Das Bosman-Urteil hat den Weltfußball auf den Kopf gestellt. Jetzt wird der EuGH in einem weiteren Fall entscheiden. Danach könnte der aktuelle Transfermarkt mit hohen Ablösesummen Geschichte sein. Alexander Scheuch blickt voraus.
"Entscheidend is‘ auf’m Platz" – vielleicht spricht man sich beim Weltfußballverband FIFA dieser Tage so Mut zu. Schließlich steht in EuGH-Verfahren nach den Schlussanträgen des Generalanwalts noch nichts fest. Dennoch dürften seit dem 30. April Sorgenfalten manche Funktionärsstirn zieren. An diesem Tag erstattete Generalanwalt Szpunar seine Schlussanträge zum Rechtsstreit zwischen der FIFA und Ex-Profi Lassana (Lass) Diarra. Auf dem Spiel steht dabei nichts Geringeres als das Transfersystem des Weltfußballs. Dieses hat der EuGH im Bosman-Urteil schon einmal revolutioniert. Wenn es nach dem Generalanwalt geht, folgt nun der zweite Streich.
Der Reihe nach: Diarra hatte 2013 einen Vertrag bei Lokomotive Moskau unterzeichnet. Ein Jahr später löste er den Vertrag einseitig auf – ohne triftigen Grund, wie später das Sportschiedsgericht CAS feststellte. Die Suche nach einem neuen Arbeitgeber gestaltete sich schwierig. Ein Wechsel zum belgischen Klub Charleroi zerschlug sich. Der Klub befürchtete erhebliche Sanktionen im Fall eines Transfers Diarras. So sieht das FIFA-Reglement bei Verpflichtung eines vertragsbrüchigen Spielers eine Mithaftung des neuen Vereins für die dem Ex-Klub zustehende Entschädigung vor – in Diarras Fall mehr als 10 Millionen Euro. Daneben droht dem Klub eine einjährige Transfersperre, falls er den Spieler zum Vertragsbruch angestiftet hat. Eine solche Anstiftung wird nach den FIFA-Regeln vermutet. Das dürfte vielen deutschen Fußballfans geläufig sein, seit 2023 eine solche Sperre gegen den 1. FC Köln verhängt wurde.
Diarra jedenfalls verklagte die FIFA auf Schadensersatz. Die übermäßig restriktiven Verbandsvorschriften hätten seinen Transfer nach Charleroi verhindert. Das Berufungsgericht im belgischen Mons legte dem EuGH die Fragen vor, ob die einschlägigen Regularien gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) und das Kartellverbot (Art. 101 AEUV) verstoßen. Aus Sicht von Generalanwalt Szpunar ist beides zu bejahen. Im Ergebnis also ein klares 2:0 für Diarra. Dennoch lohnt es sich genauer hinzusehen.
Sanktionen werden zum Glücksspiel
Mit Blick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit bewegen sich die Schlussanträge in gewohnten Bahnen. Monopolsportverbände müssen die Grundfreiheiten achten. Und zweifellos werden grenzüberschreitende Wechsel von Sportlern erschwert, wenn interessierte Arbeitgeber Sanktionen fürchten müssen. Solche Beschränkungen können jedoch durch das Allgemeininteresse an der Einhaltung vertraglicher Bindungen gerechtfertigt sein. So ist etwa eine Schadensersatzpflicht des vertragsbrüchigen Spielers im Kern unproblematisch. Hingegen sind die gegen den neuen Verein gerichteten Sanktionen allenfalls dann angemessen, wenn der Klub den Spieler tatsächlich zum Vertragsbruch angestiftet hat. Die insofern bestehende Beweislastumkehr kritisiert Szpunar scharf.
Zu Recht, denn ob man Sanktionen ausweichen kann, wird so zum Glücksspiel – oder auf Diarras Abgang aus Moskau gemünzt: zum Russisch Roulette. Diese Ausgangslage belastet gerade auch jene Spieler, die ihren Vertrag berechtigterweise gekündigt haben. Das hätte der Generalanwalt betonen sollen. Solange keine Klarheit über den Kündigungsgrund besteht, werden sich viele Interessenten von den Risiken abschrecken lassen. Deshalb muss die FIFA ihre Regeln nachbessern. Vor allem sollten Sanktionen gegen den aufnehmenden Klub nur bei nachgewiesener Anstiftung zum Vertragsbruch in Betracht kommen.
Alle Überlegungen zu verhältnismäßigen Beschränkungen der Grundfreiheiten wären jedoch Makulatur, sofern der Gerichtshof der kartellrechtlichen Einschätzung des Generalanwalts folgt. Szpunar musste sich in diesem Kontext mit den beiden EuGH-Urteilen "Super League" und "Royal Antwerp" aus dem Dezember 2023 auseinandersetzen. Seit der Entscheidung „Meca-Medina“ von 2006 war man davon ausgegangen, dass Verbandsregeln das Kartellverbot regelmäßig nicht verletzen, soweit sie in verhältnismäßiger Weise Ziele im Allgemeininteresse verfolgen. Ein Gleichklang zwischen Kartellrecht und Grundfreiheiten war die Folge.
Dazu soll es aber nach den neuen EuGH-Judikaten nur dann kommen, wenn – in der Terminologie von Art. 101 AEUV – bloß bewirkte, nicht aber bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen in Rede stehen. Wird von Letzteren ausgegangen, bleibt zur Rechtfertigung nur Absatz 3 der Norm. Dieser legt die Hürden aber im Vergleich zur Verhältnismäßigkeitsprüfung extrem hoch. Vor allem verlangt der Gerichtshof hier belastbares Zahlenmaterial für die behaupteten Vorteile. Die Transferregeln dürften sich auf diesem Weg kaum halten lassen. Es bleibt daher mit Spannung abzuwarten, wie der EuGH die FIFA-Regularien einordnet. Für den Generalanwalt ist der Fall klar: Der Umgang mit vertragsbrüchigen Spielern sei gerade darauf ausgelegt, den Wettbewerb um solche Spieler zum Erliegen zu bringen. Ergo: Die Wettbewerbsbeschränkung sei bezweckt.
Ein Bulldozer für das Fußball-Transferwesen?
Diese Schlussfolgerung scheint angreifbar. Keine Frage: Wenn Arbeitgeber vereinbaren, Arbeitnehmer nicht gegenseitig abzuwerben, mutet das suspekt an. Tatsächlich ist problematisch, dass die FIFA-Vorschriften nicht nur den Wettbewerb um vertragsbrüchige Spieler praktisch eliminieren. Vielmehr ist jede Verpflichtung eines Spielers, der bei seinem früheren Verein unter streitigen Umständen gekündigt hat, risikobehaftet. Diesem Zustand muss die FIFA entgegenwirken – siehe Arbeitnehmerfreizügigkeit. Der Generalanwalt scheint aber gerade den Markt für vertragsbrüchige (!) Spieler schützen zu wollen. Das muss Zweifel wecken. Handelt es sich insoweit wirklich um einen erhaltenswerten Wettbewerb? Zumindest lässt sich das Vorliegen einer bezweckten Wettbewerbsbeschränkung hinterfragen. Bei deren Feststellung geht der EuGH restriktiv vor. Er berücksichtigt nicht nur die Auswirkungen, sondern umfassend Inhalt, Kontext und Ziel der beanstandeten Verhaltensweise. Soweit die FIFA-Regularien unrechtmäßige Kündigungen verhindern möchten, lässt sich der Schwerpunkt in diesem Ziel – pacta sunt servanda – erblicken, nicht in einer Obstruktion des Wettbewerbs um Personal.
Das abweichende Verständnis des Generalanwalts könnte sich als Bulldozer entpuppen, der vom Transferwesen im Profifußball praktisch nichts übriglässt. Die Schutzmechanismen, die vorzeitige Spielerwechsel ohne Ablöseverhandlungen verhindern sollen, wären als bezweckte Wettbewerbsbeschränkungen illegal. Vereinen bliebe gegen vertragsbrüchige Spieler höchstens ein Schadensersatzanspruch aus dem jeweiligen Arbeitsvertrag. Ablösesummen gehörten hingegen der Vergangenheit an. Darunter dürften vor allem kleinere Vereine leiden, die auf Transfererlöse angewiesen sind. Für die Ausgeglichenheit des sportlichen Wettbewerbs wären das schlechte Nachrichten.
Wird Diarra zum nächsten Bosman?
1995 hatte der EuGH mit dem Bosman-Urteil das Transfersystem auf den Kopf gestellt. Die Praxis, auch nach Ende der Vertragslaufzeit Ablösesummen zu verlangen, fand ein abruptes Ende. In der Folge rangen FIFA und EU-Kommission um eine unionsrechtskonforme Ausgestaltung. Diese steht nun erneut auf dem Prüfstand. Wird Diarra nach fast 30 Jahren Bosmans Vorlage verwandeln? Das hängt davon ab, ob der EuGH – anders als der Generalanwalt – die Rolle des Abwehrspielers für das geltende Transfersystem einnimmt.
Wünschenswert erscheint zumindest ein engeres Verständnis der bezweckten Wettbewerbsbeschränkung. Dieses Etikett sollte eklatanten Fällen wie dem Super-League-Verbot vorbehalten bleiben. Viele andere Sportverbandsregularien verdienen eine großzügigere Betrachtung. Das sollte der EuGH klarstellen. Vor allem erscheinen Maßnahmen, die primär Vertragsbrüche verhindern sollen, weniger kritisch.
Zu vermeiden sind dabei allerdings Kollateralschäden für Akteure, die ihren früheren Vertrag berechtigterweise gekündigt haben. Insofern dürfte der Gerichtshof Änderungen des FIFA-Reglements anmahnen. Zu spät käme eine solche Einsicht allerdings für den 1. FC Köln und seine Fans (der Autor outet sich als Betroffener): Die Transfersperre wird, obwohl unionsrechtswidrig, ihre fatale Wirkung dann schon voll entfaltet haben.
Prof. Dr. Alexander Scheuch ist Direktor des Instituts für Handels- und Wirtschaftsrecht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Inhaber einer Professur für Bürgerliches Recht, Handels-, Gesellschafts- und Zivilprozessrecht. 2015 war er als Justiziar beim 1. FC Köln tätig.
* Dieser Artikel wurde bis auf den Teaser inhaltsgleich bereits am 7. Mai 2024 auf LTO veröffentlicht.
Diarra tritt in Bosmans Fußstapfen: . In: Legal Tribune Online, 03.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54497 (abgerufen am: 09.10.2024 )
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