Mal wieder droht eine Frist abzulaufen: Der Gesetzgeber muss für ein neues Verbot von Kinderehen sorgen, so fordert es das BVerfG. Aber was passiert eigentlich, wenn Gesetzgeber und Politik seine Entscheidungen ignorieren?
Mal wieder läuft eine Umsetzungsfrist ab: Wenn der Gesetzgeber keine Neuregelung schafft, tritt das Kinderehenverbot der Großen Koalition zu Ende Juni außer Kraft. So hat es das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Februar 2023 entschieden. Weil Regelungen zum Unterhalt und zur Fortführung der Ehe mit Erreichen der Volljährigkeit fehlen, ist das pauschale Verbot per Gesetz verfassungswidrig.
Die Union wirft der Ampelkoalition und Familienministerin Lisa Paus (Grüne) Untätigkeit vor. Sie fürchtet, dass Kinderehen bald legal werden. Die Bundesregierung hat für eine Umsetzung der BVerfG-Entscheidung "den Diskussionsprozess noch nicht abgeschlossen".
Zu einer ähnlichen Situation kam es vor wenigen Wochen. Das BVerfG hatte 2022 Regelungen im Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) zur Datenübermittlung an Polizeien und Staatsanwaltschaften für verfassungswidrig erklärt. Es gab dem Gesetzgeber eine Neuregelung bis Ende 2023 auf. Auch hier kam der Gesetzgeber in Zeitnot, es drohte der Verlust von Rechtsgrundlagen für die Nachrichtendienste: Verabschiedet wurden die Änderungen erst auf den letzten Drücker.
Aber was passiert eigentlich grundsätzlich, wenn eine solche Frist verstreicht? Wenn der Gesetzgeber BVerfG-Entscheidungen sogar einfach ignoriert? Und wie kann das BVerfG überhaupt sicherstellen, dass die Politik seine Entscheidungen beachtet?
Ein insofern bemerkenswerter Fall ereignete sich 2018. Es ging um eine Stadthalle in Wetzlar. Die Stadt wollte der NPD ihre Halle nicht zur Verfügung stellen. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit verpflichtete sie dazu. Wetzlar weigerte sich. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit setzte ein Zwangsgeld fest und drohte ein zweites Zwangsgeld an. Wetzlar weigerte sich. Schließlich rief die NPD das BVerfG an und Wetzlar - beachtete auch die Entscheidung des BVerfG nicht.
In Zeiten, in denen apokalyptische Szenarien zu Bundesverfassungsgericht und Rechtsstaat durchgespielt werden, drängt sich die Frage auf: Welche Mittel stehen eigentlich zur Verfügung, staatliche Akteure zur Beachtung von BVerfG-Entscheidungen zu bringen? Die Frage stellte sich aufgrund der hohen Akzeptanz des BVerfG bisher zwar nur selten. Wetzlar ist auch nicht Weimar. Es scheint aber nicht unvorstellbar, dass mit zunehmendem Erfolg von Parteien wie der AfD häufiger Situationen auftreten, in denen die Politik auf kommunaler oder Landesebene verfassungsgerichtlichen Entscheidungen nicht mehr ohne weiteres folgt. Kann man sie im Fall der Fälle dazu zwingen?
BVerfG entscheidet selbst über Vollstreckung
Wenn man im Grundgesetz (GG) nach einem Ansatzpunkt sucht, findet man – nichts. Der Art. 19 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung etwa sah vor, dass der Reichspräsident die Entscheidungen des Staatsgerichtshofs vollstrecken sollte. Etwas Vergleichbares findet man im GG nicht.
Dafür wird man im Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) fündig. In § 35 heißt es sibyllinisch: "Das Bundesverfassungsgericht kann in seiner Entscheidung bestimmen, wer sie vollstreckt; es kann auch im Einzelfall die Art und Weise der Vollstreckung regeln." Das BVerfG bestimmt also selbst über die Vollstreckung seiner Entscheidungen.
Ursprünglich hatte der Regierungsentwurf zum BVerfGG vorgesehen, die Vollstreckung dem Bundespräsidenten zu übertragen. Der Bundesrat wandte hiergegen ein, das Staatsoberhaupt solle nicht in den politischen Meinungsstreit hineingezogen werden. Deshalb wurde die Befugnis schließlich dem BVerfG selbst übertragen.
Großzügige Anwendung von § 35 BVerfGG in verschiedenen Konstellationen
Doch wie sieht das in der Praxis aus? Die meisten stattgebenden Entscheidungen des BVerfG sind Gestaltungsurteile oder Feststellungsurteile. Sie entfalten Wirkung sozusagen aus sich selbst heraus. Für den häufigsten Fall der Urteilsverfassungsbeschwerde etwa regelt das § 95 BVerfGG: Hier wird die Entscheidung des Fachgerichts, ggf. auch ein zugrundeliegender Verwaltungsakt, aufgehoben. Der Fall wird ggf. an das Fachgericht zurückverwiesen. Im Falle ihrer Verfassungswidrigkeit ist auch die Norm, auf der die Entscheidung beruht, für nichtig zu erklären. Hier ist klassischerweise nichts zu vollstrecken.
Ohnehin sind alle staatlichen Akteure schon nach § 31 BVerfGG an die Entscheidungen des BVerfG gebunden. Entgegen dem Wortlaut ergehen deshalb nach § 35 BVerfGG nicht in erster Linie Vollstreckungsanordnungen im eigentlichen Sinne, sondern das BVerfG regelt mit der Vorschrift hauptsächlich ganz allgemein Folgen seiner eigenen Entscheidungen.
Untätigkeit des Gesetzgebers
Gegenüber dem Gesetzgeber etwa hat das BVerfG auf der Grundlage des § 35 BVerfGG verschiedene Instrumente entwickelt. Es erklärt verfassungswidrige Gesetze zwar grundsätzlich für nichtig. Es kann stattdessen aber auch bloß eine "Unvereinbarkeitserklärung" aussprechen und das Gesetz erst einmal weiter gelten lassen, ggf. mit Maßgaben, und dem Gesetzgeber eine Frist setzen, innerhalb derer er eine verfassungskonforme Regelung schaffen muss. So geschehen etwa in seiner Entscheidung zur Datenübermittlung durch den Verfassungsschutz aus 2022. Es hat auch schon selbst als "Ersatzgesetzgeber" Übergangsregelungen ausgesprochen, die bis zum Ablauf der Frist gelten sollten. Ein Fall, in dem es Fortgeltung und Übergangsregelung miteinander verbunden hat, ist die oben angesprochene Entscheidung zum pauschalen Verbot von Kinderehen.
Und wenn der Gesetzgeber nichts tut? Hier ist Verschiedenes denkbar. Das BVerfG kann schon in seiner Ausgangsentscheidung etwaige Folgen aussprechen. Beim BVerfSchG wären die Regeln zur Datenübermittlung mit Ablauf des Jahres 2023 außer Kraft getreten. Im Fall der Kinderehen würde ab Juli das Verbot nicht mehr gelten. In krassen Fällen kann es selbst unmittelbar Regelungen schaffen, die nach Ablauf der Frist gelten sollen. Ein anderes berühmtes Beispiel ist eine Entscheidung aus dem Jahr 1969, in der das BVerfG die Fachgerichte angewiesen hat, nach Ablauf der Frist gegen das damals geltende Familienrecht den Gleichstellungsauftrag aus Art. 6 Abs. 5 GG zu verwirklichen.
Auch unkonventionellere Wege scheut das BVerfG nicht. 2016 etwa hatte der Gesetzgeber eine Frist zur Neuregelung der Erbschaftsteuer verstreichen lassen. Das BVerfG hat daraufhin in einem Schreiben an Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat gedroht, es werde sich bald "mit dem weiteren Vorgehen befassen" – und der Gesetzgeber die Reform noch im selben Jahr geliefert.
Echte Vollstreckung
Beispiele für "echte" Vollstreckungsanordnungen gibt es aber nur wenige. Ein klassischer Fall sind die beiden Parteiverbote der nationalsozialistischen SRP 1952 und der kommunistischen KPD 1956, wo das BVerfG jeweils die Innenminister der Länder zur Vollstreckung des Verbots anwies.
Könnten aber auch Staatsorgane unmittelbar zu einem bestimmten Handeln verpflichtet werden? Streiten sich etwa Verfassungsorgane im Rahmen eines sogenannten Organstreits, haben die Entscheidungen des BVerfG immer nur nachträglich feststellenden Charakter (§ 67 S. 1 BVerfGG). Sie ändern nicht die Rechtslage, sie beschreiben sie nur klärend. Wären Vollstreckungsanordnungen durch das BVerfG aber grundsätzlich möglich?
Um eine ähnliche Frage ging es im PSPP-Verfahren. Das BVerfG hatte im Mai 2020 infolge einer Verfassungsbeschwerde festgestellt, dass Bundestag und Bundesregierung wegen des sog. Grundrechts auf Demokratie aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG verpflichtet sind, auf eine genauere Prüfung des Staatsanleihekaufprogramms PSPP durch die Europäische Zentralbank hinzuwirken und sich die Bundesbank bis dahin nicht an dem Programm beteiligen darf. Die Beschwerdeführer waren einige Zeit später der Meinung, dass Bundesregierung, Bundestag und Bundesbank diesen Verpflichtungen nicht nachgekommen waren. Sie beantragten deshalb beim BVerfG eine Vollstreckungsanordnung mit dem Inhalt, Bundestag, Bundesregierung und Bundesbank unmittelbar entsprechend zu verpflichten.
Das BVerfG hat diesen Antrag zwar abgelehnt. Das ändert aber nichts daran, dass eine Vollstreckungsanordnung gegenüber Staatsorganen auf der Grundlage von § 35 BVerfGG grundsätzlich möglich wäre, so der Verfassungsrechtler Prof. Heiko Sauer von der Universität Bonn: "PSPP war ein besonders gelagerter Fall. Schon das Urteil über die Verfassungsbeschwerde enthielt den Ausspruch, dass die Bundesbank aus dem Programm aussteigen muss, wenn nicht die EZB eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Programms nachliefert. Das war schon eine Vollstreckungsanordnung, nur kam sie nicht zum Tragen, weil die Bedingung innerhalb der dafür gesetzten Frist erfüllt wurde." Ähnlich verhält es sich beim Organstreitverfahren: "Mit der retrospektiven Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Handelns oder Unterlassens ist oft zugleich - prospektiv - festgestellt, dass entsprechendes Handeln sich nicht wiederholen darf, womit der Feststellungstenor häufig auch eine präventive Wirkung für die Zukunft beinhaltet."
Einstweilige Anordnungen – der Fall Wetzlar
Gelegentlich werden auch einstweilige Anordnungen im Eilrechtsschutz mit einer Vollstreckungsanordnung verbunden. Das ist zum Beispiel der oben angesprochene Fall Wetzlar aus dem Jahr 2018. Die Stadt widersetzte sich einer einstweiligen Anordnung des zuständigen Verwaltungsgerichts, der NPD für eine Veranstaltung ihre Stadthalle zu überlassen. Auch die Festsetzung eines und die Androhung eines zweiten Zwangsgelds half nichts. Das BVerfG gab daraufhin einem Antrag der NPD auf einstweilige Anordnung statt und wies die Stadt Wetzlar an, der NPD die Stadthalle an dem konkreten Tag zu überlassen.
Doch die Stadt Wetzlar beachtete die Entscheidung des BVerfG nicht und stellte der NPD die Stadthalle an besagtem Tag nicht zur Verfügung. Im Nachgang schrieb der Senatspräsident Ferdinand Kirchhof einen Brief an den zuständigen Regierungspräsidenten Christoph Ullrich (CDU) und regte an, durch geeignete Maßnahmen der Kommunalaufsicht sicherzustellen, dass gerichtliche Entscheidungen künftig befolgt werden.
Was tun bei fortgesetzter offener Unbotmäßigkeit?
Wie wäre der Konflikt zu lösen, falls eine Stadt oder Gemeinde sich dauerhaft einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung widersetzt? Und etwa das zuständige Land im Rahmen der Kommunalaufsicht nichts tut? Oder ein Land womöglich selbst verfassungsgerichtliche Entscheidungen ignoriert?
Hier könnte das BVerfG zunächst selbst auf der Grundlage von § 35 BVerfGG das Land zu einem entsprechenden Tätigwerden bzw. zur Beachtung der Entscheidung anhalten. Als letzte Möglichkeit wäre zudem denkbar, dass der Bund mittels Bundeszwang nach Art. 37 GG einschreitet, so Staatsrechtler Sauer: "Hier könnte das BVerfG etwa die Bundesregierung verpflichten, gegenüber dem Land die Entscheidung zu vollstrecken." Die Bundesregierung könne aber auch von sich aus tätig werden. "Die Beachtung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen ist eine dem Land obliegende Bundespflicht im Sinne des Art. 37 GG. Ganz egal ob mit oder ohne Vollstreckungsanordnung des BVerfG." Wie das konkret aussehen würde, ist allerdings nicht klar - der Bundeszwang kam bisher noch nie zur Anwendung und ist verfassungsrechtlich ungeklärt.
Verfassungsstaatlichkeit ist auf Akzeptanz und Vertrauen angewiesen
Letztlich zeigt sich: Das BVerfG kann die Rechtslage gestalten und eine Verfassungswidrigkeit feststellen. Zuweilen kann es den Gesetzgeber ermahnen oder andere staatliche Akteure zu einem bestimmten Handeln anweisen. Unter Umständen ist auch denkbar, dass der Bund gegenüber den Ländern verfassungsgerichtlichen Entscheidungen zur Durchsetzung verhilft.
Das BVerfG bleibt aber immer und ausnahmslos darauf angewiesen, dass andere seinen Entscheidungen Folge leisten. Dazu Verfassungsrechtler Sauer: "Das BVerfG hat keine eigene Zwangsmacht. Es ist wie alle demokratischen Institutionen auf ein Grundmaß an Befolgungsbereitschaft angewiesen." Konkret sieht er insoweit aber noch keine Gefahr: "Mittelfristig halte ich eine Erosion dieser Befolgungsbereitschaft für eher unwahrscheinlich." Auch der Gesetzgeber ging bei der Schaffung des BVerfGG im Jahr 1951 davon aus, dass die meisten verfassungsgerichtlichen Entscheidungen gar nicht vollstreckungsbedürftig sein würden.
Was aber passiert, wenn das keine Selbstverständlichkeit mehr ist? Wenn der Gesetzgeber eine für verfassungswidrig erklärte Norm einfach noch einmal erlässt? Wenn ein Verfassungsorgan ein im Organstreitverfahren für verfassungswidrig erklärtes Verhalten einfach wiederholt? Wenn der Bund sich weigert, gegenüber einem Land eine BVerfG-Entscheidung durchzusetzen?
Für Verfassungsstaatlichkeit wie auch für die Rechtsordnung als solche gilt: sie lassen sich nur in begrenztem Maße erzwingen. Sie leben von der Einsicht der Handelnden in die Legitimität gemeinsamer Verfahren und des Handelns gemeinsamer Institutionen. Verfassungsgerichte sind auf Akzeptanz und breites gesellschaftliches Vertrauen angewiesen. Wenn Akzeptanz und Vertrauen prekär werden, kann dagegen auch keine noch so ausgeklügelte Verrechtlichung helfen.
Vollstreckung von Entscheidungen: . In: Legal Tribune Online, 01.03.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54015 (abgerufen am: 02.11.2024 )
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