Nach den BVerfG-Beschlüssen zur Bundesnotbremse: Was folgt aus dem neuen Bil­dungs­grund­recht?

Gastbeitrag von Prof. Dr. Sebastian Piecha

01.12.2021

Das BVerfG erklärt Schulschließungen und Distanzunterricht unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig – und entwickelt en passant ein "Recht auf schulische Bildung". Sebastian Piecha erläutert Dimensionen und Grenzen dieses Rechts.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat im Rahmen seiner Entscheidungen zur sog. "Bundesnotbremse" auch die in § 28b Abs. 3 Infektionsschutzgesetz (IfSG) a.F. vorgesehenen Schulschließungen und Verlagerung des Unterrichts in das Format des Wechsel- und Distanzlernens im Ergebnis für verfassungsgemäß erachtet (Beschl. v. 19.11.2021, Az. 1 BvR 971/21, 1 BvR 1069/21). 

Solche Anordnungen stellen zwar einen Grundrechtseingriff dar, sind jedoch laut BVerfG gerechtfertigt. Dabei präzisiert das Gericht auch, welches Grundrecht in Bezug auf den Schulbesuch hier überhaupt betroffen sein soll: Es ist die Geburtsstunde des "Rechts auf schulische Bildung". Das BVerfG kreiert damit ein neues Grundrecht auf Bundesebene: Die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) wird vom Gericht in Verbindung mit der bislang primär als nicht als individuellem Grundrecht verstandenen Art. 7 GG zum "Recht auf schulische Bildung" fortgebildet.  

In diversen Landesverfassungen bereits verankert   

Allerdings ist ein solches Recht keineswegs ein gänzliches Novum: Mit Ausnahme Hamburgs, wo ein Recht auf Bildung bzw. Schule lediglich einfachgesetzlich garantiert wird, besteht ein solches (oder ähnliches) Recht auf Verfassungsebene indes in verschiedengestaltigen Ausführungen bereits in jedem Bundesland (vgl. etwa Art. 8 LV NRW, Art. 11 BW-V oder Art. 128 BayV).  

Die Findung neuer Grundrechte durch das BVerfG ist unterdessen nichts Neues: So hat das Gericht bereits das Allgemeine Persönlichkeitsrecht in seinen vielgestaltigen Ausprägungen aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG exzerpiert, genauso wie das als "Datenschutz-Grundrecht" bezeichnete Recht auf informationelle Selbstbestimmung und das Recht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (auch: "IT-Grundrecht") als Teile des vorgenannten Rechts. 

Die Karlsruher Richterinnen und Richter stellen in ihrem Beschluss zur Bundesnotbremse nunmehr klar, dass dieses neue Recht drei verschiedene Dimensionen beinhaltet: Es enthält eine Schutzpflicht des Staates, ein Leistungs- und Teilhaberecht zur diskriminierungsfreien Teilnahme am Schulunterricht sowie ein Abwehrrecht des Einzelnen gegen den Schulbetrieb einschränkende Maßnahmen. Kinder und Jugendliche haben danach ein Recht auf Unterstützung und Förderung bei ihrer Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft.  

Staatliche Schutzpflicht für das Schulsystem 

Das BVerfG grenzt das Bildungsrecht zu der den Eltern obliegenden Erziehungspflicht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 GG ab und statuiert in Ergänzung hierzu die Schutzpflicht des Staates gegenüber den Kindern und zwar für die Fälle, in denen dies für ihre Persönlichkeitsentwicklung bedeutsam sei.  

Schließlich steckt das Gericht auch die Konturen zur Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG insoweit ab, als dass es hier nicht um die berufsbezogene Ausbildung, sondern um die Schulbildung als Ganze gehe - also eben nicht nur um rein schulische Inhalte, sondern um weitere, persönlichkeitsbildende Faktoren: Schule beinhalte wesentlich mehr für die Persönlichkeitsbildung von Kindern und Jugendlichen und ergänze so den Erziehungsauftrag der Eltern. Insoweit ist die Rechtsfortbildung durch das BVerfG durchaus nachvollziehbar.  

Anspruch auf chancengleichen Zugang zu Bildung 

In Bezug auf die Gewährleistungsdimension schließt das BVerfG eine bestimmte Gestaltung von Schule aus, folgert einen grundrechtlich geschützten Anspruch von Schülerinnen und Schülern auf Einhaltung eines unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten an staatlichen Schulen für eine chancengleiche Entwicklung, die auch ein Teilhaberecht konstatiert.  

Dabei bleiben Zugangsvoraussetzungen für Bildungsgänge dem Grunde nach erlaubt, solange sie nicht willkürlich oder diskriminierend seien. Die Abgrenzung zu Art. 3 GG erschließt sich nicht von vornherein und könnte weiterhin zu einer Verschiebung der Diskussion um gleichberechtigte Teilhabe zugunsten des neugeschaffenen Grundrechts bedeuten. 

Die abwehrrechtliche Dimension des Rechts auf schulische Bildung lässt sich indes so konstruieren: Schülerinnen und Schüler üben durch den Schulbesuch ihr Recht aus, ihre Persönlichkeit frei zu entfalten. Besonders ist, dass dieses Grundrecht, eine grundgesetzliche Ausnahme, praktisch ausschließlich für Kinder und Jugendliche konstituiert wird. Das ist denknotwendigerweise auch nur konsequent. Erfasst wird der Besuch sowohl staatlicher wie privater Schulen.  

Unverzichtbarer Mindeststandard des Schulsystems 

Gewährleistet wird durch dieses Recht ausschließlich ein unverzichtbarer Mindeststandard des (staatlich gewährleisteten) Schulsystems, wobei Beeinträchtigungen in diesem Rahmen nur "von außen" möglich sein sollen. Die Subjektivierung eines nach Art. 7 GG an sich nur objektivrechtlichen Charakters von Bildungsrechten auf Bundesebene überrascht, ist angesichts solcher Gewährleistungen in den Landesverfassungen (etwa Art. 8 Abs. 1 Satz 1 LV NRW) jedoch – wie bereits angesprochen – nichts gänzlich Neues. Über die Abgrenzung ihrer Schutzgehalte wird freilich noch zu diskutieren sein. 

Schulschließungen waren unter den zum Erlasszeitpunkt der Bundesnotbremse bekannten Erkenntnissen unter bestimmten Voraussetzungen, insbesondere bei Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips indes möglich: Dass der damit verbundene Übergang zum Wechsel- bzw. Distanzunterricht in die abwehrrechtliche Komponente des Rechts auf schulische Bildung eingreifen, ist nach der vorgenannten Konturierung dieses Rechts durch das BVerfG nachvollziehbar: Es stellt einen Eingriff dar, denn "von außen" wurde zu außerschulischen Zwecken (Pandemiebekämpfung) das Schulsystem als Präsenzunterrichtssystem zu einem Distanzlernsystem umorganisiert.  

Neues Grundrecht nicht schrankenlos  

Dieses neue Recht auf schulische Bildung besteht gleichwohl nicht schrankenlos, wenngleich das BVerfG die dogmatische Herleitung eher selbstverständlich voraussetzt, als dass es sie ausdrücklich entwickelt: Das Gericht scheint davon auszugehen, dass, wie schon beim Allgemeinen Persönlichkeitsrecht und seinen Fortentwicklungen folgerichtig die sog. "Schrankentrias" aus Art. 2 Abs. 1 GG Anwendung findet. Stark verkürzt bedeutet dies im Ergebnis einen einfachen Gesetzesvorbehalt. Dies ist jedoch konsequent, denn das Recht entspringt aus der Kombination mit Art. 7 GG, der ob seiner eher objektivrechtlichen Gewährleistungen eine klassische Vorbehaltsregelung eben nicht enthält.  

Den allgemeinen Grundrechtslehren folgend dürfen auch solche Grundrechte nicht uneingeschränkt durch die staatliche Gewalt negiert werden. Damit ist insbesondere die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gemeint. Das legitime Ziel, die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems zu gewährleisten, ergebe sich bereits aus der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und wurde durch die schuleinschränkenden Maßnahmen auch zumindest geeignet, zum Schutz von Leib und Leben sowie der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems beizutragen. 

BVerfG: "Gesetzgeber nicht übers Ziel hinausgeschossen" 

Das Gericht stellt zudem fest, dass die Aufrechterhaltung des Präsenzunterrichts bei regelmäßiger Testung auf das Coronavirus zwar einen weniger intensiven Eingriff darstellt, dieser jedoch nicht genauso effektiv, mithin erforderlich ist. Dem Gesetzgeber stehe hier ein breiter Einschätzungsspielraum zu, der durch die Ausgestaltung der Bundesnotbremse in § 28b Abs. 3 IfSG a.F. nicht überschritten wurde.  

Schließlich seien die Maßnahmen auch angemessen. Zwar gibt das BVerfG zu, dass die (kumulativ hohe Anzahl der) Schulschließungen eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Rechts auf schulische Bildung darstellten, insbesondere da die Persönlichkeitsentwicklung im Distanzunterricht, insbesondere wenn dieser nicht aus digitalen Kontaktangeboten, sondern nur in der Bereitstellung von Materialien bestehe, nicht in demselben Maße erfolgen könne wie im direkten Austausch. Der Gesetzgeber sei aber, gemessen am verfolgten Ziel, nicht über das Ziel hinausgeschossen: In Anbetracht der damals vorhandenen Dynamik des Infektionsgeschehens und ihrer differenzierten Ausgestaltung, der Möglichkeit der Inanspruchnahme von Notbetreuungsangeboten, der Ausnahmemöglichkeiten für Abschlussklassen sowie Förderschulen wurde von den Ländern ein Mindeststandard noch gewährleistet.  

Auch sei dem Staat nicht vorzuwerfen, rechtzeitig nicht hinreichende Vorkehrungen zu treffen, wenn eine so dynamische Entwicklung vorliegt. Versäumnisse seien dem Staat daher nicht vorzuwerfen. Die kurze Befristung dieser Maßnahme führe schließlich dazu, dass in Gesamtbetrachtung die Anordnung von Schulschließungen als angemessen anzusehen seien. 

Folgen für die aktuelle Pandemiebekämpfung 

Was kann nunmehr gut ein Jahr später nach Einführung und Außerkrafttreten der Bundesnotbremse für die derzeitige Situation in Bezug auf die Möglichkeit von Schulschließungen geschlussfolgert werden? Die vom BVerfG zugrunde gelegten Fakten scheinen in dieser vierten Welle erschreckend ähnlich, wenngleich nicht identisch: Nach wie vor liegen erschreckend dynamische Entwicklung der Infektionszahlen und Hospitalisierungen (trotz einer zwar nicht ausreichenden, aber immerhin vergleichsweise hohen Impfquote) vor.  

Setzt man eine streng befristete Maßnahme unter Berücksichtigung verhältnismäßigkeitswahrender Leitplanken um (etwa durch echten Digitalunterricht statt bloßer Bereitstellung von Materialien, gleiche Teilhabe hieran auch für sozial Schwächere, besondere Regelungen für Abschluss- und Förderklassen usw.), könnten auch Schulschließung für die vierte Welle noch einen verhältnismäßigen und damit gerechtfertigten Eingriff in das neue Recht auf schulische Bildung aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 7 GG darstellen. 

Prof. Dr. Sebastian Piecha lehrt Staats- und Europarecht sowie Allgemeines Verwaltungsrecht an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen (HSPV NRW). Er befasst sich darüber hinaus auch mit Fragen des Kommunalrechts. 

Zitiervorschlag

Nach den BVerfG-Beschlüssen zur Bundesnotbremse: . In: Legal Tribune Online, 01.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46812 (abgerufen am: 10.12.2024 )

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