Firmen aus anderen EU-Mitgliedstaaten dürfen nicht blind darauf vertrauen, dass ihre jahrelang in Deutschland tätigen Mitarbeiter nach heimischem Sozialrecht versichert bleiben. Michaela Felisiak zum aktuellen BSG-Urteil.
Der Abschluss einer Ausnahmevereinbarung, durch welche die sozialrechtlichen Bestimmungen am Sitz des Unternehmens in einem europäischen Mitgliedstaat auch dann für dessen Beschäftigte gelten, die über Jahre hinweg in Deutschland tätig sind, bleibt eine Ermessensentscheidung der zuständigen Sozialversicherungsträger. Das Bundessozialgericht (BSG) entschied am Mittwoch, dass Arbeitgeber aus der Europäischen Union (EU) keinen einklagbaren Anspruch auf den Abschluss einer solchen Ausnahmevereinbarung haben (Urt. v. 16.08.2017, Az. B 12 KR 19/16 R). Vertrauen Arbeitgeber aus dem EU-Ausland dennoch auf deren Abschluss, riskieren sie, Sozialversicherungsbeiträge am Ende doppelt zu zahlen.
Der grenzüberschreitende Einsatz von Arbeitnehmern wirft zahlreiche Fragen auf. Unter anderem stellt sich für Arbeitgeber die Frage, ob sich etwas an der Sozialversicherungspflicht ihrer Mitarbeiter ändert, wenn diese zeitweise in anderen Mitgliedstaaten eingesetzt werden.
Innerhalb der EU gilt aufgrund europäischer Verordnungen der Grundsatz, dass Arbeitnehmer nur den Regelungen eines Mitgliedstaates unterliegen - und zwar den Regelungen des Landes, in dem sie die Beschäftigung ausüben. Damit entscheidet das Beschäftigungsland über die anwendbaren sozialversicherungsrechtlichen Regelungen.
Dies führt konsequenterweise dazu, dass jede grenzüberschreitende Tätigkeit einen Wechsel des Arbeitnehmers in das jeweilige Sozialversicherungssystem des Einsatzlandes mit sich bringt. Diese Rechtsfolge widerspräche der Freizügigkeit der Arbeitnehmer sowie den Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Daher sehen die europäischen Verordnungen Ausnahmen von diesem Grundsatz vor.
Ausnahmevereinbarung bei längerfristigem Auslandseinsatz
Die wichtigste Ausnahme ist die Entsendung. Handelt es sich um eine solche, unterliegen grenzüberschreitend tätige Arbeitnehmer weiterhin den Rechtsvorschriften des Heimatstaats. Eine Entsendung liegt vor, wenn sich ein im Inland beschäftigter Arbeitnehmer auf Weisung seines Arbeitgebers in einen anderen Staat der EU begibt, um dort für diesen zeitweise eine Beschäftigung auszuüben. Wichtig ist dabei, dass die voraussichtliche Dauer der Entsendung nicht mehr als 24 Monate betragen darf.
Ist von Anfang an absehbar, dass die maximale Entsendungsdauer überschritten wird, liegt von vornherein keine Entsendung vor. In diesem Fall bleibt dann die Möglichkeit, den Abschluss einer Ausnahmevereinbarung gemäß Art. 16 der Verordnung zur Koordinierung der System der sozialen Sicherheit (Verordnung (EG) 883/2004) zu beantragen. Eine abgeschlossene Ausnahmevereinbarung ist – neben der Entsendung – eine weitere Ausnahme von dem oben genannten Grundsatz.
Bei der Ausnahmevereinbarung handelt es sich um einen Vertrag, der zwischen den jeweiligen Sozialversicherungsträgern der beteiligten Mitgliedstaaten geschlossen wird und dazu führt, dass auch bei längeren Tätigkeiten im Ausland die Sozialversicherungspflicht des Heimatstaats fortbesteht.
Als Vertrag ist für den Abschluss der Ausnahmevereinbarung die Zustimmung beider Sozialversicherungsträger der beteiligten Mitgliedstaaten erforderlich. Ob die Sozialversicherungsträger ihre Zustimmung erteilen, steht dabei in deren jeweiligen Ermessen.
2/2: Kein einklagbarer Anspruch auf Abschluss einer Ausnahmevereinbarung
Daran hält nun auch das BSG fest. Die Kasseler Richter entschieden, dass Unternehmen aus der EU keinen Anspruch auf den Abschluss einer solchen Ausnahmevereinbarung haben.
Umstritten war die Frage, inwieweit sich der Ermessensspielraum der Sozialversicherungsträger durch das Interesse des ausländischen Unternehmens an der Fortgeltung der sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen seines Heimatlands auf Null reduziert. Nach Ansicht des BSG rechtfertigt weder der Wettbewerbsvorteil von niedrigeren Sozialabgaben gegenüber den im Einsatzland ansässigen Unternehmen noch die Bearbeitungsdauer über die beantragte Ausnahmevereinbarung (im zu entscheidenden Fall zwei Jahre) oder das Vertrauen auf eine nachträgliche Befreiung von der deutschen Sozialversicherungspflicht eine Ermessensreduzierung auf Null. Damit bleibt es bei dem weiten Ermessensspielraum der Sozialversicherungsträger.
In dem entschiedenen Fall war ein polnisches Unternehmen jahrelang in Deutschland tätig und setzte in dieser Zeit seine Mitarbeiter in Deutschland ein. Da von Anfang an absehbar war, dass die Tätigkeiten des polnischen Unternehmens in Deutschland die maximal zulässige Entsendungsdauer überschreiten würden, lag keine Entsendung vor.
Um nicht der deutschen Sozialversicherungspflicht zu unterfallen, beantragte das polnische Unternehmen rückwirkend bei dem polnischen Sozialversicherungsträger (ZUS) den Abschluss einer Ausnahmevereinbarung zwischen der ZUS und dem deutschen Sozialversicherungsträger, der deutschen Verbindungsstelle Krankenkasse – Ausland (DVKA). In der Zwischenzeit vertraute es darauf, dass die polnischen Sozialversicherungsvorschriften auch während der Tätigkeit in Deutschland fortgelten und führte die Sozialversicherungsbeiträge weiter in Polen ab.
2007 lehnte die DVKA den Abschluss der Ausnahmevereinbarung gegenüber der ZUS unter Hinweis darauf ab, dass die Arbeitnehmer für die Dauer der Tätigkeit in Deutschland den deutschen Sozialversicherungsvorschriften unterliegen und entsprechend in Deutschland beitragspflichtig sind. Hiergegen erhob das polnische Unternehmen Klage, letztlich ohne Erfolg.
Hatten die Vorinstanzen die Klage sowohl aufgrund einer fehlenden Klagebefugnis als auch aufgrund einer fehlenden materiellen Anspruchsgrundlage zurückgewiesen, gesteht das BSG dem klagenden Unternehmen mit seiner Entscheidung zu, dass die Ablehnung der DVKA aus Gründen des verfassungsrechtlichen Gebots des effektiven Rechtsschutzes gerichtlich überprüfbar sein muss. Das ändert im Ergebnis aber nichts: Denn auch nach Ansicht des BSG besteht kein Anspruch des polnischen Arbeitgebers gegen die DVKA auf Erteilung der Zustimmung zum Abschluss der Ausnahmevereinbarung.
Konsequenzen für die Praxis
Das Urteil ist in zweifacher Hinsicht interessant: Zum einen in Bezug auf die Rechtsschutzmöglichkeiten und zum anderen in Bezug auf den Ermessensspielraum der Sozialversicherungsträger.
Voraussetzung für den vom Grundgesetz geschützten effektiven Rechtsschutz ist die Verletzung eigener subjektiver Rechte. Das Landessozialgericht (LSG) hatte die Klage bereits an dieser Voraussetzung scheitern lassen. Begründet wurde die fehlende Klagebefugnis damit, dass die ablehnende Zustimmung der DVKA kein Verwaltungsakt gegenüber dem polnischen Unternehmen sei und die Ablehnung keine unmittelbare Rechtswirkung nach außen habe. Zudem hat das polnische Unternehmen nach Ansicht des LSG gegen die DVKA kein eigenes subjektiv-öffentliches Recht auf Erteilung der Zustimmung zur beantragten Ausnahmevereinbarung, welches verletzt werden könnte. Dies sieht das BSG nun wohl anders und betont in seiner Mitteilung, dass die Ablehnungsentscheidung gerichtlich überprüfbar sein muss. Wie das BSG diese abweichende Auffassung begründet, wird der noch ausstehenden Urteilsbegründung zu entnehmen sein.
Materiell-rechtlich zeigt die aktuelle Entscheidung des BSG, dass wirtschaftliche Aspekte nicht zu einer Ermessensreduzierung auf Null führen. Für die Praxis heißt das, dass die Anwendbarkeit der sozialversicherungsrechtlichen Regelungen des Heimatlands bei längeren Auslandseinsätzen von dem Ermessen der Sozialversicherungsträger abhängt. Gleiches gilt, wenn der Arbeitsvertrag im Heimatland ruhend gestellt wurde und für die Auslandstätigkeit ein lokaler Arbeitsvertrag abgeschlossen wurde.
Arbeitgeber sollten sich also frühzeitig mit den Sozialversicherungsträgern in Verbindung setzen und im Vorfeld die Anwendbarkeit der sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen des Heimatlandes klären. Sollten sie ohne Klärung an der Sozialversicherungspflicht des Heimatlands festhalten wollen, gehen sie das Risiko ein, bei einer Ablehnung der Ausnahmevereinbarung doppelte Beiträge zu zahlen. Die Rückabwicklung von bereits gezahlten Sozialversicherungsbeiträgen dürfte sich als schwierig erweisen, nicht zuletzt aufgrund des langen Zeitraums zwischen Zahlung und Rückforderung – im Falle des polnischen Unternehmens mehr als ein Jahrzehnt.
Die Autorin Dr. Michaela Felisiak ist Rechtsanwältin im Münchener Büro von BEITEN BURKHARDT und berät sowohl nationale als auch internationale Unternehmen zu allen Fragen des deutschen und europäischen Arbeitsrechts- und Sozialversicherungsrechts. Ein Schwerpunkt ihrer Tätigkeit liegt auf der Beratung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten und den damit zusammenhängenden Rechtsfragen.
Dr. Michaela Felisiak, BSG zur Sozialversicherungspflicht von EU-Arbeitnehmern: Im Zweifel zahlt der Arbeitgeber doppelt . In: Legal Tribune Online, 17.08.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23993/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
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