Jetzt ist es tatsächlich so gekommen. Das Vereinigte Königreich hat sich gegen den Verbleib in der EU ausgesprochen. Wie es jetzt weitergeht, und wer mit welchen Konsequenzen rechnen muss, erklärt Jochen Kindermann.
Gemäß § 2 des „European Union Referendum Act 2015 (Referendum Act) vom 17. Dezember 2015 durften alle Staatsbürger Großbritanniens, Irlands und des Commonwealth, die über 18 Jahre alt sind und auch zur Teilnahme an britischen Parlamentswahlen berechtigt gewesen wären, an der Volksabstimmung teilnehmen. Hinzu kamen die Mitglieder des House of Lords und die Commonwealth Bürger in Gibraltar.
Der Referendum Act bestimmte auch die Wortwahl des Abstimmungszettels. Somit hatten die Wahlberechtigten die einfache Frage zu beantworten:
Should the United Kingdom remain a member of the European Union or leave the European Union?
Zwei Antwortmöglichkeiten standen Ihnen dabei zur Verfügung:
Remain a member of the European Union
oder
Leave the European Union.
Wie wir jetzt wissen, hat die Mehrheit der Wähler sich offensichtlich für Letzteres entschieden.
Ist das Vereinigte Königreich damit raus aus der EU?
Mit dem Ausgang der Abstimmung ist der Brexit jedoch noch längst nicht vollzogen. Tatsächlich besteht rechtlich kein Unterschied zwischen dem Zeitraum vor der Stimmabgabe und dem danach. Sämtliche europarechtlichen Vorschriften bleiben auch am Morgen nach der Abstimmung weiterhin in Großbritannien anwendbar.
Nach wochenlangem Wahlkampf markiert die Volksabstimmung lediglich den Anfang vom Ende eines langwierigen, rechtlich, politisch und auch historisch bisher beispiellosen Prozesses.
Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU erfolgt im Rahmen und unter den Bedingungen des Art. 50 des Vertrages über die Europäische Union (EUV). Ziel der Vorschrift ist die Gestaltung eines geordneten Ausstiegprozesses eines Mitgliedstaates, ohne zukünftige Beziehungen zu kompromittieren. Formaljuristisch muss die britische Regierung gem. Art. 50 (2) EUV dem Europäischen Rat nun ihre Absicht mitteilen, aus der EU auszutreten.
Weder britische noch europäische Gesetze schreiben aber einen Zeitrahmen für die Abgabe dieser Absichtserklärung vor. Man darf aber schon jetzt davon ausgehen, dass Premierminister Cameron und seine Regierung wohl nur noch kurz im Amt bleiben und sie, oder die Folgeregierung, sich gezwungen sehen werden, den Austrittsantrag recht kurzfristig zu stellen.
Zwei Jahre Zeit für Verhandlungen und Austritt
Die dann beginnende Verhandlungsphase über die Modalitäten des formellen Austritts und der Abschluss eines Austrittsabkommens können grundsätzlich bis zu zwei Jahre ab Mitteilung an den Europäischen Rat andauern. Nur durch einstimmigen Beschluss aller Mitgliedstaaten kann die Frist im äußersten Fall auch auf unbestimmte Zeit verlängert werden.
Die Verhandlung selbst richtet sich nach Art. 218 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Danach erlässt der Rat der Europäischen Union auf Empfehlung der Kommission einen Beschluss über die Ermächtigung zur Aufnahme von Verhandlungen sowie über die Benennung des Verhandlungsführers oder des Leiters des Verhandlungsteams der Union.
Es folgt die Abstimmung des Rates über den Abschluss der Übereinkunft, welcher wiederum gem. Art. 218 (6) AEUV i.V.m. Art. 50 (2) EUV der Zustimmung des Europäischen Parlaments bedarf.
Das Vereinigte Königreich kann erst austreten, wenn eine Einigung erzielt wurde, wobei es hierfür einer qualifizierten Mehrheit des Europäischen Rats und der einfachen Zustimmung des Europäischen Parlaments bedarf. Sollte nach zwei Jahren der Verhandlung keine Einigung erzielt werden, bestehen zwei Möglichkeiten: Entweder wird der Ausstieg automatisch wirksam und es kommt zu einem rechtlich und politisch abrupten Ende der Mitgliedschaft oder es wird von der Möglichkeit der Verlängerung der Verhandlungsphase Gebrauch gemacht. Da letzteres der Einstimmigkeit bedarf, erscheint es derzeit recht unwahrscheinlich, dass tatsächlich über den Zweijahreszeitraum hinaus verhandelt wird.
Das Ergebnis dieser Verhandlungen wird entscheidend für die Ausgestaltung künftiger Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich. Angefangen mit der Variante „drin ist drin und raus ist raus“ gibt es eine Vielzahl von diskutierten Modellen.
Wie die wirtschaftlichen Beziehungen in Zukunft aussehen könnten
Für den Fall, dass es zu keiner Einigung kommt, könnte die zukünftigen Handelsbeziehung zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU nach den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) ablaufen. Zwar wurden Zolltarife über die WTO zwischen den Mitgliedern in den vergangenen Jahren stark abgebaut, im Vergleich zum Status quo würde sich Großbritannien aber dennoch weitaus größeren Handelshemmnissen gegenübersehen.
Nach dem sog. Norwegischen Modell könnte sie als Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) eine Freihandelszone zwischen der EU und der Europäischen Freihandelsassoziation (Efta) bilden. Im EWR werden Rechte und Pflichten des EU-Binnenmarktes auf die Efta-Mitglieder ausgedehnt. Wenn sich das Vereinigte Königreich dem EWR-Abkommen vertraglich anschließen würde, könnte es zwar weitere eigene Freihandelsabkommen abschließen, würde aber nicht mehr von den Freihandelsabkommen der EU mit Drittstaaten außerhalb des EWR profitieren.
Darüber hinaus hätte das Vereinigte Königreich als Nicht-Mitglied der EU auch kein nennenswertes Mitspracherecht mehr bei der Festlegung handelsrechtlicher Regelungen der Union, die im EWR anwendbar sind. Diese Variante würde auf eine Zahlungsverpflichtung ohne Mitspracherecht hinauslaufen und kann in Anbetracht der politischen Hintergründe für das Austrittsbegehren wohl ausgeschlossen werden.
Denkbar wäre auch das sog. Kanadische Modell. Der noch nicht ratifizierte Vertrag mit Kanada (CETA) gilt als das umfassendste Freihandelsabkommen der EU mit einem Drittstaat. Die Verhandlungen haben rund sieben Jahre gedauert. Mit dem Abkommen werden Zölle für Industrieprodukte und die meisten Agrargüter abgebaut, wobei kanadische Exporteure den Produktstandards und technischen Anforderungen der EU nachkommen müssen. Finanzdienstleistungen sind hingegen nicht eingeschlossen und auch bedeutende nichttarifäre Handelshemmnisse bleiben bestehen.
2/2: Was wären die Briten und die EU bereit zu akzeptieren?
Entscheidend für die weiteren Beziehungen ist letztlich die Frage, wie unbeschränkt der künftige Zugang des Vereinigten Königreichs zum EU-Binnenmarkt sein soll. Und inwieweit sind die beiden Parteien im Lichte des Austritts dazu bereit, die vier im AEUV manifestierten Grundprinzipien des freien Personen-, Dienstleistungs-, Kapital- und Warenverkehrs zu akzeptieren?
Die Antwort auf diese Kernfrage hängt sicherlich von einer Vielzahl wirtschaftlicher und juristischer Konsequenzen ab. Wäre das Vereinigte Königreich nach erfolgtem Austritt juristisch als Drittland zu qualifizieren, wäre einem der größten Finanzplätze der Welt der Marktzugang für sämtliche Finanzdienstleistungen innerhalb der EU erheblich erschwert, im äußerstem Fall versperrt.
Der Finanzmarkt basiert mittlerweile faktisch auf dem Europäischen Pass, einem System zum erleichterten Zugang von Banken, Finanzdienstleistern, Versicherungsgesellschaften und Investmentfondsmanagern zu anderen EU-Märkten. Im schlechtesten Fall des Ausgangs der Verhandlungen fällt diese Variante, von der vor allem das Vereinigte Königreich profitierte, vollständig weg. Das zurzeit vor allem aus London getriebene Europageschäft vieler internationaler Wertpapier- und Finanzdienstleister müsste in diesem Fall vollständig umstrukturiert werden.
Finanzbranche: für Jahre mit den Folgen beschäftigt
Statt einer Zweigniederlassung oder sogar des Vertriebs ohne dauerhafte Präsenz in einem EU-Mitgliedstaat wäre es erforderlich, eine entsprechende Erlaubnis zumindest in einem der verbliebenen EU-Länder zu beantragen. Schon dieser Vorgang dürfte zu ganz erheblichen Verwerfungen und Veränderungen des Marktes führen.
Auch in der verbleibenden EU ansässige Unternehmen, die im Vereinigten Königreich tätig bleiben wollen, müssten neue Tochterunternehmen errichten, um den dortigen Anforderungen nachzukommen. Banken müssten dann z.B. ganz neue Maßnahmen der Kapitalallokation einleiten. Die Gefahr der Austrocknung bestimmter Märkte ist dabei nicht ausgeschlossen. In jedem Fall sind also massive Folgen zu erwarten, welche die gesamte Finanzbranche in den kommenden Jahren beschäftigen werden.
Der Finanzplatz Frankfurt am Main könnte von diesem Umstand profitieren, sicher ist das jedoch keineswegs. Auch dieser Aspekt hängt letztlich von den Verhandlungsergebnissen und der Entscheidung der Unternehmungen ab, wo sie sich neu ansiedeln werden. Hier werden ganz sicher Luxemburg und Irland maßgeblich profitieren.
Das Europäische Patentgericht und der internationale Rechtsmarkt
Darüber hinaus ist nicht nur die Finanzbranche vom Austritt des Vereinigten Königreichs betroffen. Als beispielhaft für die weiteren wirtschaftlichen und rechtlichen Konsequenzen dient hier der Probestart des Europäischen Patentgerichts (UPC). Das UPC und das zeitgleich in Kraft tretende EU-Patent sollen die nationalen Regelungen vereinheitlichen und einen einmalig anzumeldenden EU-weiten Patentschutz garantieren.
Damit das UPC in Kraft treten kann, müssen jedoch mindestens 13 der 25 teilnehmenden Länder dem Projekt zustimmen. Zudem müssen die drei Länder mit den höchsten Patent-Anmeldezahlen - Deutschland, Frankreich und Großbritannien – zwingend zustimmen. Der Europäische Gerichtshof hat jedoch 2010 festgestellt, dass nur Unionsmitglieder am UPC teilnehmen dürfen. Sollte Großbritannien das Übereinkommen zum UPC nun überhaupt ratifizieren, muss möglicherweise im Anschluss wieder über einen Austritt und die Umgestaltung des Übereinkommens verhandelt werden.
Auch für den Rechtsmarkt ist absehbar, dass sich in den nächsten Jahren einiges verändern wird. Viele der Großkanzleien haben ihren Ursprung in dem Vereinigten Königreich. Bei den zu erwartenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten sowie angesichts der sehr wahrscheinlichen Abwertung des Pfund stellt sich die Frage, ob die Vergütungsmodelle der Kanzleien in der Zukunft tatsächlich beibehalten werden können. Massive Veränderungen sind also auch hier geradezu sicher.
All das sind nur einzelne Beispiele. Sie zeigen, dass wir von Rechtssicherheit weit entfernt sind. Turbulente, wenn nicht dramatische Monate und Jahre liegen vor uns. Die Europäische Union und das Vereinigte Königreich müssen ihre künftigen Beziehungen in zahlreichen Bereichen neu definieren.
Der Autor Jochen Kindermann ist Partner bei Simmons & Simmons in Frankfurt. Er ist Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht.
Brexit: Und nun? . In: Legal Tribune Online, 24.06.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19780/ (abgerufen am: 23.09.2023 )
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