Jüngst verbreitet hat sich die Auffassung, das Vereinigte Königreich könne das gestellte Austrittsgesuch jederzeit wieder zurücknehmen. Patrick Ostendorf sieht das anders und erläutert, wieso dagegen nicht nur Auslegungsmethoden sprechen.
Obwohl die britische Premierministerin May mit der Übergabe des Austrittsgesuchs in Brüssel in der vergangenen Woche den Brexit offiziell eingeleitet hat, spekuliert die Tagespresse über einen möglichen Rückzieher. Auch einige Juristen halten das offenbar für möglich, schließlich könne die Austrittserklärung ja jederzeit einseitig wieder zurückgezogen werden, solange die in Art. 50 Abs. 3 EU-Vertrag (EUV) vorgesehene Frist von zwei Jahren noch nicht abgelaufen sei.
Verhandlungstaktisch wäre wohl schon das rechtliche Bestehen dieser Option für das Vereinigte Königreich interessant: Falls die Zeit für eine einvernehmliche Regelung über die Modalitäten des Austritts knapp wird, könnte die britische Regierung mit der Rücknahme der Austrittserklärung den ansonsten unvermeidlichen Verlust der EU-Mitgliedschaft noch aufhalten und damit auch den zeitlichen Druck zum Abschluss eines möglicherweise weniger vorteilhaften Austrittsabkommens reduzieren. Genau das scheint nun auch das Europäische Parlament zu befürchten.
Was überrascht: Die Möglichkeit einer einseitigen Rücknahme des Austrittsgesuchs bejahen auch viele Rechtsexperten. So kommt etwa der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages zu dem Ergebnis, dass eine Rücknahme der Austrittserklärung (wohl) zulässig sein dürfte. Nach dem Wortlaut von Art. 50 Abs. 2 EUV werde schließlich nur die "Absicht" des Austritts und nicht der Austritt selbst mitgeteilt. In teleologischer Hinsicht spreche für die Zulässigkeit zudem, dass das Austrittsgesuch auf einer einseitigen Erklärung beruhe und nicht an materielle Voraussetzungen gebunden sei.
Ein anderes Ergebnis ist nach Auffassung des Dienstes auch mit dem unionsrechtlichen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) schwer vereinbar: Einem Mitgliedstaat, der seine Austrittsentscheidung bereue, könne schließlich nicht zugemutet werden, zunächst das Austrittsverfahren und anschließend wieder ein komplettes Aufnahmeverfahren durchlaufen zu müssen, um den Verlust der EU-Mitgliedschaft zu verhindern.
Auslegung von Art. 50 EUV spricht gegen Rücknahmemöglichkeit
Die deutlich besseren Argumente sprechen allerdings klar gegen eine Rücknahmemöglichkeit. Offensichtlich ist schon ein systematisches Argument, das auch das Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes nicht verschweigt: Nach Art. 50 Abs. 3 EUV kann die zweijährige Auslauffrist ausdrücklich nur verlängert werden, wenn alle Mitgliedstaaten damit einverstanden sind. Mit der Möglichkeit einer Rücknahme der Austrittserklärung (gefolgt von ihrer möglichen erneuten Einreichung) könnte ein Mitgliedstaat den Ablauf der maßgeblichen Frist für den ungeregelten Ausstieg aber faktisch jederzeit unterbrechen und Art. 50 Abs. 3 EUV damit vollständig unterlaufen.
Darüber hinaus ist eine Rücknahme aber auch aus ganz grundlegenden Erwägungen unzulässig. Sie hängen mit der Rechtsnatur der Austrittserklärung nach Maßgabe von Art. 50 Abs. 2 EUV zusammen. Anders als teilweise vertreten wird, ist diese Erklärung nämlich durchaus unmittelbar rechtsgestaltend. Zwar spricht der Wortlaut tatsächlich etwas unglücklich nur von der Mitteilung einer "Austrittsabsicht". Das ist aber zum einen schon deswegen nicht entscheidend, weil der Mitteilung nach Art. 50 Abs. 2 EUV nach dem klaren Wortlaut von Art. 50 Abs. 1 EUV ein Beschluss des Mitgliedstaates zum Austritt im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorgaben vorausgeht.
Darüber hinaus ist vor allem aber auch die Rechtsfolge der Erklärung eindeutig: Allein ihr Zugang führt nach dem Ablauf einer zweijährigen Frist automatisch zur ungeregelten Beendigung der Mitgliedschaft des betroffenen Staates in der EU. Abgewendet werden kann dieses Ergebnis nach Art. 50 Abs. 3 EUV nur durch ein aktives und einvernehmliches Handeln aller Mitgliedstaaten - entweder durch den Abschluss eines Austrittsabkommens oder aber die einvernehmliche Verlängerung der (Kündigungs-)Frist.
Knapp und präzise hat das auch der englische High Court in seiner Entscheidung über die Notwendigkeit einer Parlamentsbeteiligung vor Abgabe der Austrittserklärung festgehalten:
"A notice under Article 50(2) cannot be withdrawn, once it is given; and Article 50 does not allow for a conditional notice to be given [...]. The effect of the giving of notice under Article 50 on relevant rights is direct, even though the Article 50 process will take a while to be worked through."
Patrick Ostendorf, Austrittserklärung des Vereinigten Königreichs: . In: Legal Tribune Online, 10.04.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22603 (abgerufen am: 05.10.2024 )
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