Zugangsbeschränkungen für MdB: Ist die 2G-Plus-Rege­lung im Bun­destag ver­fas­sungs­widrig?

von Hasso Suliak

14.01.2022

Negativ getestete MdB, die nicht geboostert oder genesen sind, dürfen an Bundestags-Plenarsitzungen nur noch von der Tribüne aus oder - in den Ausschüssen - per Video teilnehmen. Ob das verfassungskonform ist, wird wohl das BVerfG klären.

Seit Mittwoch gelten im Deutschen Bundestag wegen der Ausbreitung der Omikron-Virusvariante verschärfte Zugangsregeln für Abgeordnete. Auf Grundlage einer von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) erlassenen Allgemeinverfügung dürfen nur noch geimpfte oder genesene MdB mit einem zusätzlichen Test in den Plenarsaal und in Ausschusssäle. Wer geboostert ist, benötigt keinen Test. In einer E-Mail informierte der Direktor des Bundestages Anfang der Woche vorab die Abgeordneten über die neue Rechtslage:

"Für Personen, die weder geimpft noch genesen sind, besteht die Möglichkeit der Teilnahme an Plenar- und Ausschusssitzungen von der Tribüne aus, sofern sie einen aktuellen negativen Antigen-Schnelltest vorweisen können. Ohne entsprechendes Testergebnis kommt auch eine Sitzungsteilnahme von der Tribüne aus künftig nicht mehr in Betracht. Die Teilnahme an Ausschusssitzungen wird durch die Nutzung elektronischer Kommunikationsmittel ermöglicht, sofern es sich nicht um geschlossene Ausschüsse handelt."

Laut Medienberichten ging dies gleich bei der ersten Sitzung des Auswärtigen Ausschusses (geschlossener Ausschuss*) nach Inkrafttreten der neuen Regelung am Mittwoch gehörig schief. Für das zwar negativ getestete, aber ungeimpfte und auch nicht genesene AfD-Ausschussmitglied Joachim Wundrak gab es nicht die Möglichkeit, von einem Tribünenplatz an der Ausschusssitzung teilzunehmen. Auch wenn der Vorfall der noch allzu frischen Rechtslage geschuldet sein sollte und wahrscheinlich eher auf schlechter Organisation beruht: Eine Verletzung des verfassungsrechtlich durch Art. 38 Absatz 1 Satz 2 GG gewährleisteten Anspruchs jedes und jeder Abgeordneten auf gleichberechtigte Teilnahme und Mitwirkung an der Arbeit des Bundestages dürfte wohl zu bejahen sein.

Verfassungsrechtliches "Spannungsfeld"

Doch auch unabhängig von diesem Einzelfall, stellen sich immer mehr Verfassungsrechtler die Frage, ob das von der Bundestagspräsidentin angeordnete Regelwerk überhaupt verfassungskonform ist?

In der Begründung der Verfügung der Bundestagspräsidentin werden die drastischen Maßnahmen verfassungsrechtlich für geboten erachtet. Dass ungeimpfte oder nicht genesene Abgeordnete, die sich nicht testen lassen, die aktive Teilhabe an den Plenarsitzungen verwehrt werden müsse, sei verhältnismäßig: "Angesichts der drohenden Gefahr durch die Omikron-Virusvariante ist die Verschärfung der Zugangsvoraussetzungen für den Plenarsaal zur Aufrechterhaltung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestags nicht nur geeignet, sondern auch erforderlich."  

Und die Anordnung der Testpflicht bewege sich nun einmal im Spannungsfeld zwischen den Rechten der MdB aus Art. 38 Absatz 1 Satz 2 GG einerseits und der Sicherstellung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments sowie dem Ziel, der weiteren Ausbreitung von Infektionen mit dem Coronavirus entgegenzuwirken, andererseits.

Staatsrechtler: "Verbannung auf die Tribüne ist keine Kleinigkeit"

Dieses Spannungsverhältnis sehen auch Verfassungsrechtler, einige kommen aber bei ihrer Einschätzung zu einem anderen Ergebnis als die Bundestagspräsidentin. Etwa Prof. Dr. Dr. Volker Boehme-Neßler. Der Oldenburger Staats- und Medienrechtler hält die Regelung für materiell verfassungswidrig.

Sie verletze die ungeimpften Abgeordneten in ihren grundrechtsgleichen Rechten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG. Für Boehme-Neßler, der gegenüber LTO auch noch einmal explizit betont, der AfD in keiner Weise nahezustehen, die Politik der Partei vielmehr für inakzeptabel hält, ist die "Verbannung" von Abgeordneten auf die Tribüne keine Kleinigkeit, sondern erschwere den Kern der Arbeit eines Parlamentariers. "(Politische) Kommunikationsprozesse seien auch abhängig von räumlicher Nähe. In Diskussionen und Debatten müsse man die Kolleginnen und Kollegen und ihre Mimik und Gestik und Blicke sehen und spüren. Sonst, so der Öffentlichrechtler, sei die Teilhabe an den Prozessen - und damit die Möglichkeit der politischen Einflussnahme - nur sehr eingeschränkt möglich.

Laut Boehme-Neßler ist die Maßnahme zudem nicht verhältnismäßig, da es ein milderes und effektiveres Mittel gibt, um die Funktionsfähigkeit des Bundestages auch in Zeiten der Pandemie zu sichern. "Effektive aktuelle negative Tests können gut gewährleisten, dass die Getesteten keine Viruslast tragen und nicht infektiös sind. Das ist bei einer Impfung alleine nicht garantiert," so der Juraprofessor gegenüber LTO.

Verfügung formell verfassungswidrig?

Abgesehen von diesen materiellen Gründen äußern Verfassungsrechtler auch an der formellen Verfassungsmäßigkeit der neuen Zugangsbeschränkungen Bedenken:

Die Bundestagspräsidentin habe sich fehlerhaft auf das ihr nach Artikel 40 Absatz 2 Satz 1 GG zustehende "Hausrecht" berufen, meint etwa der Regensburger Staatsrechtler Prof. Dr. Thorsten Kingreen: "Das Hausrecht dient aber nur dazu, Störungen von außen abzuwehren, während für die interne Ordnung der parlamentarischen Beratungen die Geschäftsordnung des Bundestages (GO-BT) einschlägig ist. Verfassungsrechtliche Grundlage ist damit Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG. Das hat die praktische Konsequenz, dass für die Etablierung der 2Gplus-Regel nicht die Bundestagspräsidentin, sondern der Bundestag zuständig ist. Angesichts des durchaus gravierenden Eingriffs in die durch Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG geschützten Abgeordnetenrechte, so Kingreen, hätten die neuen Zugangsbeschränkungen "verfassungsrechtlich zwingend" durch den Bundestag in der GO-BT geregelt werden müssen. "Es geht hier um eine verfassungsrechtlich vorgeschriebene Kompetenzverteilung zwischen Bundestag und Bundestagspräsidentin, die nicht zur Disposition der Bundestagspräsidentin oder der Parlamentsmehrheit steht."

Ähnlich sieht es auch der Düsseldorfer Staats- und Parteienrechtler Sebastian Roßner: "Tatsächlich dient das Hausrecht zur Abwehr äußerer Gefahren. Zwar könnte man ein gefährliches Virus als solche auffassen, aber richtig ist auch, dass das Geschäftsordnungsrecht betroffen ist, insofern es um die Teilnahme an Plenar- und Ausschusssitzungen geht."

Von einer formellen Verfassungswidrigkeit der neuen Zugangsbeschränkungen geht auch Boehme-Neßler aus: Das Hausrecht sei nur auf den ersten Blick einschlägig. "In Wirklichkeit geht es aber um eine Regelung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Abgeordneten an politischen Prozessen. Das kann der Bundestag im Rahmen seiner Geschäftsordnungsautonomie regeln - in der Geschäftsordnung."

FDP-Bundestagsvize: "Bild der räumlichen Absonderung ungeimpfter Abgeordneter nicht unproblematisch"

Von LTO mit dem Vorwurf konfrontiert, dass der Bundestag den Zugang seiner Abgeordneten in Zeiten der Pandemie unter Umständen in verfassungswidriger Weise geregelt habe, reagierten befragte Vertreter:innen der Ampel-Fraktionen mit Schweigen. Aus der grünen Fraktion hießt es, man wolle sich zu dieser Thematik derzeit nicht äußern. Auch der parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Johannes Vogel, antwortete auf eine LTO-Anfrage nicht.

Ein stückweit in Schutz nimmt dagegen der FDP-Bundestagsvize und Jurist Wolfgang Kubicki seine Kollegin Bär – zumindest was den Vorwurf der formellen Verfassungswidrigkeit anbelangt: "Die Präsidentin hat über die 2G-Regelung und die verschärfte Maskenpflicht einen Beschluss des Bundestags herbeigeführt, der die Regelungen als Teil der parlamentarischen Ordnung angenommen hat. Damit relativieren sich die vorgebrachten Bedenken hinsichtlich der Zuständigkeit." Außerdem sei es wichtig, dass auch ungeimpfte Abgeordnete ohne Einschränkungen an den Sitzungen des Deutschen Bundestages teilnehmen können. Politisch, so Kubicki allerdings, halte er "das Bild der räumlichen Absonderung ungeimpfter Abgeordneter" für nicht unproblematisch.

Klage und Antrag auf einstweilige Anordnung in Karlsruhe angekündigt

Wie das "Bild" am Ende verfassungsrechtlich zu bewerten ist, darüber wird nach Ankündigung des parlamentarischen Geschäftsführers der AfD-Bundestagsfraktion, Stephan Brandner, wohl das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entscheiden. Ein Staatsrechtler sei bereits beauftragt, vor dem BVerfG Eilverfahren und Klage einzureichen, teilte Brandner LTO mit. 

Die 2G Plus-Regelung für den Plenarsaal des Deutschen Bundestages sei, so Brandner, nicht verhältnismäßig und stelle eine massive Einschränkung der Arbeit des frei gewählten Abgeordneten dar. "Dass negativ getesteten - also nachweislich gesunden! - nicht geimpften und nicht genesenen Abgeordneten generell der Zutritt zum Plenarsaal verwehrt bleibt, aber Personen mit einer Auffrischungsimpfung sich nicht einmal testen müssen, ist vor dem Hintergrund des Gesundheitsschutzes unsinnig." Abstände könnten im Plenarsaal ebenso gut oder schlecht eingehalten werden, wie auf der Tribüne, so Brandner.

Die Regelung führe auch dazu, dass kritische AfD-Abgeordnete am Kontakt zur Presse gehindert würden, da sie künftig den Medienbereich in der Westlobby des Parlamentsgebäudes nicht mehr betreten dürften.

AfD scheiterte in den Ländern 

Indes: Wenn es um coronabedingte Auflagen für Abgeordnete in Parlamenten geht, hat die AfD bisher keine guten Erfahrungen vor Verfassungsgerichten gemacht. Allein vor dem bayerischen Verfassungsgerichtshof ist die AfD-Fraktion im bayerischen Landtag inzwischen vielmal mit Eilanträgen gescheitert. Zuletzt am Donnerstag mit einer einstweiligen Anordnung gegen die in einer Allgemeinverfügung vom 19. November 2021 verankerte Vorschrift für den Zutritt zu den Räumlichkeiten des Landtags. Der Antrag der AfD betraf etwa die 3G-Regel für Beschäftigte, den Zutritt von Abgeordneten zu parlamentarischen Sitzungen und die
Pflicht zum Tragen einer Maske im Plenarsaal (Az. Vf. 88-IVa-21).

Laut einer für das bayerische Parlament geltenden Verfügung dürfen Abgeordnete ohne Impf-, Genesenen- oder Testnachweis derzeit nur von Plätzen der Besuchertribüne an Plenarsitzungen teilnehmen. Ob dort in Kürze ähnlich verschärfte Zugangsbeschränkungen unter 2G-Plus-Bedingungen wie im Bundestag gelten werden, soll nach LTO-Informationen Ende Januar im Ältestenrat entschieden werden.

Der Verfassungsgerichtshof in München hatte bereits am 14. September 2020, am 6. Mai 2021 und am 28. September 2021 Anträge der AfD-Fraktion oder einzelner AfD-Abgeordneter gegen Corona-Anordnungen im Maximilianeum abgelehnt. Auch der niedersächsische Staatsgerichtshof entschied im September, dass die Anordnung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in den Gebäuden des Niedersächsischen Landtages, einschließlich des Plenarsaals sowie der Sitzungs- und Besprechungsräume, nicht das in der Landesverfassung garantierte freie Mandat der Abgeordneten verletze (Beschl. v. 27.09.2021, Az. StGH 6/20).

Doch gut möglich, dass die wesentlich schärfere Bundestagsregelung, die Karlsruhe bald zur Prüfung auf den Tisch bekommt, verfassungsrechtlich von einem anderen Kaliber ist. Für die Bundestagsabgeordneten gilt sie zunächst bis zum 28. Februar 2022.

*nachträglich klargestellt am Tag d. Erscheinens, 14.05 Uhr

Zitiervorschlag

Zugangsbeschränkungen für MdB: . In: Legal Tribune Online, 14.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47211 (abgerufen am: 08.10.2024 )

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