Druckversion
Freitag, 23.05.2025, 19:21 Uhr


Legal Tribune Online
Schriftgröße: abc | abc | abc
https://www.lto.de//recht/hintergruende/h/bsg-b13r1914r-ausgleich-nachteil-rente-kindererziehung-geschlechterungleichheit-sozialpolitik
Fenster schließen
Artikel drucken
27693

BSG zum Nachteilsausgleich für Kindererziehungszeiten: Mamma Mia!

Gastkommentar von Prof. Dr. Thorsten Kingreen

23.03.2018

Figuren auf Geld

© Waldbach. - stock.adobe.com

Eltern, die Kinder großziehen, tragen etwas zur Leistungsfähigkeit der Sozialversicherungen bei. Deshalb stehen ihnen aber keine zusätzlichen Rentenpunkte zu, findet das BSG und weist die Klage einer Mutter ab.

Anzeige

Müssen Eltern für die Nachteile, die ihnen in der Rentenversicherung durch Kindererziehungszeiten entstehen, besser als bisher entschädigt werden? Nein, entschied nun der 13. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) auf die Klage einer Mutter, die zusätzliche Entgeltpunkte für ihr Rentenkonto verlangte. Schließlich habe sie mit dem Heranziehen künftiger Beitragszahler auch einen Beitrag für die Versichertengemeinschaft geleistet. Die gegenwärtige Rechtslage reiche aber vollkommen aus, erwidert das BSG (Urt. v. 21.03.2018, Az. B 13 R 19/14 R).

Eltern (überwiegend sind es Mütter) werden für Kinder für den Zeitraum von drei Jahren sog. Kindererziehungszeiten gutgeschrieben; bei vor dem 1. 1. 1992 geborenen Kindern sind es derzeit nur zwei Jahre. Der berechtigte Elternteil wird dadurch so gestellt, als hätte er in diesen zwei bzw. drei Jahren jeweils den Durchschnittsverdienst aller Versicherten (derzeit etwa 36.000 Euro) erzielt und aus diesem Einkommen Beiträge geleistet. Wer dann regulär mit 65 bzw. 67 Jahren in Rente geht, bekommt pro Kind auf der Grundlage des aktuellen Rentenwerts gut 90 Euro Rente monatlich; für vor 1992 geborene Kinder etwa 60. Die Beiträge von derzeit knapp 12 Milliarden Euro jährlich zahlt überwiegend der Bund, allerdings nicht ganz freiwillig. Nachgeholfen hat eine 1992 ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), das den Gesetzgeber verpflichtete, die durch die Kindererziehung bedingten Nachteile bei der Altersversorgung in weiterem Umfang als bisher auszugleichen, auch weil die Kindererziehung bestandssichernde Bedeutung für das System der Altersversorgung habe (1 BvL 51/86 u. a.).

Dieses sog. "Trümmerfrauenurteil" des BVerfG spielte auch im Verfahren beim 13. Senat eine nicht unwesentliche Rolle. Seinerzeit hatte Rosa Rees (Jahrgang 1920) geklagt. Sie hatte in der Nachkriegszeit zehn Kindern das Leben geschenkt und wurde vom zuständigen Rentenversicherungsträger mit einer Rente von monatlich 346,10 Mark abgespeist, während ihre Kinder zur gleichen Zeit Beiträge von ca. 8.000 Mark in das System einspeisten. Die Sozialgerichte hatten daran schon seinerzeit keinen rechtlichen Anstoß genommen, erst das BVerfG hat in verfassungsrechtliche Formen gegossen, was sich in zwei Worten zusammenfassen ließ: eine Schande.

Die Rente zeigt die wahre Geschlechterungleichheit

Nach 25 Jahren Kindererziehungszeiten sind die Zahlen aber immer noch wenig erbaulich. Ausweislich der Statistiken der Rentenversicherungsträger sind die Altersrenten von Frauen derzeit nur etwa halb so hoch wie diejenigen der Männer (566 Euro für Frauen, 1020 Euro für Männer am 31.12.2014). Diese Unterschiede sind das Ergebnis einer Kumulation von Diskriminierungen, denen Frauen über den Längsschnitt ihres regelmäßig durch Kindererziehung unterbrochenen Erwerbslebens ausgesetzt sind; sie fallen wegen des Kumulationseffekts auch noch größer aus als die ohnehin schon erheblichen Entgeltunterschiede: Erst die Rente zeigt den ganzen Umfang der Geschlechterungleichheit. Wer mit Recht die nach wie vor frappierenden Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern kritisiert, muss also erst recht die Unterschiede bei den Renten in den Blick nehmen, zumal diese, anders als die Löhne, unmittelbar durch die staatliche Rechtsetzung bedingt sind.

Man kann die Klägerin im vorliegenden Verfahren also gut verstehen, denn sie hat uns einen der viele Risse vor Augen geführt, die die Gesellschaft derzeit auseinandertreiben. Aber sie hat das Rentenversicherungssystem letztlich am falschen Punkt angegriffen, nämlich im Leistungs- und nicht im Beitragsrecht. Das BVerfG hatte nämlich im Trümmerfrauenurteil auch gesagt, der Gesetzgeber sei nicht verpflichtet, alle Belastungen, die sich aus der Erziehung von Kindern ergeben, auszugleichen. Er habe bei der Erfüllung der aus Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG) folgenden Leistungspflicht einen Gestaltungsspielraum – das ist auch gut so, denn schon so dürfte das Urteil eines der teuersten der Geschichte gewesen sein. Von daher ist gegen die Entscheidung des 13. Senats, isoliert betrachtet, zunächst nichts einzuwenden.

Allerdings hat man es in Karlsruhe in einem weiteren Urteil 2001 als Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz angesehen, dass Versicherte mit Kindern in der Pflegeversicherung den gleichen Beitragssatz zahlen wie Versicherte ohne Kinder (1 BvR 1629/94). Die Klägerin hatte sich offenbar auch auf dieses Urteil berufen, aber es passt hier nicht. Der Ausgleich für die Leistungen der Kindererziehung muss nämlich, so lautet die Kernaussage der Entscheidung, auf der Beitragsseite unter den Versicherten erfolgen und nicht in Form von Kinderfreibeträgen durch den Steuerzahler. Das BVerfG argumentiert hier also anders als die Kläger nicht leistungs-, sondern gleichheitsrechtlich. Seither zahlen Versicherte ohne Kinder in der Pflegeversicherung einen (geringfügig höheren) Beitragssatz als diejenigen mit Kindern. Den Steuerzahler kostet dies keinen Cent.

Das BSG argumentiert zynisch

Das BVerfG hat die Entscheidung von 2001 auch mit dem Auftrag an den Gesetzgeber versehen, dass die Übertragbarkeit des Urteils auf andere Sozialversicherungen, namentlich die Rentenversicherung zu überprüfen ist. Diesen Auftrag hat der Gesetzgeber allerdings eher dilatorisch behandelt. Seitdem laufen unzählige Klagen vor den Sozialgerichten, der 12. Senat des Bundessozialgerichts hat allein dreimal entschieden – und jeweils unterschiedliche Begründungen dafür gefunden, warum für die Rentenversicherung nicht gelten soll, was von Verfassung wegen für die Pflegeversicherung gilt. In zwei Entscheidungen aus den Jahren 2006 und 2015 hatte der Senat zunächst versucht, das Urteil des BVerfG entgegen § 31 Abs. 2 S. 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) für falsch und damit als für sich irrelevant erklären; ergänzend wurde noch die Einsicht beigesteuert, dass Kinder für die Leistungsfähigkeit der Rentenversicherung ohnehin keine Relevanz hätten, weil mit diesem sog. generativen Beitrag keine Renten bezahlt werden könnten (BSG, Urt. v. 5. 7. 2006, B 12 KR 20/04 R, Rn. 56 und Urt. v. 30. 9. 2015, B 12 KR 15/12 R, Rn. 40).

So etwas kann man natürlich nur behaupten, wenn man die real existierende Umlagefinanzierung in der Rentenversicherung ausblendet. In der jüngsten Entscheidung (Urt. v. 20. 7. 2017, B 12 KR 14/15 R) mit neuem Senatsvorsitzenden taucht diese Behauptung zum Glück nicht mehr auf. Vielmehr konzentrierte sich der Senat nunmehr allein auf das Argument, dass Versicherte mit Kindern in der Rentenversicherung doch auf der Leistungsseite entlastet würden; das sei der wesentliche Unterschied zur Pflegeversicherung, wo kein solcher Ausgleich stattfinde.

Das ist dann allerdings schon zynisch: In der Pflegeversicherung bekommen ja immerhin alle Versicherten unabhängig von der Kinderzahl die gleichen Leistungen (es muss also nichts ausgeglichen werden), in der Rentenversicherung führt die Erziehung von Kindern aber ja gerade zu den oben benannten Unterschieden bei den Renten. Außerdem hat das BVerfG ausdrücklich einen Ausgleich auf der Beitragsseite gefordert: "Die […] Belastung der Eltern tritt in deren Erwerbsphase auf; sie ist deshalb auch in diesem Zeitraum auszugleichen".

Sozialpolitische Debatte ist zum Streit der Weltanschauungen geworden

Das wirft dann allerdings auch ein anderes Licht auf die Entscheidung des BSG. Der Senat verweist die Klägerin zwar zu Recht darauf, dass sie sich nicht auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2001 berufen können, weil dieses das Beitragsrecht betrifft. Aber die Kläger, die beim 12. Senat beitragsrechtlich argumentiert hatten, wurden von dort wieder ins Leistungsrecht verwiesen. Dieses Ping-Pong zwischen den Senaten zeigt deutlich, dass von der Sozialgerichtsbarkeit in diesem Bereich wohl nichts mehr zu erwarten ist. Daher wäre die Entscheidung des BVerfG zur Pflegeversicherung geradezu eine Blaupause für eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG gewesen. Stattdessen sind nun mehrere Verfassungsbeschwerden anhängig.

Das Thema ist schwierig, denn die Befürworter einer stärkeren Berücksichtigung von Kindererziehungsleistungen in der Rentenversicherung müssen sich ihrerseits der Kritik stellen, sie spalteten die Gesellschaft in Menschen mit und ohne Kinder. Diese weltanschaulich aufgeladene Hypothek hat die Debatte auch konservativen Rechtswissenschaftlern zu verdanken, die es geschafft haben, die niedrige Geburtenrate in einen unmittelbaren Kausalzusammenhang mit der rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften zu stellen und Menschen ohne Kinder selbstbezogenen und pflichtvergessenen Egoismus zu attestieren.

Dadurch ist aus einer sozialpolitischen Debatte eine weltanschauliche Auseinandersetzung geworden, bei der jedes Gespräch über das Thema irgendwann landet. Deshalb kann man nicht oft genug daran erinnern: Es geht einzig und allein um Sozialpolitik, um eine Sozialversicherung, die alle unabhängig davon schützt, wie sie leben, und die die Lasten, die durch dieses Schutzversprechen ausgelöst werden, gleichmäßig verteilt. Ob Menschen Kinder haben möchten oder nicht, dürfen sie in einem freiheitlichen Staat hingegen zum Glück noch selbst entscheiden, und nicht jede/r ist freiwillig kinderlos. Das Verfassungsrecht akzeptiert und fordert bisweilen gar die helfende Hand des Staates, aber es missbilligt den erhobenen, in Moralin getränkten Zeigefinger.

Der Autor Prof. Dr. Thorsten Kingreen ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht an der Universität Regensburg und u. a. Mitautor des Lehrbuchs Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II.

  • Drucken
  • Senden
  • Zitieren
Zitiervorschlag

BSG zum Nachteilsausgleich für Kindererziehungszeiten: . In: Legal Tribune Online, 23.03.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27693 (abgerufen am: 23.05.2025 )

Infos zum Zitiervorschlag
  • Mehr zum Thema
    • Sozialrecht
    • Diskriminierung
    • Erziehung
    • Familie
    • Kinder
    • Rente
    • Rentenversicherung
    • Sozialversicherung
  • Gerichte
    • Bundessozialgericht (BSG)
Zwei Männer ringen miteinander 22.05.2025
Sozialversicherung

SG Mainz zur Selbstständigkeit im Bundesliga-Sport:

Ein Ringer kämpft nicht auf eigene Rech­nung

Ein Ringer, der als Vereinsmitglied in der Bundesliga an Wettkämpfen teilnimmt, ist nicht selbstständig. Dafür spricht etwa, dass er pauschal und unabhängig von seinen Erfolgen vergütet wird, so das SG Mainz.

Artikel lesen
Polizeimitarbeiter in Uniform nimmt DNA-Spuren 16.05.2025
DNA-Analyse

Justizminister wollen DNA-Analyse erweitern:

"Der Vor­schlag ist ras­sis­tisch"

Anwaltsverbände sind empört: Die Länderjustizchefs wollen sich Anfang Juni für die hochumstrittene "biogeografische DNA-Analyse" aussprechen. Bei der Suche nach Straftätern könnten dann auch Aussagen über deren Herkunft getroffen werden. 

Artikel lesen
Gerhard Delling und Christina Block 13.05.2025
Sorgerecht

Erfolglose Verfassungsbeschwerde im Sorgerechtsstreit:

Ste­ak­haus-Erbin Chris­tina Block unter­liegt auch vorm BVerfG

Die Erbin der Hamburger Steakhaus-Kette Block House Christina Block ist mittlerweile im Entführungskomplex ihrer Kinder selbst angeklagt. Vor dem BVerfG scheiterte sie nun mit ihrer Verfassungsbeschwerde.

Artikel lesen
Verletzte Wehrmachtssoldaten auf Tragen liegend, werden zu Kriegsende auf der Straße von Rotkreuz-Helfern versorgt 11.05.2025
Krieg

Versorgung nach "opferfreudigem Einsatz" der Gesundheit:

Ein Schaden im Krieg, den man zum Vor­teil wenden konnte

Wer in den Krieg zieht, muss ohnehin mit dem Schlimmsten rechnen. Dass ein Unfall im Krieg eine besondere staatliche Rentenleistung verdiente, wirkt daher etwas seltsam. Doch lief die deutsche Justiz beim "Kriegsunfall" zur Höchstform auf.

Artikel lesen
Trump steht mit ernstem Blick, bereit für eine Presseansprache. Hintergrund: US-Flagge, Sicherheitsbeamter. Thema: Trans-Verbot beim Militär. 07.05.2025
Transsexuelle

Trump obsiegt vor US-Supreme Court:

Weg für Trans-Verbot beim Militär ist frei

Der US-Supreme Court hat grünes Licht für ein umstrittenes Dekret von Präsident Donald Trump gegeben: Transpersonen dürfen vorerst vom Militärdienst ausgeschlossen werden. 

Artikel lesen
Sonnenblume 30.04.2025
Unfallversicherung

LSG Sachsen-Anhalt zur Vorbereitung eines Referats:

Schüler beim Son­nen­blu­menpflü­cken nicht unfall­ver­si­chert

Für eine bessere Note will ein Schüler eine Blume pflücken. Dabei kommt es zu einem schweren Unfall. Wann er hierbei gesetzlich unfallversichert ist, entschied nun das LSG Sachsen-Anhalt.

Artikel lesen
ads lto paragraph
lto karriere logo
ads career people

Wir haben die Top-Jobs für Jurist:innen

Jetzt registrieren
logo lto karriere
TopJOBS
Logo von Oppenhoff
Re­fe­ren­da­re (m/w/d) al­le Fach­be­rei­che

Oppenhoff , Köln

Logo von Evangelische Hochschule Freiburg
Pro­fes­sur für Recht in der So­zia­len Ar­beit (m/w/d)

Evangelische Hochschule Freiburg , Frei­burg im Breis­gau

Logo von Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg
Staats­an­wäl­tin (Rich­te­rin auf Pro­be) / Staats­an­walt (Rich­ter auf Pro­be)...

Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg , Cott­bus

Logo von HEUKING
Ar­beits­recht - Rechts­an­wäl­te w/m/d mit ers­ter Be­ruf­s­er­fah­rung oder...

HEUKING , Ham­burg

Logo von Ärztekammer Niedersachsen
Voll­ju­ris­tin/Voll­ju­rist (m/w/d)

Ärztekammer Niedersachsen , Han­no­ver

Logo von Deutsche Rentenversicherung Bund
Ju­rist*in (m/w/div) Präv­en­ti­on und In­ter­na­tio­na­les

Deutsche Rentenversicherung Bund , Ber­lin

Logo von RechtDialog Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
Rechts­an­wäl­te (m/w/d) als An­ge­s­tell­te oder in frei­er Mit­ar­beit

RechtDialog Rechtsanwaltsgesellschaft mbH , 100% Re­mo­te

Logo von hkk Krankenkasse
Voll­ju­rist (m/w/d) Team Kla­gen & Wi­der­sprüche

hkk Krankenkasse , Bre­men

Mehr Stellenanzeigen
logo lto events
Logo von Hagen Law School in der iuria GmbH
Fortbildung Sozialrecht im Selbststudium/ online

30.05.2025

RAV-Kongress: AufRecht. Solidarisch in autoritären Zeiten

13.06.2025, Leipzig

Unternehmensumwandlungen: Umwandlung eines Einzelunternehmens in eine GmbH

03.06.2025

Logo von Deutscher Anwaltverein
Deutscher Anwaltstag 2025 in Berlin

02.06.2025, Berlin

Logo von Hengeler Mueller
LL.M. Farewell Dinner

03.07.2025, Frankfurt am Main

Mehr Events
Copyright © Wolters Kluwer Deutschland GmbH