Auch wenn eine Frau fürchtet, ihrem künstlich gezeugten Kind eine tödliche Krankheit zu vererben, muss die Krankenkasse die Kosten einer Untersuchung vor der Befruchtung nicht übernehmen, entschied das BSG.
Medizinisch möglich ist heutzutage vieles: So können Eltern, die befürchten, ein krankes oder behindertes Kind zu bekommen, bei künstlicher Befruchtung die entnommenen Eizellen mittels der sog. Polkörperdiagnostik (PKD) genetisch untersuchen lassen.
Anders als die sog. Präimplantationsdiagnostik (PID), die "erst" der Untersuchung des Embryos dient, findet die PKD bereits vor der Verschmelzung von Eizelle und Spermium statt. Diese Maßnahme vor dem Embryonalstadium ist eine der Präfertilisationsdiagnostik.
Sowohl bei der PKD als auch bei der PID handelt es sich um medizinische Verfahren, die individual- und sozialethische Fragen aufwerfen und entsprechend intensiv und kontrovers diskutiert werden. Eine Kontroverse, die sich in unterschiedlichen nationalen Gesetzgebungen niederschlägt und auch die deutschen Sozialgerichte beschäftigt.
Nachdem das Bundessozialgericht bereits im November letzten Jahres (BSG, Urt. v. 18.11.2014, Az. B 1 KR 19/13 R) die Frage verneint hatte, ob die PID zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gehört, mussten die Richter in Kassel am vergangenen Samstag darüber befinden, ob eine in der GKV Versicherte einen Anspruch auf PKD im Rahmen einer künstlichen Befruchtung hat. Auch dies hat das BSG verneint. Diese Entscheidung (v. 12.09.2015, Az. B 1 KR 15/14 R) war vorgezeichnet.
Mutter fürchtete, tödliche Muskelschwäche zu übertragen
Deutlich herausgestellt haben die Richter des 1. Senats des BSG in der mündlichen Verhandlung am vergangenen Samstag, dass die PKD nicht der Krankenbehandlung der Versicherten dient. In der GKV Versicherte haben nach § 27 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) nur dann einen Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn diese notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.
Die PID dient aber nicht der Behandlung einer bei der klagenden Versicherten vorhandenen Krankheit. Zwar leidet sie an einem X-chromosomal-rezessiven Gendefekt, der bei männlichen Nachkommen die Muskeldystrophie vom Typ Duchenne verursacht. Hierbei handelt es sich um eine im Kleinkindalter insbesondere mit einer Schwäche der Becken- und Oberschenkelmuskulatur beginnende Erkrankung, die rasch voranschreitet und später den gesamten Muskelapparat betrifft. Die Erkrankung endet immer - meist schon im jungen Erwachsenenalter - tödlich, sobald die Herz- und Atemmuskulatur abgebaut wird.
Unabhängig davon, ob die Klägerin, die zwar Überträgerin der Krankheit, selbst aber nicht an ihr erkrankt ist, aufgrund ihrer Überträgereigenschaft als krank i.S.d. SGB V anzusehen ist, dient die PKD jedenfalls nicht der Behandlung dieses Gendefekts bei ihr.
Hierum ging es der Klägerin auch nicht: Sie wollte vielmehr vermeiden, dass ihre Kinder an der Duchenne-Muskeldystrophie erkranken. Deshalb hat sie die PKD durchführen lassen, die letztlich auch zu der Geburt eines gesunden Kindes geführt hat.
BSG: PKD ist keine Krankenbehandlung
Insoweit hat der 1. Senat des BSG aber bereits in der Entscheidung vom 18. November 2014 dargelegt, dass die PID der Vermeidung zukünftigen Leidens eines eigenständigen Lebewesens dient, nicht aber der Behandlung einer vorhandenen Krankheit der Eltern, welche die Übernahme der Kosten von ihrem Krankenversicherer begehren. Die PID ist darauf gerichtet, Eizellen zu untersuchen und ggf. absterben zu lassen, wenn sie einen Gendefekt aufweisen, welcher eine schwerwiegende Erkrankung verursacht.
Erst recht muss das gelten, wenn genetische Defekte mittels PKD bereits im vorembryonalen Stadium, also zu einem Zeitpunkt vor dem Abschluss der Entstehung neuen Lebens, ermittelt werden sollen.
Auch die Vorschrift des § 27 Abs. 1 S. 4 SGB V gibt der Patientin nach Ansicht der Kasseler Richter keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten der PKD. Danach zählen zur Krankenbehandlung zwar auch Leistungen zur Herstellung der Zeugungs- und Empfängnisfähigkeit , wenn diese Fähigkeit nicht vorhanden oder durch Krankheit oder wegen einer durch Krankheit erforderlichen Sterilisation verlorengegangen war. Die PKD dient aber nicht der Herstellung der Empfängnisfähigkeit der Klägerin, sondern der Untersuchung der Eizelle.
2/2: PKD ist keine Maßnahme zur künstlichen Befruchtung
Ebenfalls in konsequenter Fortführung der Rechtsprechung vom 18. November 2014 hat das BSG auch einen Anspruch auf die PKD als Maßnahme der künstlichen Befruchtung nach § 27a SGB V verneint.
Zwar bedurfte es in dem am vergangenen Samstag verhandelten Fall unstreitig einer künstlichen Befruchtung, weil der Ehemann der klagenden Versicherten unter einer Fertilitätsstörung leidet. Die Kosten hierfür hat die beklagte Krankenkasse dementsprechend auch vollständig übernommen.
Allerdings ist die PKD ebenso wenig wie die PID - dies hat das BSG bereits in der Entscheidung vom 18. November 2014 dargelegt - eine Maßnahme der künstlichen Befruchtung, weil beide Untersuchungen nicht erforderlich sind, um eine Schwangerschaft herbeizuführen. Sowohl die PKD als auch die PID kann zwar nur im Zusammenhang mit einer künstlichen Befruchtung durchgeführt werden, umgekehrt gilt dies indes nicht: Eine künstliche Befruchtung kann auch ohne PKD oder PID erfolgen.
Rechtsethische Entscheidung des Gesetzgebers
Versicherte haben also weder mittels der PKD im vorembryonalen Stadium noch mittels der PID im embryonalen Stadium die Möglichkeit, zu Lasten der GKV die Eizellen auf genetische Defekte untersuchen zu lassen.
Wird berücksichtigt, dass spätere Abtreibungen gem. § 24b SGB V hingegen grundsätzlich zum Leistungskatalog der GKV gehören, mag das Bauchgefühl "opponieren".
An dieser Stelle wird aber der Boden der Rechtsprechung verlassen. Insoweit hat das BSG bereits in der Entscheidung zur PID aus 2014 dargelegt, dass der Gesetzgeber nicht verpflichtet ist, jede nicht verbotene Form der "medizinisch unterstützten Erzeugung menschlichen Lebens" in den Leistungskatalog der GKV einzubeziehen. Diesen zu bestimmen, ist vielmehr Sache des Gesetzgebers.
Rechtsprechung ist eben nicht Rechtsetzung
Die Entscheidung des BSG führt das Urteil vom 18. November 2014 konsequent fort. Sie kann angesichts der konkreten Frage, ob von den Eltern verlangt werden kann, sehenden Auges das Risiko einzugehen, ein schwer krankes Kind zu gebären, vielleicht als "ungerecht" oder "ethisch schwer vertretbar" empfunden werden.
An diesem Fall zeigen sich aber in besonderer Weise die Grenzen zwischen den Aufgaben des Gesetzgebers und der Rechtsprechung, im Ergebnis also das Funktionieren der Gewaltenteilung.
Das BSG hat durch den Verweis auf die grundsätzliche Freiheit des Gesetzgebers deutlich hervorgehoben, dass dieser hier in der Pflicht ist. Die rechtlichen Grundlagen sehen einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine PKD - ebenso wie für die PID - derzeit nicht vor. Der Bereich der Gesetzesauslegung, welcher den Gerichten obliegt, und in dem die Rechtsprechung gestaltend wirken kann, ist deshalb von vornherein nicht betroffen.
Es geht vielmehr um die Schaffung neuer rechtlicher Ansprüche, die zentrale ethische Fragen betreffen. So muss etwa diskutiert werden, ob mit dem ethischen Empfinden auch eine Vorauswahl der Eizellen im Hinblick auf weniger schwerwiegende Erkrankungen oder gar auf Geschlecht oder Haarfarbe vereinbar wäre. Wo sind hier die Grenzen?
Solche Fragen müssen in einem parlamentarischen Prozess durch den Gesetzgeber - auch unter Beantwortung der Frage nach der hinreichenden medizinischen Qualität der Leistungen - entschieden werden. Ob und welche legislativen Aktivitäten im Hinblick auf die PKD und die PID geplant sind, insbesondere ob sie in den Leistungskatalog der GKV aufgenommen werden, ist derzeit nicht absehbar. Auch in dieser Hinsicht muss der dpolitische Diskursabgewartet werden.
Die Autorin Dr. Britta Wiegand ist Richterin am Sozialgericht in Mainz und derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an den 1. Senat des BSG abgeordnet.
Dr. Britta Wiegand, Untersuchung von Eizellen auf genetische Defekte: Zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung? . In: Legal Tribune Online, 14.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16892/ (abgerufen am: 28.03.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag