Letztes Jahr gab der Fernsehrat einer Programmbeschwerde gegen eine Böhmermann-Sendung statt. Zu Unrecht und formell rechtswidrig. Der neue Rat muss sein Beschwerdeverfahren reformieren, meint Felix W. Zimmermann und macht Vorschläge.
Am kommenden Freitag ist es wieder soweit: Der ZDF-Fernsehrat tagt in Mainz. Das Aufsichtsgremium hatte sich im Juli neu konstituiert und die Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes, Gerda Hasselfeldt, ehemalige CSU-Politikerin, zur neuen Vorsitzenden gewählt. Der Fernsehrat besteht aus 60 Mitgliedern aus gesellschaftlich relevanten Gruppen und Politik. Er hat verschiedene Aufgaben, darunter die Wahl des Intendanten und die Entscheidung über Programmbeschwerden.
Dabei darf der Rat Beschwerden nicht aus Gutdünken, persönlichem Missfallen oder Empfindlichkeiten stattgeben oder zurückweisen oder bloß deshalb, weil ihm die Themenauswahl einer Sendung nicht zusagt. Eine Beanstandung darf vielmehr nur bei einem Verstoß gegen die ZDF-eigenen Programmgrundsätze ausgesprochen werden. Zehn Jahre hatte der Rat keiner Programmbeschwerde stattgegeben. Damals wurden Ergebnisse der Ranking-Show "Deutschlands Beste" manipuliert.
Im Dezember 2023 war es dann wieder so weit: Auf zwei Programmbeschwerden hin beanstandete der Fernsehrat am 8. Dezember 2023 eine Sendung des ZDF Magazin Royale, moderiert von Jan Böhmermann. Auf den ersten Blick nicht unbedingt verwunderlich, sorgt doch der Investigativ-Comedian regelmäßig für großes Aufsehen und umstrittene Sendungen. Allerdings traf die Rüge keine Sendung, die in der Öffentlichkeit größere Kritik wegen vermeintlicher Falschdarstellung oder Einseitigkeit abbekommen hätte, wie die Sendung über Bosnien oder die Schönbohm-Sendung, bei der dem ZDF sogar eine gerichtliche Niederlage droht. Die Programmbeschwerden zur Schönbohm-Sendung wurden sogar am selben Tag vom Fernsehrat abgewiesen.
Stattdessen bekam die Böhmermann-Sendung vom 8. September 2023 zum Thema "Rituelle Gewalt" eine Beanstandung verpasst. Mit gravierenden Folgen: Das ZDF nahm sie aus der Mediathek und löschte sie auch auf YouTube.
Sendung mit wichtiger Warnfunktion wird Zuschauern vorenthalten
Damit wird der Öffentlichkeit bis heute eine Sendung vorenthalten, die sich mit einem wichtigen Missstand beschäftigt: Die Redaktion deckte auf, dass unter Begriffen wie "Rituelle Gewalt" Pseudotherapeuten Mythen von geheimen Zirkeln verbreiten, die angeblich Satanismus betreiben und dabei Kinder und Frauen misshandeln. Die Sendung zeigte, wie labilen Menschen durch Pseudotherapeuten rituelle, sexuelle Missbrauchserfahrungen eingeredet und diese somit schwer traumatisiert werden. Eine Anfrage der Redaktion bei Landeskriminalämtern ergab, dass die Polizei in keinem einzigen Fall wegen derartiger ritualisierter Gewaltstrukturen ermittelt, weder in Deutschland noch in der Schweiz oder den Niederlanden. Ein Befund, der jedenfalls im starken Kontrast zu Aussagen der Pseudotherapeuten steht, die das Phänomen für omnipräsent halten.
Die größte Fachgesellschaft von Psychologen und Psychiatern, die DGPPN, kritisierte die Entscheidung des Fernsehrates sowie das Offline-Nehmen der Sendung scharf. Der Beitrag sei wertvoll, da er zeige, "wie Verschwörungstheorien um satanistische Netzwerke und den Deep State zu schädlichen Therapien beitragen", heißt es in einem an den Fernsehrat gerichteten Schreiben, was LTO vorliegt.
Der Sendung des ZDF Magazin Royal könnte zum Verhängnis geworden sein, dass sie auch die "Unabhängige Kommission für die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch", auch "Aufarbeitungskommission" genannt, kritisierte. Diese hat im Namen der Bundesregierung die Aufgabe, Missbrauchsfälle aufzuklären. Auf ihrer Internetseite erweckt sie den Eindruck, die Existenz von rituellen Gewaltstrukturen sei gesichert. Auch lud die Kommission die Therapeutin Michaela Huber zu einem Workshop ein. Dort konnte Huber, die ein findiges Geschäftsmodell aus dem Thema rituelle Gewalt macht, ihre Verschwörungsthesen von Zirkeln ritueller Gewalt und Verknüpfungen zum organisierten Verbrechen in abgeschwächter Form zum Besten geben. Sie sind auch heute noch auf der Internetseite der Kommission zu finden.
Für die Aufarbeitungskommission ist Angriff die beste Verteidigung
Statt nach der Sendung in Selbstreflexion überzugehen, holte die Aufarbeitungskommission zum Gegenschlag aus und legte Programmbeschwerde ein – und zwar mit der Begründung, dass es für die Gesellschaft allgemein schädlich sei, wenn Betroffenen sexualisierter Gewalt nicht geglaubt werde und die Sendung einen solchen Unglauben fördere. Bereits zuvor sei durch einen Spiegel-Artikel "die Debatte zur Glaubhaftigkeit der Aussagen von Betroffenen, die nach Jahren oder Jahrzehnten erstmals das Schweigen brechen, neu aufgeflammt."
Kurzum: Für die angebliche "unabhängige" Aufarbeitungskommission darf es schon keine Debatte über die Glaubhaftigkeit von Aussagen über sexuellen Missbrauch geben, selbst wenn darin Satanismus vorkommt. Dass auch diejenigen Personen schützenswerte Opfer sind, denen durch manipulative Therapeuten Missbrauchserfahrungen eingeredet werden, übergeht die Aufarbeitungskommission dabei vollständig und lässt derartige Personen mithin im Stich. Denn ihr offenbar unantastbares Credo lautet, dass Missbrauchserfahrungen nicht angezweifelt werden dürfen.
Tatsachenbehauptungen im Beitrag bleiben unstreitig
Die Aufarbeitungskommission brandmarkte die ZDF-Sendung in ihrer Programmbeschwerde als "schlecht recherchiert", ohne auch nur einen einzigen Gegenbeweis anzuführen oder die Recherche im Kern anzugreifen. Vielmehr diente die unterstellte Wirkung auf tatsächliche Missbrauchsopfer als Begründung für die Programmbeschwerde. So kritisiert die Aufarbeitungskommission, die Sendung würde "die Effekte auf Betroffene sexualisierter Gewalt insgesamt ausblenden". Heißt offenbar: Über die Möglichkeit von nur eingeredetem sexuellem Missbrauch darf gar nicht erst gesprochen werden, weil echte Missbrauchsopfer dann emotionalen Schaden nehmen oder sich diskreditiert fühlen.
Nach diesen Maßstäben wäre kaum noch ein Fernsehbeitrag vor einer Beanstandung des Fernsehrates sicher. Denn die Bejahung einer Verletzung von Programmgrundsätzen bereits für den Fall, dass ein Beitrag "Effekte" auf andere Betroffene ausblendet, kann mühelos auf andere Beiträge übertragen werden. Man denke etwa an Berichterstattung über Falschaussagen in einem Prozess um Vergewaltigung, über Suizide, Entführungen, die bei Betroffenen Wunden aufreißen können. Aber auch Fernsehfilme, insbesondere Krimis, könnten in den Fokus geraten. Doch journalistische und fiktionale Inhalte können nicht alle Empfindungen von Betroffenengruppen berücksichtigen. Sie müssen sich auf bestimmte Aspekte konzentrieren – das ist ein grundlegendes Merkmal des Journalismus, der Filmfreiheit und der Meinungsfreiheit.
Böhmermann lässt keinen Zweifel an Existenz von sexuellem und organisiertem Missbrauch
Dass es ganz so einfach mit einer Programmbeschwerde nicht sein kann, realisierte wohl auch die Aufarbeitungskommission und führte ins Feld, dass sich die Sendung über Betroffene "in makaberer Weise lustig" mache und ihre Menschenwürde verletze. Der Beitrag sei undifferenziert und habe "verhetzende Wirkungen", dies verletzte Programmgrundsätze.
Ein unbegründeter Vorwurf. An keiner Stelle machte sich Böhmermann über Opfer lustig und schon gar nicht in makaberer Weise. Im Gegenteil: Gleich zu Beginn der Sendung ordnete er in einem "Disclaimer" ein, dass es nicht um organisierte sexualisierte Gewalt gehe, sondern um Gewalt durch mystische Gruppen. Im Mittelteil heißt es klipp und klar: "Es gibt viele Menschen, die wirklich schreckliche Traumata erlitten haben und die sich darum Psychotherapeut:innen anvertrauen."
Worin die allgemeine "Verhetzung" von Missbrauchsopfern liegen sollte, vermochte die Aufarbeitungskommission in ihrer argumentativ schwachen Beschwerde nicht ansatzweise zu begründen. Sie legte nicht einmal dar, mit welchen konkreten Aussagen Böhmermann denn gehetzt oder aufgewiegelt habe – juristisch eigentlich ein Totalausfall.
Programmausschuss wollte Beschwerde ablehnen
So verwunderte es nicht, dass der zuständige Programmausschuss des ZDF-Fernsehrats dem Plenum die Zurückweisung der Programmbeschwerde empfahl. In der LTO vorliegenden Beschlussempfehlung heißt es: Eine Verletzung der Würde der Betroffenen sexueller Gewalt sei nicht gegeben, da Böhmermann "auf ernste und empathische Weise über solche Opfer spricht und sie gerade vor fragwürdigen Methoden und Therapien geschützt wissen möchte". Die Sendung wolle "Patienten vor unseriösen Therapeuten ebenso schützen wie Psychotherapeuten vor einer Beeinflussung durch Fortbildungen mit wissenschaftlich nicht belegten Theorien." Der Vorwurf der "verhetzenden Wirkung" gegen alle Betroffenen sexualisierter Gewalt sei nicht belegt und gehe ins Leere.
Doch nach Vorstellung dieser Empfehlung in der Fernsehratssitzung vom 8. Dezember vergangenen Jahres geschah Außergewöhnliches: Nach und nach meldeten sich scheinbar orchestriert Personen zu Wort, die den Beitrag – ohne jedwede rechtliche Anknüpfung an die ZDF-Richtlinien – gefühlig kritisierten und ankündigten, gegen die Abweisung der Programmbeschwerde zu stimmen.
Diskussion ohne rechtliche Fundierung
Den Auftakt machte laut LTO vorliegendem internen Protokoll der Vertreter der katholischen Kirche im Fernsehrat, Hans Langendörfer. Es gebe Themen, die nicht für Satire geeignet seien. Es sei "nicht hilfreich", dass die Sendung Aussagen über sexuellen Missbrauch in verschiedenen Kontexten tendenziell infrage stelle. Dabei hatte die Sendung genau dies nicht getan, sondern solche Aussagen explizit nur im Kontext "rituelle, satanistische Gewalt" infrage gestellt. Was "nicht hilfreich" mit der Verletzung von ZDF-Programmgrundsätzen zu tun habe, führte Langendörfer nicht aus.
Der Vertreter des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Holger Schwannecke, hielt das Thema für ein Satireformat für ungeeignet. Die CDU-Bundestagsabgeordnete Christiane Schenderlein bemerkte, die Sendung sei nicht "differenziert" und "empathisch" und die Beschwerde habe schon deswegen Gewicht, weil die Aufarbeitungskommission als Beschwerdeführerin "viele Opfergruppen vertrete".
Auch die Präsidentin des deutschen Caritasverbandes, Eva Maria Welskop-Deffaa, zeigte sich autoritätsgläubig. Die Mitglieder der Aufarbeitungskommission seien ja schließlich Experten und müssten daher ernst genommen werden. Aufhorchen ließ dabei ihre explizite Erwähnung von Christine Bergmann. Die zu dieser Zeit noch Vorsitzende der beschwerdeführenden Aufarbeitungskommission und frühere Bundesfamilienministerin war selbst jahrelang wichtiges Fernsehratsmitglied und dort Vorsitzende des Programmausschusses Programmdirektion. Sie gilt im Fernsehrat auch heute noch als bestens vernetzt.
Familienministerin Paus schweigt trotz Befangenheit nicht
Sodann folgte der Auftritt der aktuellen Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Die Grünen). Auch sie kündigte an, der Zurückweisung der Programmbeschwerde nicht zuzustimmen. Die Umsetzung der Sendung halte sie für nicht gelungen, da die Perspektive der Betroffenen nicht ausreichend berücksichtigt worden sei. Ihre Argumentation: im Grunde eine Übernahme der Beschwerde. Hatte die Ministerin Kontakt mit ihrer Amtsvorgängerin Christine Bergmann? Auf LTO-Anfrage verneint dies das Familienministerium.
Dass die Familienministerin den Kritikern der Sendung öffentlich beisprang, auch wenn sie sich bei der späteren Abstimmung enthielt, ist nicht unproblematisch: Ihr Ministerium war in der Sendung wegen der Verbreitung eines pseudowissenschaftlichen Videos über "mind control" selbst kritisiert worden. Das war für Paus trotz auf der Hand liegender Interessenkollision offenbar kein Grund für Zurückhaltung. Was sagt die Ministerin zum Vorwurf der Befangenheit. Auf LTO-Anfrage äußert das Ministerium, die Stellungnahme der Ministerin in der Sitzung stehe in keinem Zusammenhang mit einer Ministeriumskritik.
Vergeblicher Appell zur Beachtung der Rechtsnormen
ZDF-Intendant Norbert Himmler versuchte sodann, das Ruder behutsam diplomatisch in die andere Richtung zu steuern. Zwar stimme ihn die Debatte nachdenklich. Doch müsse die etwaige Wirkung der Sendung mit der gleichfalls moralischen Verpflichtung, Rechercheergebnisse zu schwarzen Schafen einer Branche zu veröffentlichen und Missstände aufzudecken, abgewogen werden. Es sei indes allein Entscheidung des Fernsehrats, über die Programmbeschwerde zu urteilen.
Den erstaunlicherweise nötigen Hinweis, dass die Stattgabe einer Programmbeschwerde nicht losgelöst von rechtlichen Bestimmungen erfolgen darf, musste sodann Fernsehratsmitglied Angela Spitzig, Vertreterin der Medienbranche Nordrhein-Westfalen, nachliefern. Sie konstatierte, dass sich die Wortmeldungen auf sehr emotionaler Ebene mit dem Thema auseinandersetzten, statt zu begründen, warum Programmgrundsätze des ZDF verletzt seien. Zuvor hatte auch schon Christoph Becker, Vorstand der Interessengemeinschaft der Hamburger Musikwirtschaft, moniert, dass sich die Wortmeldungen nicht im Ansatz mit den tatsächlichen Moderationstexten und Rechercheergebnissen der Sendung auseinandersetzten.
Allein vergeblich. In der nachfolgenden Abstimmung, die wegen chaotischer Zustände bei der digitalen Stimmabgabe wiederholt werden musste, stimmten nur 15 Personen für die Zurückweisung der Rüge, jedoch 18 dagegen, 11 enthielten sich. Damit wurde diese Programmbeschwerde und auch eine weitere ähnlich gelagerte angenommen. Der ZDF-Intendant zog daraus die – von den Statuten nicht vorgeschriebene – Konsequenz, die Sendung offline zu stellen.
Beschwerdeentscheidung ist formell rechtsfehlerhaft
Doch wie nun begründen, dass die Böhmermann-Sendung Programmgrundsätze des ZDF verletzt hat, wenn doch die Wortmeldungen für die Stattgabe sich nicht mit den ZDF-Richtlinien beschäftigten und das Votum des zuständigen Ausschusses keine Verletzung erkannte? Diese argumentative Herausforderung musste der Fernsehrat nicht meistern. Denn begründet werden muss nur die Zurückweisung einer Beschwerde, nicht aber die Stattgabe, wie die damalige Fernsehratsvorsitzende Marlehn Thieme, selbst Juristin, wohl durchaus erleichtert feststellen konnte.
Allerdings sehen die Verfahrensgrundsätze zur Behandlung von Programmbeschwerden gem. § 21 Abs. 2 ZDF-Satzung eindeutig vor, dass zumindest festgehalten werden muss, gegen welche Programmgrundsätze eine Sendung verstoßen haben soll. Dort heißt es unter III. Alt. 2, dass bei Feststellung eines Verstoßes die folgende Formulierung zu verwenden ist: "Der Fernsehrat stellt fest, dass gegen ... (Richtlinie, Programmgrundsatz) verstoßen wurde".
Der Sinn und Zweck liegt auf der Hand: Nur wenn den Redaktionen mitgeteilt wird, gegen welchen Programmgrundsatz eine Sendung verstoßen hat, können sie in Zukunft ähnlich Verstöße vermeiden. Doch im Entscheidungsprotokoll zur Böhmermann-Rüge fehlt der Zusatz, genauso wie in der öffentlich zugänglichen Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse. Kein Wunder also, dass sich die Böhmermann-Redaktion darüber beschwerte, gar nicht zu wissen, welche rechtlichen Gründe der Stattgabe der Beschwerde zugrunde liegen.
LTO wollte vom Gremienbüro des ZDF-Fernsehrats wissen, was es zu dem offenkundigen Verstoß gegen die eigenen Regularien sagt. Wird eingeräumt, dass Verfahrensstandards verletzt wurden, wenn in der stattgebenden Entscheidung der Hinweis auf die verletzte Programmnorm fehlt? Darauf keine Antwort. Wird der Fernsehrat sich noch einmal mit der Beschwerde beschäftigen, um den Fehler durch Mitteilung des vermeintlich verletzten Programmgrundsatzes zu heilen? Keine Antwort. Wie sollen die Redaktionen aus Fehlern lernen, wenn Ihnen nicht mitgeteilt wird, gegen welchen Programmgrundsatz verstoßen wurde? Ebenfalls keine Antwort.
Viel spricht dafür, dass die fehlende Nennung der verletzten Programmnorm im Tenor kein Zufall ist, erfolgten doch auch die vorherigen Wortbeiträge der Beschwerdebefürworter ohne wirkliche Bezugnahme auf die ZDF-Programmgrundsätze.
Entscheidungen gerichtlich nicht überprüfbar
In der Folgesitzung des Fernsehrates im März 2023 sagte die damalige Vorsitzende des ZDF-Fernsehrates Thieme selbstzufrieden: "Ich habe mich sehr gefreut, dass wir nichts falsch gemacht haben, was der Rechtsaufsicht irgendwelchen Anlass zu Kritik gegeben hätte. Das lässt uns etwas aufatmen."
Die Aussage bezog sich zwar auf eine andere Programmbeschwerde – die für das ZDF zuständige Rechtsaufsicht in Bremen erkannte keinen Fehler in der Abweisung der Programmbeschwerde einer Zuschauerin –, doch der Hintergrund für Thiemes "Aufatmen" war offenkundig die massive Kritik von Medien, Wissenschaft und einigen Ratsmitgliedern an der Stattgabe der Beschwerde gegen die Böhmermann-Sendung. Die selbstermutigenden Worte in Richtung der Fernsehratsmitglieder dienten offenbar der Vergewisserung der Fehlerlosigkeit der eigenen Arbeitsweise.
Doch Thiemes Stolz über die fehlende Beanstandung der Arbeit des Rates war ein Lobgesang auf das Triviale. Denn nach der Rechtsprechung liegt die Art und Weise, wie der Fernsehrat über Programmbeschwerden entscheidet, "ausschließlich im Ermessen" des Rates. Er kann also so gut wie keine Fehler machen, die gerichtlich oder behördlich beanstandet werden könnten. Ein Bürger kann etwa nicht mehr verlangen, als dass sich der Rat mit seiner Beschwerde beschäftigt und ihm das Ergebnis mitgeteilt wird (Oberverwaltungsgericht (OVG) Rheinland-Pfalz, Beschl. vom 19.06.2019, Az.: 2 A 10749/19, Rn. 9). Umgekehrt können weder das ZDF noch die Redaktionen oder Produktionsfirmen gegen die Stattgabe einer Programmbeschwerde erfolgversprechend vorgehen.
So liegt es ganz in der freien Entscheidung des neu konstituierten ZDF-Fernsehrats, sich die Böhmermann-"Rüge" noch einmal vorzunehmen, kritisch über diese zu reflektieren oder der Redaktion und Öffentlichkeit wenigstens mitzuteilen, welche Programmgrundsätze als verletzt angesehen werden.
Ruf des Fernsehrates dauerhaft in Gefahr
Der Fall Böhmermann offenbart strukturelle Probleme im Beschwerdeverfahren. Auch der bisherige Fernsehrat unter der Leitung von Marlehn Thieme erkannte den Handlungsbedarf. In der März-Sitzung verkündete Thieme, dass der Fernsehrat dem Fernsehrat der kommenden Amtsperiode die Einrichtung einer Arbeitsgruppe empfehle, die das Beschwerdeverfahren eingehend prüfen und Verbesserungsvorschläge erarbeiten soll. "Es ist wichtig, dass man seine Verfahren hin und wieder auf den Prüfstand stellt", betonte Thieme.
Dieser Vorschlag scheint als Kompromiss zu fungieren. Die Fernsehratsmitglieder Christoph Becker, Katrin Kroemer, Kathrin Sonnenholzner und Angela Spitzig hatten ursprünglich beantragt, die Beschwerden gegen die Böhmermann-Sendung erneut zu beraten. Diesen Antrag zogen sie zurück, wohl im Austausch gegen die Zusage, das Beschwerdeverfahren strukturell zu überarbeiten.
Eine solche Reform ist dringlich. Denn sollte die Entscheidung im Fall Böhmermann ohne prozedurale Konsequenzen bleiben, wird der Fernsehrat weiter als Gremium wahrgenommen werden, das seine Entscheidungen nicht auf rechtlicher Grundlage, sondern nach subjektiven Kriterien wie “nicht hilfreich” oder "nicht empathisch" trifft. Ein Gremium, das nicht anhand der eigenen Regeln urteilt, hat seine Glaubwürdigkeit verloren.
Wenn sich der Wandel der politischen Landschaft auch im Fernsehrat widerspiegelt, besteht auch die Gefahr, dass Programmbeschwerden künftig aus rein politischen Gründen erhoben und Entscheidungen von der Stimmungslage geprägt werden. Die aktuelle Debatte über Resilienz betrifft daher auch den Fernsehrat: Er muss sicherstellen, dass seine Entscheidungen auf klaren, rechtlichen und inhaltlichen Grundlagen basieren, um seine Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit abseits von Gruppenbildungen (etwa roter und schwarzer Freundeskreis) zu wahren.
So kann der ZDF-Fernsehrat seinen Ruf retten
Vor allem muss der ZDF-Fernsehrat sicherstellen, dass rechtliche Mindeststandards bei der Stattgabe oder Zurückweisung einer Programmbeschwerde eingehalten werden. Hierfür könnten folgende acht Reformpunkte in Betracht kommen:
- Begründung bei stattgebenden Entscheidungen: Jede Entscheidung, einer Programmbeschwerde stattzugeben, muss umfassend und nachvollziehbar begründet werden. Es ist entscheidend, exakt darzulegen, gegen welche spezifischen Programmgrundsätze (etwa Menschenwürde, Unparteilichkeit, Sorgfaltspflicht) durch welche Aussagen oder Darstellungen verstoßen wurde. Dies sorgt für mehr Substanz in der Entscheidungsfindung.
- Abstimmungsverfahren nach Programmgrundsätzen: Die Abstimmung sollte nicht pauschal erfolgen, sondern über jeden einzelnen in der Beschwerde genannten Programmgrundsatz separat abgestimmt werden, ob einer Verletzung vorliegt. Dies verdeutlicht den Ratsmitgliedern, dass sie nach rechtlichen Kriterien und nicht nach persönlichen Präferenzen oder Meinungen zu entscheiden haben.
- Schulung der Ratsmitglieder: Um sicherzustellen, dass die Ratsmitglieder über aktuelles Wissen zu den ZDF-Programmgrundsätzen und journalistischen Standards verfügen, sollte zu Beginn jeder Amtsperiode des Fernsehrats eine Schulung stattfinden. Dabei werden Sinn und Zweck sowie der Bedeutungshorizont der Bestimmungen erläutert. Da die Ratsmitglieder bei Abstimmungen quasi-richterliche Funktionen ausüben, ist es zudem essenziell, ihnen Grundkenntnisse über unabhängige Entscheidungsfindung zu vermitteln. Dazu gehört, dass Beschwerden unvoreingenommen behandelt werden, unabhängig davon, von welchen Personen oder Organisationen sie eingereicht wurden.
- Neubefassung bei formellen Fehlern: Wenn gravierende formelle Fehler auftreten, wie beispielsweise die fehlende Nennung des verletzten Programmgrundsatzes im Fall Böhmermann, muss der Fernsehrat verpflichtet werden können, den Fall erneut zu behandeln. Dies stellt strukturell sicher, dass verfahrensrechtliche Vorgaben stets eingehalten und rechtsfehlerhafte Entscheidungen vermieden werden.
- Verlängerung der Beratung bei Abweichung vom Gremienvorschlag: Wenn der Fernsehrat beabsichtigt, von der Empfehlung des jeweiligen Programmausschusses abzuweichen, sollte eine verlängerte Beratungsphase eingerichtet werden. Dies ermöglicht es den Mitgliedern, die einer Beschwerde entgegen der Empfehlung doch stattgeben oder zurückweisen wollen, ein gut durchdachtes Votum zu erarbeiten, das auf rechtlichen Überlegungen basiert. Hiermit können rechtlich unfundierte Spontanentscheidungen vermieden werden.
- Vorführung der Sendung bei Abstimmung: Angesichts der erheblichen Konsequenzen einer stattgegebenen Beschwerde, insbesondere der Möglichkeit, einen Beitrag offline zu nehmen, sollte eine stattgebende Entscheidung voraussetzen, dass der Beitrag im Gremium vorgeführt wird. Dies fördert eine Entscheidung, die auf der Sendung selbst und ihrer Wirkung auf Zuschauer basiert und nicht auf reflexhafter Ablehnung oder Zustimmung zu bestimmten Personen oder Inhalten.
- Individualisierte Abstimmung: Um Transparenz und Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten, sollte jede Abstimmung über Programmbeschwerden individualisiert erfolgen. Es muss dokumentiert werden, wie jedes Mitglied abgestimmt hat, um Verantwortung und Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten.
- Verhältnismäßigkeitsprüfung: Es sollte obligatorisch geprüft werden, welche Maßnahmen nach einer Programmbeschwerde verhältnismäßig sind und eine entsprechende Empfehlung an den Intendanten übermittelt werden. Das Offline-Nehmen einer Sendung darf aufgrund ihres gravierenden Eingriffs in die Meinungsfreiheit der Redaktionen nur erfolgen, wenn eine schwerwiegende Verletzung von Programmgrundsätzen bejaht werden kann. Vorrangig sollte geprüft werden, ob mildere Maßnahmen, wie eine Korrektur oder eine zusätzliche Erklärung, etwa in Form eines Hinweises auf die erfolgreiche Programmbeschwerde in Verbindung mit dem Beitrag in der Mediathek, angemessener wären.
Arbeitsgruppe soll kommen
Nach Auskunft des Gremienbüros des ZDF gegenüber LTO müssen sich die circa 30 neuen Mitglieder des Gremiums erst einmal einarbeiten, bevor die Arbeitsgruppe zur möglichen Reformierung des Prozederes der Programmbeschwerde gebildet wird. Dies soll aber noch in diesem Jahr geschehen.
Der neu zusammengesetzte ZDF-Fernsehrat, dessen Mitglieder zur Hälfte neu berufen wurden, steht also vor der anspruchsvollen Aufgabe, das Vertrauen in das Gremium durch eine Strukturreform der Programmbeschwerde zu stärken. Der Rat sollte die Gelegenheit nutzen, seinen Ruf als verlässliche und rechtskonforme Instanz (wieder-)herzustellen und dann zu festigen. Durch transparente Entscheidungen und eine strengere Orientierung an den geltenden Programmgrundsätzen kann und muss der Fernsehrat beweisen, dass er objektiv, unabhängig sowie frei von Aversionen oder umgekehrt Vorlieben gegenüber einzelnen Programmmachern und Sendungen urteilt.
ZDF-Magazin-Royale-Sendung über "Rituelle Gewalt" weiter offline: . In: Legal Tribune Online, 26.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55505 (abgerufen am: 11.10.2024 )
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