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Austrittserklärung des Vereinigten Königreichs: Kein Exit vom Brexit

von Prof. Dr. Patrick Ostendorf

10.04.2017

Großbritannien- und EU-Flagge in Form von entgegengesezten Pfeilen

© Delphotostock - Fotolia.com

Jüngst verbreitet hat sich die Auffassung, das Vereinigte Königreich könne das gestellte Austrittsgesuch jederzeit wieder zurücknehmen. Patrick Ostendorf sieht das anders und erläutert, wieso dagegen nicht nur Auslegungsmethoden sprechen.

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Auslegung Art. 50 EUV spricht gegen Rücknahmemöglichkeit

Obwohl die britische Premierministerin May mit der Übergabe des Austrittsgesuchs in Brüssel in der vergangenen Woche den Brexit offiziell eingeleitet hat, spekuliert die Tagespresse über einen möglichen Rückzieher. Auch einige Juristen halten das offenbar für möglich, schließlich könne die Austrittserklärung ja jederzeit einseitig wieder zurückgezogen werden, solange die in Art. 50 Abs. 3 EU-Vertrag (EUV) vorgesehene Frist von zwei Jahren noch nicht abgelaufen sei.

Verhandlungstaktisch wäre wohl schon das rechtliche Bestehen dieser Option für das Vereinigte Königreich interessant: Falls die Zeit für eine einvernehmliche Regelung über die Modalitäten des Austritts knapp wird, könnte die britische Regierung mit der Rücknahme der Austrittserklärung den ansonsten unvermeidlichen Verlust der EU-Mitgliedschaft noch aufhalten und damit auch den zeitlichen Druck zum Abschluss eines möglicherweise weniger vorteilhaften Austrittsabkommens reduzieren. Genau das scheint nun auch das Europäische Parlament zu befürchten.

Was überrascht: Die Möglichkeit einer einseitigen Rücknahme des Austrittsgesuchs bejahen auch viele Rechtsexperten. So kommt etwa der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages zu dem Ergebnis, dass eine Rücknahme der Austrittserklärung (wohl) zulässig sein dürfte. Nach dem Wortlaut von Art. 50 Abs. 2 EUV werde schließlich nur die "Absicht" des Austritts und nicht der Austritt selbst mitgeteilt. In teleologischer Hinsicht spreche für die Zulässigkeit zudem, dass das Austrittsgesuch auf einer einseitigen Erklärung beruhe und nicht an materielle Voraussetzungen gebunden sei.

Ein anderes Ergebnis ist nach Auffassung des Dienstes auch mit dem unionsrechtlichen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) schwer vereinbar: Einem Mitgliedstaat, der seine Austrittsentscheidung bereue, könne schließlich nicht zugemutet werden, zunächst das Austrittsverfahren und anschließend wieder ein komplettes Aufnahmeverfahren durchlaufen zu müssen, um den Verlust der EU-Mitgliedschaft zu verhindern.

Auslegung von Art. 50 EUV spricht gegen Rücknahmemöglichkeit

Die deutlich besseren Argumente sprechen allerdings klar gegen eine Rücknahmemöglichkeit. Offensichtlich ist schon ein systematisches Argument, das auch das Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes nicht verschweigt: Nach Art. 50 Abs. 3 EUV kann die zweijährige Auslauffrist ausdrücklich nur verlängert werden, wenn alle Mitgliedstaaten damit einverstanden sind. Mit der Möglichkeit einer Rücknahme der Austrittserklärung (gefolgt von ihrer möglichen erneuten Einreichung) könnte ein Mitgliedstaat den Ablauf der maßgeblichen Frist für den ungeregelten Ausstieg aber faktisch jederzeit unterbrechen und Art. 50 Abs. 3 EUV damit vollständig unterlaufen.

Darüber hinaus ist eine Rücknahme aber auch aus ganz grundlegenden Erwägungen unzulässig. Sie hängen mit der Rechtsnatur der Austrittserklärung nach Maßgabe von Art. 50 Abs. 2 EUV zusammen. Anders als teilweise vertreten wird, ist diese Erklärung nämlich durchaus unmittelbar rechtsgestaltend. Zwar spricht der Wortlaut tatsächlich etwas unglücklich nur von der Mitteilung einer "Austrittsabsicht". Das ist aber zum einen schon deswegen nicht entscheidend, weil der Mitteilung nach Art. 50 Abs. 2 EUV nach dem klaren Wortlaut von Art. 50 Abs. 1 EUV ein Beschluss des Mitgliedstaates zum Austritt im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorgaben vorausgeht.

Darüber hinaus ist vor allem aber auch die Rechtsfolge der Erklärung eindeutig: Allein ihr Zugang führt nach dem Ablauf einer zweijährigen Frist automatisch zur ungeregelten Beendigung der Mitgliedschaft des betroffenen Staates in der EU. Abgewendet werden kann dieses Ergebnis nach Art. 50 Abs. 3 EUV nur durch ein aktives und einvernehmliches Handeln aller Mitgliedstaaten - entweder durch den Abschluss eines Austrittsabkommens oder aber die einvernehmliche Verlängerung der (Kündigungs-)Frist.  

Knapp und präzise hat das auch der englische High Court in seiner Entscheidung über die Notwendigkeit einer Parlamentsbeteiligung vor Abgabe der Austrittserklärung festgehalten:

"A notice under Article 50(2) cannot be withdrawn, once it is given; and Article 50 does not allow for a conditional notice to be given [...]. The effect of the giving of notice under Article 50 on relevant rights is direct, even though the Article 50 process will take a while to be worked through."

Was noch gegen einen Exit vom Brexit spricht

2/2: Charakter als Gestaltungsrecht

Die in Art. 50 Abs. 2 EUV geregelte Austrittsmitteilung entspricht damit Gestaltungsrechten, wie sie aus dem privaten Vertragsrecht bekannt sind. Zwar führt auch die ordentliche Kündigung eines Miet- oder Arbeitsvertrages die Vertragsbeendigung erst herbei, wenn die einschlägige Kündigungsfrist abgelaufen ist. Das ändert aber nichts daran, dass die Gestaltungswirkung schon unmittelbar mit dem Zugang der Willenserklärung eintritt, weil die Vertragsbeendigung kein weiteres Zutun der Vertragsparteien mehr verlangt und nur noch vom Zeitablauf abhängig ist. Der Kündigende kann die bereits eingetretene Änderung des Rechtsverhältnisses daher nach Zugang der Kündigungserklärung auch nicht mehr einseitig ungeschehen machen.

Dass Gestaltungsrechte unwiderruflich sind, ist auch keineswegs nur dogmatische Pedanterie: Gerade weil die Beendigung eines Rechtsverhältnisses durch eine Kündigung einseitig möglich ist, muss die Gegenseite vor Rechtsunsicherheit geschützt werden. Die bestünde ansonsten nämlich schon deswegen, weil sich der Kündigungsgegner im Fall einer Rücknahmemöglichkeit nicht mehr darauf verlassen könnte, dass der Vertrag mit Ablauf der Kündigungsfrist auch wirklich endet: Notwendige Vorsorgemaßnahmen für die Zeit nach der erwarteten Vertragsbeendigung, so etwa die Suche eines Nachmieters, könnten so kaum sinnvoll getroffen werden.

Auch keine Argumente aus dem Völkerrecht

Auch aus Bestimmungen des Völkervertragsrechts, namentlich der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969 (WVK), ergibt sich nichts anderes. Zwar argumentieren die Befürworter einer Rücknahmemöglichkeit damit, dass Art. 68 WVK ausdrücklich die Rücknahme der Kündigung eines völkerrechtlichen Vertrages bis zu dem Zeitpunkt erlaubt, zu dem sie wirksam wird.

Doch abgesehen davon, dass das Unionsrecht eine eigenständige und vom Völkerrecht losgelöste Rechtsordnung darstellt und auf völkervertragsrechtliche Regelungen damit nicht mehr unmittelbar zurückgegriffen werden kann, stellt sich auch hier die entscheidende Frage, wann genau eine Kündigung im Sinne dieser Vorschrift wirksam wird.

Führt die Kündigung aber automatisch (wenn auch erst zu einem späteren Zeitpunkt) eine Vertragsbeendigung herbei, ist sie zutreffenderweise schon mit ihrem Zugang nach Art. 78 WVK und nicht erst dann wirksam, wenn die Kündigungsfrist verstrichen ist. So sehen es jedenfalls auch Stimmen in der völkerrechtlichen Literatur.

Rücknahme bei Einverständnis aller anderen Mitgliedstaaten?

Eine andere Frage ist, ob sich die Mitgliedstaaten einvernehmlich darauf einigen könnten, die Rücknahme der Austrittserklärung zu akzeptieren. Das entspräche zwar nicht dem in Art. 50 EUV geregelten Verfahren, dürfte aber schon deswegen rechtlich möglich sein, weil die Mitgliedstaaten "Herren der Verträge" geblieben sind.

Allerdings wäre diese Hürde wohl nur schwer zu nehmen: Letztlich würde es ja schon ausreichen, wenn nur ein Mitgliedstaat mit einem solchen Vorgehen nicht einverstanden wäre. Wie die jüngere Geschichte der europäischen Integration zeigt, sind Alleingänge einzelner Mitgliedstaaten auch durchaus keine Seltenheit.

Der Autor Prof. Dr. Patrick Ostendorf ist Of Counsel bei Orth Kluth Rechtsanwälte, Berlin und als Dozent an der HTW Berlin unter anderem spezialisiert auf die Bereiche Rechtsvergleichung, ausländisches Privatrecht und internationales Vertragsrecht.

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Patrick Ostendorf, Austrittserklärung des Vereinigten Königreichs: Kein Exit vom Brexit . In: Legal Tribune Online, 10.04.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22603/ (abgerufen am: 01.10.2023 )

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