Noch diese Woche könnte der Bundestag neue Regeln zur Insolvenzantragspflicht verabschieden. Werden die Ausnahmen zum Regelfall? Und schafft das Gesetz Verlockungen für Zombie-Gesellschaften? Volker Römermann hat den Entwurf durchleuchtet.
Das Bundeskabinett hat am Montag einen Gesetzentwurf zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht beschlossen. In dem Paket stecken Hilfen für Mieter, für Verbraucher und Kleinunternehmer und Änderung im Insolvenzrecht. Mit seinem Art. 1 sieht der Entwurf ein neues Gesetz zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht und zur Begrenzung der Organhaftung bei einer durch die COVID-19-Pandemie bedingten Insolvenz (COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz – COVInsAG) vor. Dieser Gesetzentwurf, der aller Voraussicht nach noch in dieser Woche verabschiedet und verkündet werden soll, zieht für die Insolvenzpraxis weitreichende Folgen nach sich. Das Gesetz soll plangemäß rückwirkend zum 1. März 2020 in Kraft und am 1. April 2021 wieder außer Kraft treten.
Vermutung der Insolvenzursache Covid-19
Die Insolvenzantragspflicht nach § 15a Insolvenzordnung (InsO) wird zunächst bis zum 30. September 2020 ausgesetzt. Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) erhält durch die Neuregelung die Möglichkeit, diese Aussetzung durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates bis höchstens 31. März 2021 zu verlängern. Die Voraussetzungen für die Verlängerung (fortbestehende Nachfrage nach verfügbaren öffentlichen Hilfen, andauernde Finanzierungsschwierigkeiten oder sonstige Umstände) sind so vage, dass das Ministerium über die Anwendbarkeit des Sondergesetzes für das halbe Jahr nach dem 1. Oktober 2020 praktisch frei entscheiden kann. Wie immer, gewinnt die Exekutive in Zeiten der Staatsnot gegenüber der Legislative an Macht.
Grundsatz ist die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht. Die Ausnahme – es bleibt bei den bekannten Insolvenzantragspflichten und der Drei-Wochen-Frist – findet Anwendung, wenn die Insolvenzreife nicht auf den Folgen der Covid-19-Pandemie beruht oder wenn keine Aussichten darauf bestehen, eine bestehende Zahlungsunfähigkeit zu beseitigen. Worauf eine Unternehmenskrise zurückgeht, ist in der Praxis oft nicht ohne weiteres feststellbar. Das Gesetz soll hier mit einer Vermutung helfen: War der Schuldner am 31. Dezember 2019 nicht zahlungsunfähig, so wird vermutet, dass die Insolvenzreife auf den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie beruht und Aussichten darauf bestehen, eine bestehende Zahlungsunfähigkeit zu beseitigen.
Stichtag zu früh angesetzt?
Der Stichtag ist mit dem 31. Dezember 2019 früh gewählt, um alle Fälle zu erfassen, die irgendetwas mit der Pandemie zu tun haben könnten. Dabei wird offenbar bewusst in Kauf genommen, dass es in Deutschland wirtschaftliche Auswirkungen von Covid-19 im Grunde erst ab Februar 2020 gab. Auffällig ist außerdem, dass lediglich die Zahlungsunfähigkeit zu dem genannten Stichtag eine Rolle spielen soll. Das bedeutet: Ist vor dem 31. Dezember 2019 die Insolvenzreife wegen Überschuldung eingetreten, so bleibt es bei der gesetzlichen Vermutung, die Ursache in der Pandemie zu sehen – die aber doch erst zu Jahresbeginn 2020 in Deutschland aufgetreten ist.
Vermutungen leben davon, widerlegt werden zu können. Die Hürden dafür sollen indes bei der Vermutung in § 1 des Entwurfs zum neuen COVInsAG besonders hoch angelegt sein. Zwar ist im Wortlaut der Norm nur von einer Vermutung die Rede, aber die Begründung zum Gesetzentwurf schlägt scharfe Töne an: "Es sind insoweit höchste Anforderungen zu stellen."
Auf die Zukunftsperspektive kommt es an
Außerdem greift die allgemeine Beweislast, das heißt der Insolvenzverwalter muss beweisen, dass die Voraussetzungen für den Anspruch aus Verstößen gegen die Insolvenzantragspflicht vorliegen. Dieser Nachweis soll nach der Entwurfsbegründung nur gelingen, wenn "kein Zweifel … bestehen kann". Zweifel sind jeder Rechtsanwendung immanent und so scheinen die Entwurfsverfasser an eine schier unwiderlegbare Fiktion gedacht zu haben, um am Ende aber doch mit der Vokabel "Vermutung" zu operieren. Abzuwarten bleibt, ob die Rechtsprechung dem etwas offeneren Wortlaut der Norm oder der Strenge des Verfasserwillens Folge leisten wird.
Die zweite Begrenzung der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht betrifft die Zukunftsperspektive. Von der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht profitiert nicht, wer "keine Aussichten" darauf hat, eine bestehende Zahlungsunfähigkeit zu beseitigen. Die Kombination mit der gesetzlichen Vermutung führt zunächst wieder zu unerwarteten Ergebnissen: War der Schuldner zum 31. Dezember 2019 nicht zahlungsunfähig, so "bestehen" nach dem Gesetzeswortlaut Aussichten auf Sanierung. Das "Bestehen" ist wiederum zeitlich nicht weiter eingegrenzt und so muss man daraus wohl ableiten: Auch noch im September 2020 oder – nach Verlängerung – gar im März 2021 werden Aussichten anzunehmen sein, wenn und weil die Zahlungsfähigkeit im Dezember 2019 noch gewahrt war. Das ist nicht unbedingt logisch, liegt aber auf der Linie des Gesetzentwurfs.
Großzügigkeit bei den Aussichten auf Zahlungsfähigkeit
Die "Aussichten" auf Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit sind nicht zu verwechseln mit der positiven Fortführungsprognose, wie sie bisher aus dem Themenfeld der Überschuldung (§ 19 Abs. 2 InsO) bekannt ist. Die Zahlungsfähigkeit basiert auf einer zeitpunktbezogenen Betrachtung, nicht auf längeren Zeiträumen. Sie hat auch nichts mit der Ertragskraft zu tun. Da die Vermutung des Gesetzes nur dann widerlegt ist, wenn "keine Aussichten" auf Sanierung zu sehen sind, brauchen keine großen Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen angestellt zu werden. "Keine" Aussichten liegen nur vor, wenn die Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit praktisch ausgeschlossen ist. Diese großzügige Regelung ist vernünftig, weiß doch in vielen Branchen niemand, ob und wann sich die Lage bessert. Pandemien sind keine Wegweiser für seriöse Vorhersagen.
Wann die wirtschaftliche Situation verbessert sein soll, lässt der Entwurf offen. Damit kommt im Grunde jeder Zeitpunkt in Betracht, zu dem nicht eine später wiedereinsetzende Insolvenzantragspflicht das Ende erzwingt – das bedeutet: Die Möglichkeit der Wiederherstellung einer Zahlungsfähigkeit bis zum 30. September 2020 respektive 31. März 2021 reicht, um die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht zu bestätigen.
In § 2 des Entwurfs zum COVInsAG finden sich Regelungen, die an die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht anknüpfen. Zum einen wird die Haftungsgefahr der Geschäftsführer aus § 64 GmbHG reduziert. Zum anderen werden Anfechtungsrisiken gedämpft, die aus geschäftlichen Beziehungen zu Unternehmen in der Krise typischerweise resultieren. Auch wenn die Vorschrift auf der Insolvenzantragspflicht aufsetzt, sollen die wesentlichen Regelungen gleichermaßen für Unternehmen Anwendung finden, die gar keiner Insolvenzantragspflicht unterliegen.
Vorfahrt für frisches Geld
Frisches Geld genießt in der Krise außergewöhnliche Privilegien, auch wenn es von den Gesellschaftern selbst kommt. Eine Rückgewähr von Darlehen bis zum 30. September 2023 soll nicht gläubigerbenachteiligend sein, wird von Anfechtung also freigestellt. Auch das Prädikat "sittenwidrig" wird durch eine spezielle Vorschrift ausgeschlossen, soweit es um neue Kredite und Sicherheiten geht. Dadurch wollen die Entwurfsverfasser der Anwendung einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1995 (Urteil vom 16. März 1995 – IX ZR 72/94) vorbeugen, wonach aus einer Sittenwidrigkeit der Gewährung von Sicherheiten Haftungsansprüche anderer Gläubiger abzuleiten sein könnten.
In einem Katalog werden durch § 2 im Entwurf des COVInsAG dann noch eine Reihe weiterer Rechtshandlungen, die Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht haben, unanfechtbar gestellt. Dieser Anfechtungsschutz gilt etwa für Vertragspartner von Dauerschuldverhältnissen wie Vermieter sowie Leasinggeber, aber auch Lieferanten. Sie sollen davon abgehalten werden, die Vertragsbeziehung auf dem schnellsten Wege zu beenden.
Für Gläubiger-Insolvenzanträge ordnet § 3 des COVInsAG-Entwurfs eine Art Quarantäne an: Wird in den drei Monaten ab Verkündung des Gesetzes ein solcher Antrag gestellt, so kann ein Insolvenzverfahren daraufhin nur eröffnet werden, wenn der Eröffnungsgrund bereits am 1. März 2020 vorlag. Hierdurch soll die Möglichkeit einer Sanierung durch Hilfs- und Stabilisierungsmaßnahmen eröffnet werden.
Zombie-Gesellschaften als Gefahr?
Die insolvenzrechtliche Praxis muss sich binnen weniger Tage auf veränderte Rahmenbedingungen einstellen. Zwar betrifft das Sondergesetz "nur" Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, das wird aber im Alltag der nächsten Monate oder gar Jahre die wesentliche Rolle spielen. Was als Ausnahmeregelung erscheinen mag und daher nicht in der Insolvenzordnung verankert, sondern in einem auf ein Jahr angelegten Spezialgesetz niedergelegt wird, wird aller Voraussicht nach zum Regelfall. Dazu tragen auch die Vermutungen bei, die zur Erleichterung für die betroffenen Schuldner und ihre Vertragspartner gesetzlich festgeschrieben werden und die nach dem Willen der Entwurfsverfasser kaum zu widerlegen sind.
Das alles liest sich in der Tendenz erfreulich und folgt einer wohlmeinenden gesetzgeberischen Logik. Nicht zum Insolvenzantrag verpflichtet zu sein, bedeutet indes nicht zwangsläufig, dass der Insolvenzantrag eine schlechte Wahl wäre. Wem nützt es, wenn in den kommenden Monaten Zombie-Gesellschaften, längst zahlungsunfähig, bei jeder Bestellung hart am Rande des Eingehungsbetruges, bei jedem Monatswechsel in der Gefahr der Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen der Arbeitnehmer, immer auf den staatlichen Hilfstopf hoffend, der womöglich dann viel zu spät und viel zu knapp ausgeschüttet wird – wenn Unternehmen also zum Fortbestand verleitet werden, die bei nüchterner Betrachtung keine Chance mehr haben? Wenn Arbeitnehmer nicht im sicheren Hafen des Insolvenzgeldzeitraumes und unter der ordnenden Hand erfahrener Krisenmanager den Monat Juni erreichen, sondern Woche für Woche um Lohn und Brot bangen?
Die Verschiebung der Insolvenzantragspflicht ist eine Chance für Unternehmen, die Krise durchzustehen, indem manche Last von ihren Schultern genommen wird. Sie ist aber auch eine Verlockung für andere, das Sterben auf Kosten ihrer Gläubiger und zum Schaden Dritter zu verlängern. Mehr denn je wird in naher Zukunft die kritische Selbstanalyse geboten sein, wie lange der Atem des Unternehmens reicht. In Zeiten der Pandemie den kühlen Kopf zu bewahren, um Fakten schonungslos, aber nicht von Depression gedrückt, mit unternehmerischer Vorsicht, aber auch Zuversicht festzuhalten, Chancen und Risiken angemessen abzuwägen und daraus die richtigen Entscheidungen abzuleiten: Das wird die hohe Kunst guten Managements ausmachen. Das geplante COVInsAG gibt hierfür ein Instrument, mit dem nicht leichtfertig umgegangen werden darf.
Kabinett beschließt COVInsAG-Entwurf: . In: Legal Tribune Online, 24.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41043 (abgerufen am: 09.11.2024 )
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