Diversität am BVerfG: Noch kein ost­deut­scher Ver­fas­sungs­richter

von Dr. Christian Rath

04.06.2020

Mit Jes Möller soll erstmals ein Ostdeutscher zum Richter am Bundesverfassungsgericht gewählt werden, fordert Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD). Warum gibt es nicht längst Richter aus dem Osten?

Die SPD hat sich verhakt. Seit 1. April ist die Amtszeit von Verfassungsrichter Johannes Masing abgelaufen. Doch die SPD, die das Vorschlagsrecht für diese Position innehat, ist immernoch nicht in der Lage, einen Kandidaten zu benennen. Seit Monaten wird über die gleichen drei Personen diskutiert: den fachlich am besten qualifizierten Rechtsprofessor Martin Eifert, den Potsdamer Landessozialrichter Jes Möller und Lars Brocker, Präsident des Landesverfassungsgerichts in Rheinland-Pfalz und Protegé der dortigen Ministerpräsidentin Malu Dreyer.

Die Brandenburger Staatskanzlei hat in den letzten Wochen einen gut orchestrierten Wahlkampf für ihren Kandidaten Jes Möller betrieben. Hauptargument: Jes Möller wäre der erste Bundesverfassungsrichter mit echter Ost-Biographie. Nun sei die letzte Möglichkeit, einen Richter zu wählen, der noch Erfahrungen aus der DDR-Opposition mitbringt. Die Argumente zeigten auch medial große Wirkung. Denn es ist tatsächlich frappierend, dass es 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch nie einen ostdeutschen Verfassungsrichter gab.

Rosemarie Will

Nach der Wende bestand in Karlsruhe durchaus das Bedürfnis, Sachverstand aus Ostdeutschland zu integrieren. Die Ost-Berliner Juristin Rosemarie (Rosi) Will war von 1993 bis 1995 die erste wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht. Will war zuvor Rechtsprofessorin und Dekanin an der Berliner Humboldt-Universität. Verfassungsrichter Dieter Grimm hatte sie an sein Dezernat geholt.

Doch obwohl Will nicht Verfassungsrichterin werden sollte, führte Grimms Vorhaben am Gericht zu großer Unruhe. Denn Will hatte ihre Professur noch zu DDR-Zeiten erhalten und war SED-Mitglied gewesen. Sie gehört zwar einem SED-Reformflügel an und setzte sich in der Wendezeit für freie Wahlen ein. Dennoch forderten konservative Verfassungsrichter ihre Mitarbeiter auf, Wills Werk zu durchforsten. Der damalige Gerichtspräsident Roman Herzog, der Wills Mitarbeit unterstützte, berief sogar das Plenum des Bundesverfassungsgerichts ein, um über die Personalia zu diskutieren. Am Ende gab es aber kein Veto gegen Will.

Rosemarie Will wurde 1996 dann erste ostdeutsche Landes-Verfassungsrichterin und zwar in Brandenburg. Sie war in Karlsruhe in die SPD eingetreten und wurde auch von der SPD nominiert. Die härtesten Debatten um ihr Vorleben gab es dabei in der brandenburgischen SPD-Landtagsfraktion. Will war damals ein Symbol für eine vorsichtige Öffnung der SPD für geläuterte Ex-SED-Mitglieder.

In den Nuller-Jahren war Rosemarie Will SPD-intern sogar als Richterin am Bundesverfassungsgericht im Gespräch. Doch der Vorschlag erhielt nicht genügend Unterstützung und wurde nicht öffentlich bekannt.

Hans-Joachim Jentsch und Peter M. Huber

Immerhin zwei Verfassungsrichter hatten in den letzten drei Jahrzehnten starke Bezüge zu Ostdeutschland. Der erste war Hans-Joachim Jentsch, der von 1996 bis 2005 am Zweiten Senat amtierte. Er war von 1990 bis 1994 CDU-Justizminister in Thüringen, danach Richter am Landesverfassungsgericht. Allerdings war Jentsch in Hessen aufgewachsen, dort war er für die CDU Bundestagsabgeordneter, OB von Wiesbaden und Landtagsabgeordneter.

Vor der Nominierung von Jentsch gab es in der CDU auch Überlegungen, den sächsischen Justizminister Steffen Heitmann (damals CDU) als Verfassungsrichter vorzuschlagen. Das schien aber riskant, nachdem der sehr konservative Heitmann 1993 schon als Kandidat für das Bundespräsidentenamt zurückgezogen werden musste. Der Halb-Ossi Jentsch galt daraufhin für alle Seiten als guter Kompromiss.

Auch Peter M. Huber, seit 2010 bis heute am Zweiten Senat tätig, hatte eine Thüringer Teil-Vergangenheit. Von 1992 bis 2001 war der gebürtige Münchener Rechtsprofessor an der Uni Jena. Dann nahm er einen Ruf an die Uni München an, kam aber 2009 noch einmal als Thüringer CDU-Innenminister in den Osten zurück. Dort amtierte er dann allerdings nur ein Jahr. Wegen Hubers bayrischer Sprachfärbung käme heute wohl auch niemand auf die Idee, Huber in Karlsruhe als Stimme des Ostens zu sehen.

Keine Karlsruher Siegerjustiz

Soweit ersichtlich gab es in den letzten Jahren keine weiteren Versuche, Ostdeutsche zu Richtern am Bundesverfassungsgericht zu machen. Auch aus Brandenburg, das heute so stark auf das bisherige Versäumnis hinweist, sind keine Vorschläge bekannt. Es gab wohl auch einfach einen Mangel geeigneter Kandidaten. DDR-Juristen galten als zu systemnah. Oppositionelle waren eher Pfarrer und wer erst nach der Wende mit dem Studium begann, musste zunächst seinen Weg machen, um für Karlsruhe präsentabel zu sein.

Es fragt sich auch, welche Relevanz bei der Auswahl von Verfassungsrichtern heute eine DDR-Vergangenheit noch haben kann. Die großen Karlsruher Verfahren mit DDR-Bezug fanden in den ersten fünfzehn Jahren nach der Wiedervereinigung statt. Es ging zum Beispiel um die sowjetische Bodenreform, den Umgang mit DDR-Spionen oder die gekürzten Renten für DDR-Eliten. Für manche Themen gab es ganze Serien von Karlsruher Urteilen. Aber das ist lange her.

Kläger waren damals vor allem Alteigentümer aus dem Westen, die ihre enteigneten Ländereien und Immobilien in Ostdeutschland wieder erlangen wollten sowie ehemalige DDR-Bürger und -Funktionäre, die sich über Nachteile nach der Wende beschwerten. Während die Alteigentümer weitgehend leer ausgingen, hatten die Ex-DDRler immer wieder Erfolg beim Bundesverfassungsgericht. Die Karlsruher Richter trugen so auch bei den alten DDR-Eliten zur Akzeptanz des neuen Rechtstaats bei. Da es am Bundesverfassungsgericht also keine Siegerjustiz gab, kam auch nie eine größere Diskussion über die Vertretung von Menschen mit ostdeutscher Lebenserfahrung am BVerfG auf. Themen der DDR-Opposition spielten in Karlsruhe ohnehin keine große Rolle.

Brauchen wir heute Ost-Richter?

Auch im Fall von Jes Möller war es wohl nicht so, dass Brandenburg gezielt nach einem Richter mit ostdeutscher Biographie gesucht hätte. Vielmehr war erst der Kandidat am Start, dann wurde für ihn ein zugkräftiges Narrativ gefunden.

Da die jeweils acht Richter pro Senat aber für eine pluralistische Besetzung des Bundesverfassungsgerichts stehen, spricht natürlich nichts dagegen, auch gezielt Ostdeutsche zu nominieren. Angesichts der Themen in Karlsruhe geht es dabei aber wohl nicht mehr um die Integration von Erfahrungen mit der DDR-Realität, sondern eher um das Leben in den überwiegend strukturschwachen neuen Bundesländern. Für Jes Möller spricht heute daher eher seine Erfahrung als Sozialrichter in Brandenburg als seine Rolle in der kirchlichen DDR-Opposition.

In den Jahren 2022 und 2023 müssen am Bundesverfassungsgericht sieben Richterposten neu besetzt werden. Es liegt nahe, dass die Verfassungsrichter-Macher in Bundesrat und Bundestag heute schon zusichern, dann auch mindestens einen Kandidaten aus Ostdeutschland zu berücksichtigen.

Auf den ersten Blick läge es nahe, hier gezielt Kandidaten zu berücksichtigen, die der Linken oder der AfD vorgeschlagen werden. Immerhin stellt die Linke in Thüringen ihren ersten Ministerpräsidenten und ist tendenziell immer noch eine ostdeutsche Regionalpartei. Und auch die AfD hat ihre Hochburgen überwiegend in Ostdeutschland, wo sie inzwischen teilweise stärkste Partei ist.

Allerdings führt das gesetzlich vorgesehene Wahlverfahren, wonach Bundes-Verfassungsrichter mit Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag oder im Bundesrat gewählt werden, zur Bevorzugung von breit konsensfähigen Kandidaten der Mitte. In der Pflicht sind dann neben der SPD auch CDU, Grüne und FDP.

Zitiervorschlag

Christian Rath, Diversität am BVerfG: . In: Legal Tribune Online, 04.06.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41810 (abgerufen am: 30.11.2024 )

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