Schon wieder eine Debatte über Leitkultur? Ermüdend, aber im Wahlkampf ist ja vieles erlaubt, meint Lorenz Leitmeier. Gesetze zu erlassen, zudem ohne Anwendungsfall und mit einer falschen Begründung, allerdings dann doch nicht.
Neulich waren die Abgeordneten des Bundestags sehr fleißig: Am 27 April verabschiedeten sie spät am Abend ein Gesetz, wonach es BeamtInnen und SoldatInnen künftig verboten ist, im Dienst ihr Gesicht zu verhüllen – also eine Burka oder einen Niqab zu tragen, die nur die Augenpartie mit einem Gitterfenster oder durch einen Schlitz im Stoff freilassen.
Stellungnahmen von betroffenen Frauen oder Männern sind weder bislang noch künftig zu erwarten: Das Gesetz betrifft niemanden – bislang zumindest. Nach Auskunft der Innenministerien des Bundes und der Länder ist kein Fall bekannt, in dem eine Beamtin ihr Gesicht verhüllt hatte, auch der Deutsche Richterbund weiß von keiner Richterin, die eine Burka oder eine ähnliche Gesichtsverhüllung getragen hätte.
Drei Tage nach Verabschiedung des Gesetzes stieß Bundesinnenminister Thomas de Maiziere in einem Interview mit der Bild-Zeitung ("Wir sind nicht Burka") die Leitkultur-Debatte wieder an, die sich seit ihrem Beginn im Jahr 2000 schon fast ein wenig beruhigt hatte. In zehn Thesen formulierte er eine Richtschnur für das Zusammenleben in Deutschland. Interessant aus rechtlicher Sicht ist dabei, dass zur Identität Deutschlands scheinbar unverzichtbar das Vermummungsverbot bei Demonstrationen gehört – eine Regelung aus dem Versammlungsrecht, einem einfachen Bundesgesetz, welches jederzeit aufgehoben werden kann. Die Menschenwürde aus Art. 1 Grundgesetz (GG) hingegen sei nicht das, was Deutschland ausmache, sie gelte schließlich in allen westlichen Gesellschaften.
Wir sind nicht Burka – und nicht Grammatik
Selbstverständlich darf ein Bundesminister ein Interview geben, in dem er eine alte Debatte aufwärmt und die reflexhaft erwartbaren Reaktionen von rechts und links provoziert. Schließlich ist der Minister auch Politiker, am 24. September 2017 ist Bundestagswahl, und im Wahlkampf ist vieles erlaubt. Und tatsächlich hat man sich ja auch an vieles gewöhnt – dass man zum Beispiel Parteien wählen soll, weil man einen Regenschirm geschenkt bekommt.
Aus rechtlicher Sicht ist die Grundlage jeder "Leitkultur" klar, in Deutschland ist das allein das Grundgesetz: Dieses ist der Maßstab für die Rechtsordnung. In politischer Hinsicht ist die Diskussion um die "Leitkultur" so erschöpfend geführt, dass man den Verdacht haben könnte, es mache Deutsch-Sein aus, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Aber auch das ist schon länger bekannt – seit 1886, als Friedrich Nietzsche schrieb: "Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage ´Was ist deutsch?´ niemals ausstirbt."
Eine neue Pointe der aktuellen Diskussion ist allenfalls die schöne Ironie, dass de Maizière seine Thesen zur deutschen Leitkultur mit einem schiefen Satz begründet. Man muss also sagen: Wir sind offenbar nicht Burka – und leider auch nicht Grammatik.
2/2: Wahlkampfstand Bundestag
Über bloße Wahlkampf-Folklore hinaus geht allerdings die traurige Rolle, die der Bundestag mit seinem Gesetz zu "bereichsspezifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung" spielt.
Fragwürdig ist es bereits, ein Gesetz zu verabschieden, das überhaupt keine Relevanz hat – bei dem man in der Gesetzesbegründung also nach "Erfüllungsaufwand: Keiner; Kosten: Keine" ehrlicherweise auch schreiben müsste "Nutzen: Keiner". Um ein politisches Zeichen zu setzen, das man selbst bei wohlwollender Auslegung kaum noch präventiv nennen kann, ist ein Gesetz das falsche Mittel. Der Bundestag ist kein Wahlkampfstand.
Rechtsstaatlich bedenklich ist es aber, wenn dieses Gesetz mit einer Rechtslage und einer Notwendigkeit begründet wird, welche nicht bestehen: Das Gesetz müsse erlassen werden, weil der Staat verpflichtet sei, weltanschaulich-religiös neutral aufzutreten.
Noch nicht einmal die halbe Wahrheit
Legt man diesen Maßstab zugrunde, drängen sich noch ganz andere Fragen auf: Wenn die weltanschauliche Neutralität des Staates so dringend ist, dass der Bundestag ein Gesetz erlassen muss, um ein Phantom-Problem zu regeln – mit welcher Dringlichkeit müsste er dann diskutieren und per Gesetz regeln, ob (Bundes-)Richterinnen ein Kopftuch tragen dürfen? Oder in Gerichtssälen (des Bundes) Kreuze hängen?
Diese Fragen sind in den vergangenen Monaten diskutiert worden, und ihre Praxisrelevanz ist sicherlich höher als die einer Vollverschleierung. Nur zur Klarstellung sei an dieser Stelle gesagt: Man muss nicht regelmäßig Nietzsches "Antichrist" lesen, um religiöse Symbole im Gericht zu hinterfragen. Man kann das auch als gläubiger Christ tun, der gerne in die Kirche geht – dies aber für eine private Angelegenheit hält.
Wenn es also in der Gesetzesbegründung heißt, das Gesetz sei wegen der weltanschaulichen Neutralität des Staates notwendig, ist dies rechtlich noch nicht einmal die halbe Wahrheit. Neben der Neutralität des Staates gibt es nämlich noch ein kompliziertes Kooperationsverhältnis von Staat und Glaubensgemeinschaften, außerdem die Grundrechte der Beamten und die der Bürger, vor allem die positive und negative Religionsfreiheit. Das Verschleierungsgesetz ist also allein politisch gewollt.
Seine rechtliche Notwendigkeit dagegen ist offensichtlich vorgeschoben, wenn viel relevantere Fragen offensichtlich nicht notwendig geklärt werden müssen. Den Bundestag für ein reines Symbolgesetz ohne jedwede Relevanz zu instrumentalisieren und dafür auch noch eine falsche Begründung zu geben – man könnte fast von Sünde sprechen.
Der Autor ist Richter am Amtsgericht und hauptamtlicher Dozent an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege in Bayern.
Dr. Lorenz Leitmeier, Zwischen Burkaverbot und Leitkultur: Wahlkampfstand Bundestag . In: Legal Tribune Online, 05.05.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22839/ (abgerufen am: 28.03.2024 )
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