Das BMJ geht die Reform des Völkerstrafrechts an: Opfer von Völkerstraftaten sollen sich künftig als Nebenkläger an Prozessen in Deutschland beteiligen können. Bislang ging das nur über Umwege.
In den vergangenen Jahren hat das Völkerstrafrecht in Deutschland deutlich mehr Aufmerksamkeit bekommen. Aufsehen erregten vor allem die Verfahren wegen Menschenrechtsverbrechen des Islamischen Staats (IS) an den Jesidinnen im Irak und die Prozesse gegen Angehörige des Assad-Regimes wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat der Generalbundesanwalt schon früh Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen aufgenommen – allerdings zunächst in Form eines Strukturermittlungsverfahrens ohne konkrete Beschuldigte.
Es ist das sogenannte Weltrechtsprinzip, aufgrund dessen die Bundesanwaltschaft auch im Ausland begangene Taten verfolgen darf, selbst wenn diese gar keinen Bezug zu Deutschland aufweisen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass an vielen Stellen im Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) noch Reformbedarf besteht – vor allem in Bezug auf die Opferrechte.
Im Februar hatte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) ein Eckpunktepapier mit Änderungsvorschlägen vorgelegt, nun liegt der Referentenentwurf vor. So "werden wir im deutschen Recht Strafbarkeitslücken schließen und Opferrechte von Betroffenen von Völkerstraftaten stärken", kündigte Buschmann an. Außerdem sieht der Gesetzentwurf verschiedene Regelungen vor, um die Verbreitung wichtiger Völkerstrafprozesse zu fördern, u.a. durch Videoaufzeichnungen zu historischen und wissenschaftlichen Zwecken.
Nebenklagebefugnis bislang nur über Umwege
Zentraler Punkt des Referentenentwurfs ist die Nebenklagefähigkeit der Straftatbestände des VStGB. Durch die Nebenklage können sich Opfer von Straftaten aktiv am jeweiligen Strafverfahren beteiligen. Nebenklägern stehen die in § 397 Strafprozessordnung (StPO) genannten Rechte zu, insbesondere dürfen sie auch Zeugen und Angeklagte befragen. Der Katalog in § 395 Abs. 1 StPO zählt die Straftaten auf, bei denen eine Nebenklage immer möglich ist. Die Vorschrift nennt bislang etwa Körperverletzungs- und (versuchte) Tötungsdelikte, Menschenhandel und sexuellen Missbrauch, die völkerstrafrechtlichen Delikte tauchen jedoch nicht auf.
Häufig sind bei diesen Verbrechen zwar tateinheitlich auch einige der in § 395 Abs. 1 StPO genannten Straftatbestände erfüllt, etwa Menschenhandel. Über die "Auffangklausel" des § 395 Abs. 3 StPO können sich zudem Opfer anderer als der in Abs. 1 genannten rechtswidriger Taten als Nebenkläger anschließen, wenn dies aus besonderen Gründen geboten erscheint. Über diese "Umwege" konnten Opfer von Völkerstraftaten ihre Nebenklagebefugnis unter Umständen schon nach der bestehenden Rechtslage ausüben. Das ist nach dem Referentenentwurf nicht mehr erforderlich.
Der Entwurf sieht vor, den Katalog des § 395 Abs. 1 StPO zu erweitern und Straftaten nach dem VStGB einzubeziehen. Menschen bzw. Angehörige von Menschen, die Opfer von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen – mit Ausnahme solcher gegen das Eigentum und gegen sonstige Rechte – nach den §§ 6 bis 8 und 10 bis 12 VStGB geworden sind, sollen sich den in Deutschland geführten Strafverfahren als Nebenkläger anschließen können. Hinzukommen muss, dass sie in ihren Rechten auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit und religiöse und sexuelle Selbstbestimmung verletzt sind. "Dies überzeugt und entspricht dem am Individualrechtsgüterschutz orientierten strafprozessualen Verletztenbegriff", ordnet Dr. Andreas Werkmeister, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität Berlin, gegenüber LTO ein.
Um die Hauptverhandlungen mit vielen Nebenklägern dennoch effektiv durchführen zu können, soll unter anderem § 397b Abs. 1 StPO um ein weiteres Regelbeispiel ergänzt werden. Diese Vorschrift ermöglicht die gemeinschaftliche Nebenklagevertretung durch einen Rechtsanwalt bzw. eine Rechtsanwältin.
Außerdem sollen die als Nebenkläger zugelassenen Opfer von Völkerstraftaten ohne weitere Voraussetzungen einen Opferanwalt und auch eine psychosoziale Prozessbegleitung beigeordnet bekommen können.
Auch Völkermord künftig nebenklagefähig
Strafrechtler halten die Reform für wichtig und notwendig zur Stärkung der Opfer von Völkerstraftaten. "Mit Ausnahme von Mord unterliegen die in § 395 StPO genannten Delikte der Verjährung", erklärt Rechtsanwalt Dr. Andrej Umansky von der Kanzlei Gazeas Nepomuck, der in vielen Verfahren gegen IS-Angehörige Jesidinnen als Nebenklägerinnen vertreten hat. Verbrechen nach dem VStGB hingegen verjähren nicht, § 5 VStGB.
Auch der Völkermord nach § 6 VStGB zählt künftig zum Katalog der nebenklagefähigen Völkerstraftaten. "Das ist besonders bemerkenswert", so Werkmeister. Beim Völkermord hatte die Rechtsprechung bislang den Standpunkt vertreten, dass das Delikt nur dem Schutz der Völkergemeinschaft als solcher dient und einen Individualschutz abgelehnt. Dies wurde als Argument gegen eine Nebenklagefähigkeit verwendet. Mittlerweile scheint die Rechtsprechung dem individualschützenden Charakter aber offener gegenüberzustehen (BGH, Beschl. v. 30.11.2022, Az. 3 StR 230/22 ). Zudem sei die Aufnahme des § 6 in den Nebenklagekatalog "bereits aufgrund der Schwere des aus ihm sprechenden menschenverachtenden Charakters gerechtfertigt", heißt es im Referentenentwurf.
Die Nebenklagefähigkeit der Völkerstraftaten hat nicht nur Auswirkungen auf das erstinstanzliche Verfahren. Künftig kann der Nebenkläger, der Opfer von Delikten nach dem VStGB geworden ist, auch wegen dieser Taten Revision einlegen. Das war vorher aufgrund der Beschränkung des § 400 StPO auf die nebenklagefähigen Delikte nicht möglich.
Änderungen im materiellen Völkerstrafrecht
Auch materiell-rechtlich sind nach dem Referentenentwurf Änderungen vorgesehen, insbesondere um Strafbarkeitslücken zu schließen und um das VStGB an das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (Rom-Statut) anzupassen.
Dies gilt vor allem im Hinblick auf sexualisierte Gewalt. § 7 VStGB (Verbrechen gegen die Menschlichkeit) und § 8 VStGB (Kriegsverbrechen gegen Personen) sollen künftig auch die Tatbestände der sexuellen Sklaverei, des sexuellen Übergriffs sowie des erzwungenen Schwangerschaftsabbruchs umfassen.
Eine Tatbestandsalternative des § 7 StGB ist das sogenannte zwangsweise Verschwindenlassen von Personen, um diese dem Schutz des Gesetzes zu entziehen. Bislang setzte dies neben der Entführung oder Freiheitsberaubung voraus, dass Angehörige sich bei den entsprechenden Behörden nach dem Verbleib der Personen erkundigten. Dieses Nachfrageerfordernis soll künftig entfallen – vor allem zum Schutz der Angehörigen.
Die Verwendung von Waffen, deren Splitter beim Röntgen nicht erkennbar sind, sowie von dauerhaft blindmachenden Laserwaffen in bewaffneten Konflikten soll künftig entsprechend dem Rom-Statut als Kriegsverbrechen geahndet werden.
Übersetzungen und Videoaufzeichnungen
Um der großen internationalen Bedeutung deutscher Völkerstrafrechtsprozesse Rechnung zu tragen, sind auch zum Ablauf des Verfahrens sind Änderungen geplant.
In § 185 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) soll künftig geregelt werden, dass auch Medienvertreter Verdolmetschungen in Gerichtsverfahren nutzen können, wenn sie kein Deutsch sprechen. Bislang gilt diese Regelung nur für Prozessbeteiligte.
Die Aufzeichnung der Hauptverhandlung in sämtlichen Strafverfahren in Deutschland soll ab 2030 verpflichtend werden – nach vehementer Kritik von Richtern und Staatsanwälten allerdings nur noch als Ton- und nicht mehr als Videoaufzeichnung. Bei völkerstrafrechtlichen Verfahren von herausragender Bedeutung sollen für wissenschaftliche oder historische Zwecke zudem Filmaufnahmen möglich sein. Hierzu soll § 169 Abs. 2 S. 1 GVG entsprechend angepasst werden.
Der Vorreiterrolle gerecht werden
Nicht ganz zu Unrecht spricht der Referentenentwurf von einer "Vorreiterrolle der deutschen Justiz bei der Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen". So führte das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz den weltweit ersten Prozess gegen Angehörige des Assad-Regimes wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. "Die Stärkung der Nebenklage sowie die Dokumentationsmöglichkeit der Hauptverhandlung nach § 169 GVG werden sicherlich für die Fortsetzung dieser Entwicklung sorgen", ist sich Umansky sicher.
Grundsätzlich begrüßen die Strafrechtler Umansky und Werkmeister die Reform. "Der Entwurf ist ein starkes Zeichen", so Umansky. Er kritisiert jedoch, dass das Adhäsionsverfahren nach § 403 StPO, also die Möglichkeit, zivilrechtliche Ansprüche, die als Folge einer Straftat entstanden sind, im Strafverfahren geltend zu machen, nicht an die Besonderheiten des Völkerstrafrechts angepasst wurde. "Daher bleibt es dabei, dass es für Opfer in diesen Verfahren in der Regel keine erfolgreichen Anträge möglich sind", sagt er.
Werkmeister regt die Überlegung an, "ob im Interesse der Waffengleichheit parallel auch Reformen bzgl. der Verteidigung in Völkerstrafsachen angestrengt werden müssen". Zumindest sei in der Verfahrenspraxis besonders auf die Rechte der Beschuldigten zu achten.
Bis zum 25. August haben Länder und Verbände jetzt Gelegenheit, zu dem Referentenentwurf Stellung zu nehmen und damit noch Änderungen herbeizuführen.
BMJ veröffentlicht Referentenentwurf: . In: Legal Tribune Online, 19.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52283 (abgerufen am: 06.12.2024 )
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