Während in Deutschland der NSU-Prozess einfach nicht beginnen mag, wird dem Attentäter von Boston die Anklage flugs am Krankenbett verlesen. Im LTO-Interview erklärt die amerikanische Rechtsanwältin Lauren Reynolds, warum die US-Regierung Zarnajew vernehmen durfte, ohne ihn über seine Rechte zu belehren, und im Gegensatz zum Bundesstaat Massachusetts die Todesstrafe beantragen kann.
LTO: Der überlebende der beiden Attentäter wird nun doch vor ein Zivil- und nicht vor ein Militärgericht gestellt. Wieso wurde darüber überhaupt diskutiert? Hätte tatsächlich die Möglichkeit bestanden, ihn vor einem Militärgericht anzuklagen?
Reynolds: Nein, das wäre nicht möglich gewesen. Da der überlebende Attentäter amerikanischer Staatsbürger ist, kann er nicht vor einem Militärgericht angeklagt werden. Es wird zwar vertreten, US Militärrecht erlaube der amerikanischen Regierung, ihn als sogenannten "Enemy Combatant" (frei übersetzt: feindlicher Kämpfer) für eine gewisse Zeit gefangen zu halten und zu verhören. Die Bush-Regierung hat diesen Begriff weit ausgelegt, um Personen, die im Ausland gefangen genommen und terroristischer Akte verdächtigt wurden, unbefristet gefangen zu halten.
Zarnajew als "Enemy Combatant" einzuordnen, ist jedoch aus mehreren Gründen problematisch. Zum einen ist er – wie gesagt – amerikanischer Staatsbürger und hat seine Tat in den USA begangen. Zum anderen hat die Regierung von Präsident Obama den Begriff stets eng ausgelegt und auf Fälle beschränkt, in denen der Verdächtige Al-Qaida, die Taliban oder verbundene Organisationen in erheblichem Umfang unterstützt hat. Das scheint aber bei Zarnajew nicht der Fall zu sein.
"Droht eine Gefahr, müssen Verdächtige nicht belehrt werden"
LTO: Das Justizministerium hatte sich dazu entschieden, dem 19-Jährigen zunächst seine Beschuldigtenrechte nicht zu verlesen. Er sollte verhört werden, ohne dass ihm das Recht gewährt wurde, zu schweigen oder einen Anwalt zu kontaktieren. Wieso ist das möglich?
Reynolds: Ein Beschuldigter hat grundsätzlich das Recht, über sein Aussageverweigerungsrecht und sein Recht auf einen Anwalt belehrt zu werden. Nach der Rechtsprechung des US Supreme Court wird diese sogenannte "Miranda Rule" durch den fünften Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung geschützt. Im Jahr 1984 hat der US Supreme Court jedoch entschieden, die Regierung dürfe einen Verdächtigen ohne Belehrung über seine Rechte vernehmen, wenn eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit bestehe.
Die Obama-Regierung hat daher argumentiert, sie sei aus Gründen der öffentlichen Sicherheit berechtigt, Zarnajew ohne Belehrung über seine "Miranda-Rechte" zu vernehmen. Trotzdem wurde er schlussendlich über seine Rechte belehrt, bevor ihm die Anklage mitgeteilt wurde. Unklar ist, ob das Gericht, vor dem der Prozess stattfinden wird, eine Verletzung seiner Prozessrechte bejahen wird. Folge wäre, dass die Staatsanwaltschaft eine Aussage des Attentäters nicht verwenden dürfte, um seine Schuld zu beweisen.
LTO: Was wäre passiert, wenn er nicht ausgesagt hätte?
Reynolds: Weil nach der amerikanischen Verfassung niemand gezwungen werden kann, sich selbst zu belasten, kann die Staatsanwaltschaft einen Angeklagten, der sich auf sein Aussageverweigerungsrecht beruft, nicht zu einer Aussage zwingen. Stattdessen muss die Anklage andere Beweise finden, um die Schuld des Angeklagten zu beweisen.
"Das Gerichtsverfahren wird sich hinziehen"
LTO: Die Anklage wurde ihm bereits jetzt – gut eine Woche nach dem Attentat – am Krankenbett verlesen. Ist das ein übliches Vorgehen? Geht das immer so schnell?
Reynolds: Die Geschwindigkeit, mit der hier Anklage erhoben wurde, ist außergewöhnlich. Strafverfahren in den Vereinigten Staaten sind aus verschiedenen Gründen oft sehr langwierig, unter anderem weil den Gerichten nur beschränkte Ressourcen zur Verfügung stehen, wegen strenger Beweisverwertungsregeln, wegen des erheblichen Zeitaufwands, Zeugen zu finden und zu vernehmen, und wegen der strengen Beweislast, der die Regierung unterliegt, um die Schuld eines Angeklagten zu beweisen.
LTO: Ist zu erwarten, dass der Prozess genauso schnell stattfindet und abgeschlossen wird?
Reynolds: Nein, aus der Geschwindigkeit, mit der Anklage erhoben wurde, kann nicht auf die Dauer des Verfahrens geschlossen werden. In Anbetracht der Schwere der Anklagepunkte und der möglichen Strafe wird die Verteidigung eine Vielzahl von Argumenten vorbringen, die das Verfahren verzögern können. Einige Argumente der Verteidigung könnten sein, dass Zarnajew zum Zeitpunkt der Tat nicht zurechnungsfähig war, dass seine Aussage gegenüber der Polizei nicht verwertet werden darf, dass er sehr jung ist, dass er nicht aus freien Stücken handelte, sondern unter dem Druck seines Bruders stand, und dass er vor dem angerufenen Gericht – einem Bundesgericht in Massachusetts – kein faires Verfahren erhält.
"Später könnte ihn auch noch der Bundesstaat anklagen"
LTO: Gibt die USA aus Angst vor Terrorismus die Rechte eines Beschuldigten immer mehr auf?
Reynolds: Es ist für jedes Land schwierig, ein Gleichgewicht zu finden zwischen der öffentlichen Sicherheit auf der einen Seite und den Rechten von mutmaßlichen Terroristen auf der anderen Seite. Die Tatsache, dass es die US-Regierung bevorzugt hat, Zarnajew vor einem normalen Strafgericht anzuklagen, statt ihm als "Enemy Combatant" nur eingeschränkte Rechte zuzugestehen, spricht dafür, dass die Regierung die von der Verfassung verbürgten Rechte auch dann respektiert, wenn dem Beschuldigte terroristische Akte zur Last gelegt werden.
LTO: Sind ähnliche Tendenzen in Deutschland zu beobachten? Wäre es denkbar, dass einem Attentäter in Deutschland ein ähnliches Verfahren gemacht wird?
Reynolds: In Deutschland hat es diese Tendenzen bisher nicht gegeben. Es wäre in Deutschland rechtlich nicht möglich, die Verfahrensrechte eines Attentäters zu beschneiden und ihn etwa Militär- oder Kriegsrecht zu unterstellen. Nach deutschem Recht ist einem Attentäter nach dem Strafgesetzbuch und der Strafprozessordnung der Prozess zu machen.
LTO: Wer klagt Zarnajew eigentlich an? Der Bund?
Reynolds: Derzeit wird von der Bundesregierung vor einem Bundesgericht Anklage erhoben. Eine spätere Anklage durch den Bundesstaat bleibt jedoch möglich. Zum Beispiel könnte Zarnajew wegen der Ermordung des Polizeibeamten Sean Collier nach dem Strafrecht des Staates Massachusetts angeklagt werden.
LTO: Welches Delikt wird ihm zur Last gelegt und welche Strafe droht ihm?
Reynolds: Die US-Regierung hat Anklage erhoben wegen der Verwendung von Massenvernichtungswaffen und der heimtückischen Zerstörung von Eigentum, die zum Tod von Menschen geführt hat. Wegen der Verwendung von Massenvernichtungswaffen kann die Todesstrafe oder lebenslange Haft verhängt werden. Nach dem Recht des Staates Massachusetts kann die Todesstrafe hingegen nicht verhängt werden.
LTO: Frau Reynolds, vielen Dank für das Gespräch.
Lauren Reynolds ist US-amerikanische Rechtsanwältin im Münchner Büro von Gibson Dunn & Crutcher LLP und Mitglied der Deutsch-Amerikanischen Juristenvereinigung.
Die Fragen stellten Pia Lorenz und Claudia Kornmeier.
Das Verfahren gegen den Attentäter von Boston: . In: Legal Tribune Online, 25.04.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8607 (abgerufen am: 02.12.2024 )
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