Am kommenden Sonntag findet die Wahl zum 18. Deutschen Bundestag statt. Vom Wahlrecht ausgeschlossen werden jedoch jene, für die in allen Lebensbereichen dauerhaft ein Betreuer bestellt ist. Doch rechtfertigt der Schutz des Wahlprozesses den Ausschluss Einzelner? Oder sollten auch Menschen wählen können, die das Wesen der Wahl nicht begreifen? Einige Gedanken macht sich Heinrich Lang.
Grundsätzlich sind alle deutschen Staatsbürger ab dem vollendeten 18. Lebensjahr wahlberechtigt. Dieses Wahlrecht ist Ausdruck des Verfassungsgrundsatzes der Allgemeinheit der Wahl, Art. 38 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz (GG). Damit gebietet die Verfassung, dass das Wahlrecht unter den genannten Voraussetzungen (Volljährigkeit, deutsche Staatsbürgerschaft) jedermann zustehen muss, insbesondere wäre ein Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen von der Ausübung des Wahlrechts aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen unzulässig.
Die Teilnahme an der Wahl darf auch nicht etwa vom Vermögen, dem Einkommen, der Steuerentrichtung, der Bildung oder Lebensstellung abhängig gemacht werden. In dieser Gleichheit der Bürger bei der Wahl setzt sich die egalitäre Grundaussage des demokratischen Prinzips fort. Die Ausübung von Staatsgewalt durch das Parlament soll von jedem Staatsbürger legitimiert werden.
Von daher verwundert es auf den ersten Blick, dass das deutsche Wahlrecht seit jeher Wahlrechtsausschlüsse auch für erwachsene Wahlberechtigte kennt. So ist etwa nach § 13 Nr. 2 Bundeswahlgesetz (BWG) derjenige vom aktiven und gemäß § 15 Abs. 2 Nr. 1 BWG auch vom passiven Wahlrecht ausgeschlossen, für den zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist. Der wahlrechtliche Ausschlusstatbestand setzt also eine betreuungsrechtliche Entscheidung voraus.
Nur teilweise Betreuung begründet keinen Wahlrechtsausschluss
Diese Entscheidung ergeht in einem sogenannten Betreuungsverfahren, das auf Antrag (auch des zu Betreuenden) oder von Amts wegen eingeleitet wird. Die normative Grundlage hierfür bilden die §§ 271 ff. des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG). Betreuungen können aus vielerlei Gründen indiziert sein, sie können etwa Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, an Demenz Erkrankte oder wachkomatöse Patienten betreffen. Möglich und die Regel sind auf bestimmte Lebensbereiche bezogene Betreuerbestellungen, die für das Wahlrecht ohne Bedeutung sind.
Wird allerdings ein Betreuer für alle Angelegenheiten bestellt, was unter anderem wegen der damit verbundenen Grundrechtsbeschränkungen die Ausnahme zu sein hat, ordnet § 13 Nr. 2 BWG den Verlust des Wahlrechts an. Namentlich der durch § 13 Nr. 2 BWG bewirkte Wahlrechtsausschluss ist dabei nicht zuletzt aufgrund einer stärker inklusiven Perspektive auf die Situation von Menschen mit Behinderungen umstritten. Diesem Wahlrechtsausschluss wird vorgeworfen, er sei weder mit der UN-Behindertenrechtskonvention noch mit deutschem Verfassungsrecht vereinbar.
In verfassungsrechtlicher Perspektive kommt es darauf an, ob der genannte Wahlrechtsausschluss mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl vereinbar ist. Nun ist der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl zwar ein Anwendungsfall formaler Gleichheit, auch wird er bereichsspezifisch durch die mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl in engem Zusammenhang stehenden Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG und damit eben auch mit dem Benachteiligungsverbot wegen einer Behinderung in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG. verstärkt. Er gilt aber gleichwohl nicht absolut. Die Verfassung lässt Durchbrechungen zu, wenn dies aus zwingenden Gründen erforderlich ist.
Kann wählen, wer das Wesen der Wahl nicht versteht?
Als ein solch zwingender Grund lässt sich anführen, dass der durch § 13 Nr. 2 BWG bewirkte Wahlrechtsausschluss neben ihm attestierter Diskriminierungs- auch Schutzaspekte aufweist. Denn die Regelung zielt darauf ab, wesentliche Funktionen des Wahlakts (Kreations-, Legitimations-, Kommunikationsfunktion) sicherzustellen. Zugespitzt lässt sich fragen, ob wählen kann, wer das Wesen der Wahl nicht versteht, ob legitimieren kann, wer nicht weiß, was er legitimiert, ob den essentiellen Auseinandersetzungsprozess zwischen Parlament und Gesellschaft aufgreifen und mitbestimmen kann, wem die Fähigkeit zu derartiger Kommunikation fehlt, wann anders ausgedrückt Selbst- in (doppelte) Fremdbestimmung umschlägt.
Die Frage ist allerdings, wann eine derartige Wahlfähigkeit fehlt und wie und in welchem Verfahren dies festgestellt wird. Hinter der gegenwärtigen Regelung in § 13 Nr. 2 BWG steht der Gedanke, dass derjenige, der keinen seiner Lebensbereiche mehr eigenverantwortlich regeln kann, auch zu einer eigenverantwortlichen Wahlentscheidung außerstande ist. Der Wahlrechtsausschluss knüpft also bewusst an eine in einem anderen Verfahren (dem Betreuungsverfahren) ergangene Entscheidung an. Ob das in allen Fällen zwingend ist, ist wegen der unterschiedlichen Binnenlogiken von Betreuungs- und Wahlrecht nicht unumstritten.
Unterschiedliche Regelungen im europäischen Umland
Von daher wird sich der am Sonntag neu gewählte 18. Deutsche Bundestag in der kommenden Legislaturperiode mit dem Wahlrechtsausschluss in § 13 Nr. 2 BWG beschäftigen müssen. Ihm stehen dabei unterschiedliche Handlungsoptionen zur Verfügung. Er kann die Wahlrechtsausschlüsse gänzlich abschaffen (wie das in einigen europäischen Ländern der Fall ist), was allerdings die Gefahr birgt, dass auch wählt, wer nicht imstande ist, eine Wahlentscheidung zu treffen (etwa der wachkomatöse Patient). Er kann die Wahlrechtsausschlüsse beibehalten (wie sie in zahlreichen europäischen Ländern ebenfalls bestehen), aber gleichsam in der Feinjustierung bestehende Friktionen zwischen Wahl- und Betreuungsrecht beseitigen.
Nur eines sollte er nicht tun: eine wie auch immer geartete Wahlreifeprüfung für Menschen mit Behinderungen einführen. Wer sollte diese auch durchführen, welche materiellen Anforderungen sollten hier in welchem Verfahren zur Geltung gebracht werden? Aus wahl- und verfassungsrechtlicher Perspektive kann es im Interesse des Schutzes der vorgenannten Kernfunktionen des Wahlakts nie um eine Wahlreifeprüfung, sondern nur um eine Wahlunfähigkeitsfeststellung gehen. Die konkrete normative Umsetzung dieses Ansatzes liegt dann – wie in der parlamentarischen Demokratie üblich – in erster Linie in der Hand des demokratisch legitimierten Gesetzgebers.
Der Autor Prof. Dr. iur. Heinrich Lang, Dipl. Sozialpäd. ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht an der Universität Greifswald. Er nahm als Sachverständiger an der unter anderem das Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen betreffenden Öffentlichen Anhörung des Deutschen Bundestags am 6. Juni 2013 teil.
Wahlrechtsausschluss behinderter Menschen: . In: Legal Tribune Online, 19.09.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9591 (abgerufen am: 11.12.2024 )
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