Die Bundeswehr beginnt in diesen Tagen Einsätze in Syrien und in der Türkei, die wichtige verfassungsrechtliche Fragen aufwerfen. Doch wohl nur in einem der beiden Fälle steht der Weg nach Karlsruhe offen, erklärt Christian Rath.
In Syrien nimmt die Bundeswehr mit Tornado-Aufklärungusflugzeugen, einem Tankflugzeug, einer Fregatte und bis zu 1.200 Soldaten am internationen Kampf gegen die "Terrororganisation IS" Teil. Der Bundestag hat hierfür am 4. Dezember mit den Stimmen der großen Koalition ein Mandat erteilt.
In der Türkei sollen Awacs-Einheiten der Nato bei der Luftaufklärung helfen. Dazu werden Bundeswehr-Soldaten, die zur Besatzung der AWACS-Flugzeuge gehören, von Nordrhein-Westfalen auf den türkischen Stützpunkt Konya verlegt. Die Bundesregierung hält den Einsatz nicht für zustimmungsbedürftig, wie sie am 18. Dezember in einem Brief an den Bundestag erläuterte. Hieran äußerten nicht nur die Oppositionsfraktionen von Grünen und Linken Zweifel, sondern auch Bundestags-Präsident Norbert Lammert (CDU).
Klage wegen Türkei-Einsatz ist möglich
Sollte die Bundesregierung an ihrer Haltung festhalten, dass für den Türkei-Einsatz kein Bundestags-Mandat erforderlich ist, könnten die Oppositions-Fraktionen hiergegen Organklage erheben. Sie würden dabei in Prozessstandschaft Rechte des Bundestags geltend machen.
Dass im Streit um die Zustimmungspflichtigkeit von Bundeswehreinsätzen das Bundesverfassungsgericht angerufen werden kann, ist inzwischen unbestritten. Schon das grundlegende Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994, in dem Karlsruhe den parlamentarischen Zustimmungsvorbehalt entwickelte, wurde durch Organklagen der Fraktionen von SPD und FDP ausgelöst.
Im Mai 2008 präzisierte Karlsruhe, dass der Bundestag nicht nur dann vorab zustimmen muss, wenn der Bundeswehreinsatz auf eine Beteiligung an bewaffneten Auseinandersetzungen abzielt. Es genüge schon, dass die Verwicklung deutscher Soldaten in bewaffnete Auseinandersetzungen "konkret zu erwarten" ist (Az. 2 BvE 1/03).
Mit Blick auf die Spannungen in der Region, namentlich auch zwischen Russland und der Türkei, ist eine militärische Eskalation, in die auch die Awacs-Flugzeuge einbezogen werden könnten, sicher nicht nur ein theoretisches Szenario. Eine Organklage, die auf die Beteiligung des Bundestags in dieser Sache abzielt, wäre also aller Voraussicht nach zulässig. Ob sie auch Erfolg hätte, ist hier nicht das Thema.
Klage gegen Syrieneinsatz wäre unzulässig
Anders sieht es beim Bundeswehreinsatz in Syrien aus, der eben begonnen hat. Da hier der Bundestag beteiligt wurde und zugestimmt hat, kann sich eine Organklage der Opposition jedenfalls nicht auf die Durchsetzung von parlamentarischen Rechten gegenüber der Bundesregierung berufen.
Die Oppositionsfraktionen können auch nicht mit dem Argument gegen den Bundestag klagen, dass dieser ultra vires (jenseits seiner Kompetenzen) gehandelt hätte. 1999 entschied das Bundesverfassungsgericht (im Streit um den vom Bundestag gebilligten Kosovo-Krieg), dass Fraktionen mit dem ultra vires-Argument nicht mehr antragsbefugt seien, "weil die verfassungsrechtliche Ermächtigung des Bundes, Streitkräfte in einem System kollektiver Sicherheit einzusetzen, grundsätzlich geklärt ist und die Rechte der antragstellenden Fraktion sich insoweit auf eine ordnungsgemäße Beteiligung an dem Verfahren beschränken, in dem der Bundestag dem Einsatz bewaffneter Streitkräfte seine vorherige konstitutive Zustimmung erteilt hat" (2 BvE 5/99, Rz 20).
Spannende Rechtsfragen zum Syrieneinsatz
Daher dürfte die Opposition wohl auch nicht geltend machen können, dass die Bundeswehr in Syrien gar nicht im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit eingesetzt wird - obwohl hier viele Fragen offen sind. So ist - erstens - schon fraglich, ob die von der Bundesregierung in Anspruch genommene Resolution des UN-Sicherheitsrats tatsächlich ein militärisches Eingreifen gegen den IS deckt. Die Anti-IS-Koalition, der sich Deutschland angeschlossen hat, ist - zweitens - wohl zu wenig strukturiert, um als System kollektiver Sicherheit zu gelten. Und zur EU, in deren Rahmen Frankreich um Beistand gegen den IS gebeten hat, hatte das Bundesverfassungsgericht 2009 in seinem Lissabon-Urteil (2 BvE 2/08 u.a, Rz 255 und 390) ausdrücklich erklärt, dass diese noch kein System kollektiver Sicherheit sei. Da es sich dabei nur um ein obiter dictum handelte, wäre - drittens - die Frage, ob Karlsruhe an dieser Einschätzung auch festhält, wenn es auf sie ankommt.
Hilfsweise (wenn der Einsatz nicht im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit erfolgte) könnte der Bundestag noch geltend machen, dass der Einsatz der "Verteidigung" im Sinne von Art. 87a II Grundgesetz diente.
Zwar hat die Bundesregierung nicht so argumentiert, aber der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags (und weite Teile der Lehre) verstehen "Verteidigung" nicht nur als Selbstverteidigung der Bundesrepublik, sondern auch als kollektive Verteidigung zugunsten anderer angegriffener Nationen. Im Falle des IS kämen Syrien, der Irak und Frankreich in Betracht. Ob allerdings das Bundesverfassungsgericht wirklich Bundeswehreinsätze bei jeder bilateralen Hilfsanforderung für zulässig hält, wäre - viertens - ebenfalls fraglich.
2/2: keine "Verfassungs- oder Völkerrechtsaufsicht"
Doch all dies können die Oppositionsfraktionen jedenfalls nicht im Wege der Organklage in Karlsruhe zur Diskussion stellen. Denn das Organstreitverfahren eröffne keine "Kontrolle außenpolitischer Maßnahmen der Bundesregierung im Sinne einer allgemeinen Verfassungs- oder gar Völkerrechtsaufsicht." Das stellte das Bundesverfassungsgericht 2009 in einer Entscheidung zum fortdauernden Bundeswehr-Einsatz im Kosovo klar
(2 BvE 4/08, Rz 27).
Um die Karlsruher Linie aufzuhebeln, versuchte die Linksfraktion umstrittene Bundeswehr-Einsätze als de-Facto Verfassungsänderung ohne Einhaltung der Form zu beschreiben. So sollte aus der materiellen Verfassungsfrage doch wieder ein parlamentarisches Beteiligungsproblem werden. Das Bundesverfassungsgericht hat sich diesem Trick bisher aber verweigert, etwa in seinem Kosovo-Beschluss 1999 (2 BvE 5/99, Rz 19).
Hintertür in Karlsruhe
Allerdings gibt es in der insoweit stringent-restriktiven Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch einen Ausrutscher. In einem Urteil von 2007 (zum ISAF-Einsatz in Afghanistan) es eine Organklage der Linksfraktion im Bundestag auch mit dem Argument zugelassen, "die Bundesregierung habe sich an einer Fortentwicklung der NATO dergestalt beteiligt, dass diese nicht mehr der Friedenswahrung diene". Dabei ging es um die Frage, ob das in Artikel 24 II Grundgesetz enthaltene Tatbestandsmerkmal, dass ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit der "Wahrung des Friedens" dienen soll, beachtet wurde oder nicht. Damit wurde ein materieller Verfassungsaspekt für organstreit-fähig erachtet. Handelte es sich dabei nur um eine dogmatische Schlampigkeit? Oder will sich das Gericht doch offenlassen, bei Bedarf auch materielle Klagen im Organstreit entgegenzunehmen? Die Rolle des Verfassungsgerichts als systemstabilisierendes Instrument dürfte dafür sprechen, dass die Richter im Zweifel einen Weg finden, eine nach ihren bisherigen Vorgaben eigentlich unzulässige Klage doch zuzulassen. Eine Verfassungskontrolle mit offensichtlichen Lücken dürfte in Deutschland auf wenig Verständnis stoßen.
Geeigneter als die Öffnung der Organklage wäre dann aber wohl eine erweiternde Auslegung der abstrakten Normenkontrolle. Schließlich geht es bei den oben skizzierten Fragen ausdrücklich nicht um die Rechte des Bundestags, sondern um die materielle Verfassungsmäßigkeit eines Bundeswehreinsatzes in Syrien. Auch wenn ein Mandatsbeschluss des Bundestags keine klassische "Norm" ist, so dürfte doch die Klageart der abstrakten Normenkontrolle am besten passen.
Sollte das Verfassungsgericht diesen Schritt mitmachen, würde sich derzeit allerdings ein anderes Problem stellen. Klageberechtigt ist nicht jede Fraktion, vielmehr ist bei Normenkontrollen aus dem parlamentarischen Raum gemäß Art 93 Grundgesetz ein Viertel der Bundestagsabgeordneten erforderlich. Dieses Quorum erreichen Grüne und Linke derzeit nicht einmal zusammen. Allerdings wird Karlsruhe nächste Woche (am 13. Januar) über eine Klage der Linken verhandeln, die in der faktischen Unfähigkeit der Opposition zur abstrakten Normenkontrolle einen Verstoß gegen das Demokratieprinzip sieht.
Schließung der Rechtsschutzlücke
Denkbar wäre natürlich auch, dass der Bundestag freiwillig eine neue Klageart einführt, mit der Fraktionen materiell-verfassungsrechtliche Argumente gegen Bundeswehreinsätze dem Verfassungsgericht zur Prüfung vorlegen können.
Der SPD-Wehrexperte Rainer Arnold hat in der Debatte um den Syrieneinsatz am 4. Dezember die Linke ausdrücklich aufgefordert, beim Bundesverfassungsgericht zu klagen. Das war vermutlich nicht einmal zynisch gemeint, sondern Ausdruck der allgemeinen Vorstellung, dass es immer einen Weg nach Karlsruhe geben müsse. Auf die Anfrage, ob sich die SPD an der Schließung dieser offensichtlichen Rechtschutzlücke beteiligen würde, hat Arnold dann aber nicht geantwortet.
Christian Rath, Streit um Bundeswehr-Mandat für Syrien: Verschlungene Pfade zum Verfassungsgericht . In: Legal Tribune Online, 06.01.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18047/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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