweigerungsrechte für Ärzte oder Anwälte regelt. Richter Henning Radtke fragte in der mündlichen Verhandlung nach, wie die BND-Auswerter zum Beispiel damit umgehen, dass nach § 53 StPO auch "Geistliche" in ihrer Kommunikation besonders geschützt würden. Wer aber für eine fremde Religionsgemeinschaft ein Geistlicher ist, sei alles andere als einfach zu bestimmen, gab Radtke zu bedenken.
Am Ende der Verhandlung blieb unausgesprochen die Frage im Sitzungssaal: Reichen diese Schutzmaßnahmen aus? Betreibt der BND – wenn man so will - eine ausreichende Compliance?
Ein besonderer Gast in Karlsruhe
Und auch bei der Kontrolle der BND-Arbeit hatten die BVerfG Nachfragebedarf. Zwar mangelt es nicht an Kontrollgremien, die Reichweite ihrer Befugnisse und ihre Zusammenarbeit steht aber immer wieder in der Diskussion.
Neben dem sogenannten Unabhängigen Gremium beim Bundesgerichtshof kontrollieren die G10-Kommission des Bundestags sowie das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestags und der Bundesdatenschutzbeauftragte den BND - jeder aber mit anderen Schwerpunkten und unter anderen Voraussetzungen.
Das Gericht hatte Anfang Januar zur mündlichen Verhandlung Tom Hickman eingeladen. Er ist Anwalt in Großbritannien und arbeitet dort für das Investigatory Power Commissioner's Office (IPCO). Das Gremium umfasst mehrere sogenannte Kommissare, darunter sind auch Juristen und Richter. Es zählt zur Exekutive und soll die britischen Geheimdienste überwachen - und zwar im Vorfeld wie im Nachgang. Auch wird es auf Beschwerden von Bürgern hin tätig.
Wie interessant die BVerfG-Richter Hickmans Einsichten finden durften, zeigte schon, dass sie sich sich viel Zeit für seine Ausführungen und deren Übersetzung im Sitzungssaal nahmen. Auch wenn Großbritanniens Überwachungssystem gänzlich anders ausgestaltet und auch (rechts-)kulturell geprägt ist und andere Gäste aus Frankreich, Belgien oder den Niederlanden fehlten, dürfte diese "Anhörung" Wirkung entfaltet haben.
Am Dienstag wird es voraussichtlich gleichzeitig die letzte große Urteilsverkündung für BVR Johannes Masing am BVerfG sein. Er ist Berichterstatter in dem BND-Verfahren. Seine Amtszeit ist mit Ende April offiziell abgelaufen. Die SPD sucht derzeit nach einem Nachfolger.
BVerfG entscheidet zur Geheimdienstüberwachung: . In: Legal Tribune Online, 18.05.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41654 (abgerufen am: 03.10.2024 )
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