Überlastete Verfassungsrichter: Eine Mutwillensgebühr gegen den Rechtsstaat

von Prof. Dr. Joachim Wieland

16.04.2012

Ob das BVerfG "jedermann" rechtliches Gehör schenkt, könnte bald von dessen Geldbeutel abhängen. Nach dem Willen der höchsten Verfassungsrichter sollen aussichtslose Verfassungsbeschwerden zukünftig bis zu 5.000 Euro kosten. Das Jedermannsrecht zu einem Recht der Zahlungskräftigen zu degradieren, würde aber dem Ansehen des Rechtsstaates schaden. Ein Kommentar von Joachim Wieland.

Das Grundgesetz garantiert jedermann das Recht, Verfassungsbeschwerden mit der Behauptung zu erheben, in einem seiner Grundrechte verletzt zu sein. Von dieser Möglichkeit wird häufig Gebrauch gemacht. Zu häufig, findet das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), bei dem in jedem Jahr mehr als 6.000 Verfassungsbeschwerden eingehen. Eine gewaltige Arbeitslast für die 16 Mitglieder des Gerichts und ihre mehr als sechzig wissenschaftlichen Mitarbeiter. Es ist deshalb verständlich, dass in Karlsruhe nach Entlastung gerufen wird.

Der Gesetzgeber soll das Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) so ändern, dass Verfassungsbeschwerden zunächst von einem Rechtspfleger überprüft werden. Sind sie nach dessen Einschätzung evident unzulässig oder unbegründet, sollen sie nur noch nach Zahlung einer so genannten "Mutwillensgebühr" von bis zu 5.000 Euro bearbeitet werden.

Damit würde das Jedermannsrecht zur Erhebung einer Verfassungsbeschwerde ausgehöhlt. Nur wer genügend Geld hat, die Gebühr zu zahlen, hat dann noch in jedem Fall Zugang zu den vom Bundestag oder Bundesrat gewählten Richtern. Das BVerfG verdankt seine herausragende Stellung aber ganz wesentlich der Tatsache, dass jeder seine Grundrechte in Karlsruhe verteidigen kann. Er benötigt dazu weder einen Anwalt noch muss er dafür bezahlen, dass sich das höchste deutsche Gericht mit seiner Beschwerde befasst.

Der Weg nach Karlsruhe darf nicht vom Geldbeutel abhängen

Diese Möglichkeit hat viel dazu beigetragen, dass der Rechtsstaat in Deutschland nach den schrecklichen Erfahrungen der Nazizeit wieder hohes Ansehen erlangt hat. Tritt an die Stelle der demokratisch gewählten Mitglieder des Gerichts ein Rechtspfleger und hängt das Recht auf eine richterliche Prüfung zukünftig in solchen Fällen davon ab, ob ein Beschwerdeführer sich die Zahlung der Gebühr leisten kann, wird aus dem Jedermannsrecht ein Recht der Zahlungskräftigen.

Entlastet werden kann das Gericht auf anderen Wegen: Schon gegenwärtig werden über 4.000 Verfassungsbeschwerden nach einer Belehrung durch die Verwaltung des Gerichts von den Beschwerdeführern nicht weiterverfolgt und nicht als Verfassungsbeschwerden gezählt.

Von den als Verfassungsbeschwerden behandelten Anträgen nimmt  der Zweite Senat 89 Prozent und der Erste Senat 49 Prozent ohne Begründung nicht zur Entscheidung an. Das erlaubt § 93a BVerfGG, wenn der Verfassungsbeschwerde weder eine grundsätzliche Bedeutung zukommt noch ihre Annahme zur Durchsetzung der Grundrechte angezeigt ist, dem Beschwerdeführer insbesondere kein besonders schwerer Nachteil entsteht.

Mutwille und Absicht in Karlsruhe

Alle Verfassungsbeschwerden, die künftig erst nach der "Mutwillensgebühr" bearbeitet werden sollen, können also schon heute mit einer Belehrung durch die Gerichtsverwaltung im Allgemeinen Register oder durch einen Kammerbeschluss ohne Begründung erledigt werden. Wenn die Unzulässigkeit oder Unbegründetheit einer Beschwerde wirklich evident ist, wird ihre von den wissenschaftlichen Mitarbeitern vorbereitete begründungslose Abweisung kaum Arbeitszeit der Richterinnen und Richter in Anspruch nehmen. Wenn mehr Zeit benötigt wird, fehlt es offensichtlich an der Evidenz.

Das Gericht sollte also nicht nach dem Gebührengesetzgeber rufen, sondern sich entlasten, indem es die ihm längst offenstehenden Möglichkeiten durch sinnvolle Gestaltung seines internen Verfahrens entschlossen nutzt. So bleibt das wichtige Jedermannsrecht erhalten und das Vertrauen der Bevölkerung in "Karlsruhe"  unangetastet.

Wer eine Verfassungsbeschwerde erhebt, handelt immer mutwillig, nämlich mit Absicht. Er behauptet eine Grundrechtsverletzung und hat ein Recht darauf, dass diese Behauptung von den gewählten Mitgliedern des Gerichts geprüft wird - selbst wenn sie diesen als fernliegend erscheint.

Der Autor Prof. Dr. Joachim Wieland, LL.M. ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer.

Zitiervorschlag

Joachim Wieland, Überlastete Verfassungsrichter: . In: Legal Tribune Online, 16.04.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5994 (abgerufen am: 07.10.2024 )

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