Der Bundestag wartet geduldig das Ende der Koalitionsverhandlungen sowie Zuschnitt und Besetzung der Ministerien ab, bevor er Ausschüsse einrichtet. Da bleibt Arbeit liegen, die nun ein Hauptausschuss vorübergehend erledigen soll. Das könnte die Rechte der Abgeordneten verletzen und muss nicht sein, meint Sebastian Roßner.
Krisen reißen den Schleier von den tatsächlichen Machtverhältnissen. Sie zeigen, wer in Wahrheit die Regie führt. Nun wäre es zwar übertrieben, die Koalitionsverhandlungen in Berlin als Staatskrise zu bezeichnen. Aber es ist eine Ausnahmesituation, wenn 80 Prozent der Abgeordneten des Bundestages sich darüber einig sind, den Betrieb des Parlaments solange ruhen zu lassen, bis ihre Parteichefs sich darüber geeinigt haben, was die Große Koalition tun will und mit welchem Personal.
Denn einen Monat nach der konstituierenden Sitzung des Bundestages ist im Reichstagsgebäude noch nicht viel geschehen. Es wurden Geschäftsordnungen verabschiedet, der Bundestagspräsident wiedergewählt und die Posten seiner Stellvertreter um einen vermehrt. Die Ausschüsse aber sind noch nicht gebildet und dort findet die inhaltliche Arbeit des Bundestages hauptsächlich statt.
Begründet wird diese partielle Arbeitsverweigerung damit, dass die Ausschüsse in der Regel dem Zuschnitt der Bundesministerien entsprechen, dieser aber noch nicht feststehe. Es ist tatsächlich zweckmäßig, dass Ausschüsse den sachlichen Zuschnitt der Ministerien spiegeln, denn dadurch wird es einfacher, Gesetzgebungsvorhaben zu beraten. Aber diese Begründung enthält nicht die ganze Wahrheit: Parlamentarische Ausschüsse sind nicht in Stein gemeißelt. Der Bundestag kann ihren Aufgabenbereich jederzeit anpassen, etwa wenn dies für ein reibungsloses Zusammenspiel mit den Ministerien erforderlich ist.
Im GG vorgesehene Ausschüsse muss der Bundestag einrichten
Entscheidend für das Zögern des Parlaments ist vielmehr, dass das Personaltableau der neuen Regierung noch nicht feststeht und mancher, der für einen Ausschussvorsitz in Betracht kommt, eigentlich lieber Minister oder zumindest parlamentarischer Staatssekretär werden möchte. Bei dem Rennen um die Posten in der Regierung ist es aber ein Handicap, wenn man bereits eine herausgehobene parlamentarische Funktion ausübt. Auch aus der Perspektive der Parteien ist es sinnvoll, die parlamentarischen Würden nicht zu vergeben, bevor bekannt ist, wie die Regierung sich zusammensetzt. Denn hier warten schwierige Proporzprobleme: Wie werden die Landesverbände oder Parteiflügel berücksichtigt, welche Posten gehen an Männer, welche an Frauen, an junge oder an ältere Politiker?
Dennoch, aus Sicht der Verfassung darf sich das Parlament bei der Frage, ob es seine Arbeit aufnimmt, nicht von externen Instanzen abhängig machen. Insbesondere gilt dies für die im Grundgesetz vorgesehenen Ausschüsse wie diejenigen für Petitionen, Verteidigung oder Angelegenheiten der Europäischen Union. Diese Gremien muss der Bundestag einrichten.
Der praktische Schaden für die Gesetzgebungstätigkeit ist gegenwärtig zwar nicht groß, denn Gesetzesvorlagen gehen in den meisten Fällen von der Bundesregierung aus und von dort kommt zurzeit nicht viel. Aber das Parlament wäre im Moment auch gar nicht darauf vorbereitet, ein normales Gesetzgebungsverfahren durchzuführen.
FDP-Politiker kontrollieren Nachrichtendienste, Petitionen bleiben liegen
In anderen Aufgabenbereichen führt die Untätigkeit des Bundestags bereits jetzt zu praktischen Defiziten. Mit den Enthüllungen Edward Snowdens ist noch einmal deutlich geworden, wie dringlich eine wirksame Kontrolle der Nachrichtendienste ist. Diese Aufgabe nimmt in Deutschland ein parlamentarisches Gremium wahr, das gemäß Art. 45d Grundgesetz (GG) einzurichten ist.
Auch diesen Ausschuss hat der Bundestag noch nicht neu gewählt, so dass nach § 3 Abs. 3 Kontrollgremiumgesetz, dem Ausführungsgesetz zu Art. 45d GG, das alte Kontrollgremium weitertagt. Die deutschen Nachrichtendienste werden also gegenwärtig von Personen kontrolliert, die dafür kein aktuelles Mandat mehr haben, darunter auch zwei Angehörige der FDP, die bekanntlich nicht einmal mehr im Bundestag vertreten ist.
Ein besonderer Problemfall ist der Petitionsausschuss, der vom Bundestag eingerichtet werden muss, damit die Bürger ihr Grundrecht aus Art. 17 GG wahrnehmen können, sich mit ihren Anliegen an ihre Volksvertretung zu wenden. Der alte Petitionsausschuss hat im Sommer seine Arbeit eingestellt, seitdem werden die Petitionen nicht mehr bearbeitet. Diese Missachtung eines Grundrechts ist ein Unding.
2/2: Zu klein und gleichzeitig zu groß
Als provisorische Lösung wollen die Abgeordneten am Donnerstag einen Hauptausschuss einrichten, der alle Ausschussaufgaben übernehmen soll. Diesem Superausschuss, der bis zur Bildung einer neuen Regierung tagen soll, werden vierzig Abgeordnete angehören. Ihre Aufgaben werden vielfältig sein: die vom Bundesrat eingebrachte Gesetzesvorlage zu Steuerfragen beraten, die Verlängerung von Bundeswehrmandaten diskutieren und endlich liegen gebliebene Petitionen bescheiden.
Nur: Der Hauptausschuss darf einige dieser Aufgaben nicht wahrnehmen, andere kann er nicht sinnvoll bewältigen und auch die Rechte der Abgeordneten werden möglicherweise verletzt.
Denn das Grundgesetz schreibt eben die Bildung bestimmter Ausschüsse vor, die sich auf die ihnen zugewiesenen Aufgaben spezialisieren. Der Hauptausschuss darf deren Aufgaben nicht übernehmen.
Und auch in den Fällen, in denen die Verfassung schweigt, hat Spezialisierung ihren Sinn. Die Aufgaben des Bundestages sind so vielfältig, dass sie innerhalb der zuständigen Ausschüsse von den Fachpolitikern der Fraktionen wahrgenommen werden. Ein Ausschuss von vierzig Mitgliedern kann nicht für alle Aufgaben die notwendige Sachkompetenz aus allen Fraktionen bündeln. Dafür ist er zu klein. In anderer Hinsicht ist er zu groß, denn in einem vierzig Personen starken Gremium leidet die Intensität der Beratungen.
90 Prozent der Abgeordneten von der Ausschussarbeit ausgeschlossen
Zudem hat das Bundesverfassungsgericht in der "Wüppesahl-Entscheidung" das Recht aller Abgeordneten bekräftigt, in gleicher Weise an der Arbeit des Parlaments mitzuwirken (Urt. v. 13.06.1989, Az. 2 BvE 1/88). Da diese Arbeit zu wesentlichen Teilen in den Ausschüssen stattfindet, billigte das Gericht jedem Abgeordneten das Recht zu, in einem Ausschuss zu sitzen.
Zwar ließen die Richter die Möglichkeit offen, von diesem Recht Abstriche zu machen, wenn die Funktionsfähigkeit des Bundestages dies erfordere. Gegenwärtig geht es aber nicht um die Funktionsfähigkeit des Parlaments, sondern nur um die der Koalitionsverhandlungen.
Allerdings kann man aus dem Recht der Abgeordneten auf gleiche Teilhabe an der Arbeit des Bundestags nicht ohne weiteres ein Recht auf Schaffung von Ausschussplätzen ableiten für den Fall, dass nach Beschlusslage des Parlaments nicht genügend Ausschussplätze für alle Parlamentsmitglieder zur Verfügung stehen. Über 90 Prozent der Abgeordneten von der Ausschussarbeit auszuschließen, wie es mit der Einrichtung eines einzigen Hauptausschusses geschieht, ist aber kaum zu rechtfertigen. Nur die kurze Dauer, für die der Hauptausschuss geplant ist, macht die Beeinträchtigung der Abgeordnetenrechte eventuell noch hinnehmbar. Aber hier befinden wir uns, um mit der Kanzlerin zu sprechen, auf Neuland. Dieses verminte Gelände sollte der Bundestag nicht betreten, sondern seine regulären Ausschüsse einrichten.
Der Autor Dr. Sebastian Roßner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Sebastian Roßner, Hauptausschuss: Der Bundestag betritt Neuland . In: Legal Tribune Online, 27.11.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10172/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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