War der Bundestag in einer Nachtsitzung kurz vor der Sommerpause beschlussunfähig? Die AfD-Fraktion wendet sich mit einem Eilverfahren ans BVerfG. Andere Oppositionspolitiker sagen, die Partei verunglimpfe demokratische Institutionen.
Beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist bereits Anfang Juli ein Eilantrag mit dem Aktenzeichen 2 BvQ 59/19 eingegangen, wie ein Sprecher des Gerichts LTO am Mittwoch bestätigte. Worum es der Partei genau geht, erläuterte sie in einer Pressekonferenz am Mittwoch:
In einer nächtlichen Bundestagssitzung am frühen Morgen des 28. Juni soll ihr die Feststellung verweigert worden sein, dass der Bundestag zu diesem Zeitpunkt mangels einer ausreichenden Zahl anwesender Abgeordneter beschlussunfähig gewesen sei. Die Karlsruher Richter sollen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier deshalb per einstweiliger Anordnung untersagen, drei anschließend in dieser Nachtsitzung beschlossene Gesetze zu unterzeichnen und auszufertigen, sagten der Erste Parlamentarische Geschäftsführer Bernd Baumann und Rechtspolitiker Stephan Brandner, beide von der AfD, am Mittwoch in Berlin.
Es geht um eine Nacht von Donnerstag auf Freitag Ende Juni im Plenarsaal des Bundestags, unmittelbar vor der Sommerpause. Was sich dort gegen 01.27 Uhr zugetragen hat, kann man dem amtlichen Protokoll entnehmen und sich dank des Parlamentsfernsehens sogar anschauen. Nach Mitternacht während einer Diskussion über ein Gesetzespaket zum Datenschutz meldete sich plötzlich ein Abgeordneter der AfD zu Wort. Seine Fraktion zweifle an der Beschlussfähigkeit der Versammlung. "Gemäß § 45 Absatz 2 der Geschäftsordnung bitte ich um Überprüfung", sagte der AfD-Abgeordnete Jürgen Braun. "Es waren bei wohlwollendster Zählung nur 100 Personen anwesend und nicht 355", sagte Brandner am Mittwoch. Durch die Aufnahmen des Parlamentsfernsehens kann man sich einen Eindruck verschaffen, die Zahl dürfte in etwa zutreffen.
Nach Abs. 1 des § 45 der Geschäftsordnung des Bundestages (GO-BT) ist das Plenum beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist. Bei aktuell 709 Sitzen müssten es also mindestens 355 sein. Nach Abs. 2 muss wenn vor Beginn einer Abstimmung die Beschlussfähigkeit von einer Fraktion oder von anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages bezweifelt und auch vom Sitzungsvorstand nicht einmütig bejaht oder die Beschlussfähigkeit vom Sitzungsvorstand im Einvernehmen mit den Fraktionen bezweifelt wird, die Beschlussfähigkeit durch Zählung der Stimmen per sogenanntem "Hammelsprung" festgestellt werden. Dazu müssen die Abgeordneten den Sitzungssaal verlassen und durch drei Abstimmungstüren ("Ja", "Nein", "Enthaltung") wieder betreten. Dadurch soll eine klare Zählung ermöglicht werden. In der Regel entscheiden die Abgeordneten per Handzeichen oder Aufstehen beziehungsweise Sitzenbleiben.
FDP: "AfD missbraucht Verfassungsgericht als Propagandabühne"
Die Vizepräsidentin des Bundestages, Claudia Roth (Die Grünen) teilte, wie auf den Videoaufnahmen zu erkennen, daraufhin mit: "Also, wir haben hier oben miteinander diskutiert. Wir sind der Meinung, dass die Beschlussfähigkeit gegeben ist". Das löste bei der AfD-Fraktion Proteste aus. Das Protokoll vermerkt, dass AfD-Abgeordnete den Vorgang fotografiert haben.
Die FDP reagierte empört: "Die AfD will nur ein weiteres Mal die demokratischen Institutionen verunglimpfen. Sie missbraucht das Verfassungsgericht als Propagandabühne", sagte der Erste Parlamentarische Geschäftsführer Marco Buschmann der Deutschen Presse-Agentur.
Es handele sich um "Geistergesetze", sagte der AfD-Prozessbevollmächtigte Ulrich Vosgerau. Die in der Nacht noch beschlossenen Gesetze seien verfassungswidrig zustande gekommen. Sollten sie nicht gestoppt werden, werde die AfD in Karlsruhe eine Organklage wegen der Verletzung der Rechte des Bundestags anstrengen.
Der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) stellte sich bereits am 28. Juni im Namen des Präsidiums mit deutlichen Worten hinter die Entscheidung: "Der Ältestenrat hat sich heute auf Antrag der Fraktion der AfD mit der Entscheidung des Sitzungsvorstands in der gestrigen Sitzung befasst, keinen Hammelsprung durchzuführen." Und weiter: "Das Präsidium des Bundestages ist einhellig der Auffassung, dass der Sitzungsvorstand die Vorschriften der Geschäftsordnung über die Feststellung der Beschlussfähigkeit korrekt angewendet hat", erklärte Schäuble.
Änderungsbedarf in der GO-BT?
Wie ein Autorenbeitrag der dpa beschreibt, sollen die AfD-Politiker am Mittwoch in Berlin auf die Fragen von Journalisten mit Unverständnis reagiert haben, was ihr "Budenzauber" mit dem Gang nach Karlsruhe eigentlich solle - und ob es nicht auch eine Nummer kleiner gehe. "Warum soll es eine Nummer kleiner gehen?", soll Brandner zurückgefragt haben. Gegenüber LTO bekräftigte er, dass schließlich ein "eklatanter Verstoß" gegen die GO-BT und auch gegen das Grundgesetz vorliege.
Laut dpa-Bericht hätte die AfD hätte auch ganz anders vorgehen können, was sie aber offenbar nicht beabsichtigte. So hätte sie etwa sofort eine namentliche Abstimmung erzwingen können, erläuterte der FDP-Politiker Buschmann gegenüber der dpa. "Das hätte klar dokumentiert, welche Abgeordneten teilnehmen." Es hätte dann auch gezeigt werden können, dass Brandner und Baumann zu der nächtlichen Stunde selbst gar nicht mehr im Plenarsaal saßen, wie sie am Mittwoch auf Nachfrage einräumten. Insgesamt seien noch etwa 12 der insgesamt 91 AfD-Abgeordneten da gewesen, schreibt die dpa.
Das BVerfG hat sich 2009 in einem Verfahren zum Einsatz von Wahlgeräten auch knapp zu der Geschäftsordnungsvorschrift des § 45 Abs. 2 geäußert. "Der Bundestag gilt ohne Rücksicht auf die Zahl seiner anwesenden Mitglieder so lange als beschlussfähig, als nicht seine Beschlussunfähigkeit in dem in § 45 Abs. 2 GO-BT vorgeschriebenen Verfahren festgestellt wird. Diese Regelung begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken."
Damit bekräftigt das BVerfG nochmal die Vermutung zugunsten der Beschlussfähigkeit des Bundestags, diese kann erst aktiv und durch die Mitwirkung des Sitzungsvorstands aufgehoben werden. Bezogen auf den Vorfall am 28. Juni stellt sich die Frage, ob der Vorstand das "Hammelsprung"-Verfahren verweigern durfte, obwohl er beim Blick in das Plenum davon ausgehen musste, dass dort offensichtlich zu wenige Abgeordnete für die Beschlussfähigkeit anwesend waren.
Roni Deger, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Leibnitz Universität Hannover, bescheinigt in einem Beitrag auf verfassungsblog.de dem verfassungsgerichtlichen Vorgehen der AfD-Fraktion wenig Aussichten auf Erfolg, bereits an der Antragsbefugnis gebe es erhebliche Zweifel. Möglicherweise hat die AfD mit ihrem Vorgehen aber die Aufmerksamkeit auf den § 45 Abs. 2 GO-BT gelenkt. Ob der geändert werden sollte – und wenn ja, in welche Richtung – das haben letztlich wieder die Mitglieder des Bundestages in ihrer Hand.
AfD-Bundestagsfraktion zieht vors BVerfG: . In: Legal Tribune Online, 15.08.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/37045 (abgerufen am: 10.12.2024 )
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