Eine Frau liegt seit Jahren im Koma, Aussicht auf Besserung gibt es nicht. Eigentlich hatte sie für solche Fälle eine Patientenverfügung hinterlassen, doch die lässt der BGH nicht gelten. Eine fatale Fehlentscheidung, meint Wolfgang Putz.
LTO: Herr Putz, der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einem aufsehenerregenden Beschluss entschieden, dass eine komatöse Frau vorerst weiterleben muss, obwohl sie eine Patientenverfügung nebst Vorsorgevollmacht hinterlassen hat (Beschl. v. 06.07.2016, Az. XII ZB 61/16). Im Prozess standen sich die Töchter der Frau gegenüber – eine davon vertreten durch Sie. Erläutern Sie doch bitte, wie es zu dieser Konstellation kam.
Putz: Die Betroffene hatte einer ihrer drei Töchter 2003 eine notarielle Generalvollmacht und zusätzlich eine Vorsorgevollmacht eingeräumt; letztere erneuerte sie 2011 noch einmal. Ende 2011 erlitt sie dann einen Hirnschlag und in den folgenden Jahren mehrere epileptische Anfälle, in deren Folge sie erst die Fähigkeit zu Sprechen und dann das gesamte Bewusstsein verlor, ohne Chance auf Besserung. Die bevollmächtigte Tochter weigert sich aber, die lebenserhaltenden Maßnahmen für ihre Mutter beenden zu lassen. Dagegen klagen ihre beiden Schwestern, eine davon vertreten durch mich.
LTO: Aber ist es nicht das gute Recht der Tochter, so zu entscheiden, wenn sie – und gerade nicht ihre beiden Schwestern – von der Mutter bevollmächtigt wurde?
Putz: Formell ist es das, deshalb wird die Mutter ja auch bis heute am Leben gehalten. Aber die Vorsorgevollmacht regelt nur das Vertretungsrecht im Außenverhältnis; sie sagt nichts über den eigentlichen, materiellen Willen des Patienten aus. Der ist in einem zweiten Dokument, der sogenannten Patientenverfügung, geregelt. Und dort hat die Mutter erklärt, dass "lebensverlängernde Maßnahmen" u.a. für den Fall unterbleiben sollten, dass vitale Körperfunktionen dauerhaft und ohne Aussicht auf Besserung ausfallen, oder dass aufgrund von Krankheit oder Unfall ein schwerer Dauerschaden des Gehirns bei ihr zurückbleiben sollte.
Das ist hier zweifellos der Fall, aber die allein bevollmächtigte Tochter weigert sich, im Außenverhältnis umzusetzen, was ihr im Innenverhältnis aufgegeben wurde. Deshalb haben ihre beiden Schwestern ihre gerichtliche Bestellung als Kontrollbetreuer nach § 1896 Abs. 3 BGB beantragt, um in dieser Rolle die bestehende Vollmacht widerrufen und den Willen der Mutter durchsetzen zu können.
"Der BGH hat Zweifel konstruiert, wo man keine haben konnte"
LTO: Damit sind sie nun vor dem BGH gescheitert. Warum, wenn die Lage doch so eindeutig ist, wie Sie meinen?
Putz: Der BGH hat angenommen, dass die Patientenverfügung unwirksam, weil zu unbestimmt sei. Dass die Tochter die Grenzen ihrer Vertretungsbefugnis überschreitet, wollte der BGH dementsprechend nicht anerkennen.
LTO: Sie halten das für falsch.
Putz: Falscher geht es kaum. Der BGH hat Zweifel konstruiert, wo man einfach keine haben konnte.
Die Patientenverfügung enthält vier Fallgruppen, in denen die Mutter sterben wollte. Zwei davon, nämlich der dauerhafte Ausfall von Vitalfunktionen ohne Aussicht auf Besserung und der schwere Dauerschaden des Gehirns infolge von Unfall oder Krankheit, liegen hier ausweislich eines im Verfahren eingeholten Gutachtens zweifelsfrei vor.
Es stimmt zwar, dass es Situationen geben mag, in denen sich darüber streiten lässt, ob ein Schaden am Hirn bereits ein "schwerer" Schaden ist. Und wenn ein vitales Organ wie z.B. die Lunge ohne Chance auf Besserung ausfällt, der Patient im Übrigen aber kerngesund ist, wird man auch schwerlich annehmen können, dass dies von der Verfügung erfasst werden soll. Hier hingegen ist buchstäblich der schwerstmögliche Schaden am Hirn der Frau eingetreten, der überhaupt eintreten kann, ohne dass der Patient unmittelbar stirbt. Die Besserungschance ist gleich null, und im Gegensatz zur Lunge lässt sich ein nicht mehr funktionierendes Großhirn auch nicht durch eine Maschine ersetzen.
Es ist geradezu das Musterbeispiel des Falls, an den die meisten Leute denken, wenn sie eine Patientenverfügung verfassen, aber dem BGH trotzdem nicht eindeutig genug. Das gilt übrigens auch für den Begriff "lebensverlängernde Maßnahmen": Auch hier soll angeblich nicht klar sein, ob damit die künstliche Ernährung per Magensonde gemeint ist. Aber was soll künstliche Ernährung denn sonst sein, wenn keine lebensverlängernde Maßnahme?
"Zu spezifische Angaben galten eigentlich als gefährlich"
LTO: Wie hätte die Formulierung nach Auffassung des BGH denn lauten müssen?
Putz: Wie sie exakt hätte lauten müssen, lässt er offen, was die Unsicherheit noch vergrößert. Es wäre aber wohl notwendig gewesen, nicht nur pauschal von "lebensverlängernden Maßnahmen" zu sprechen, sondern diese konkret zu benennen, also z.B.: künstliche Beatmung, künstliche Ernährung, Defibrilation, etc. Dasselbe soll auch für die Krankheiten bzw. Behandlungssituationen gelten, in denen diese Maßnahmen nicht mehr gewünscht sind.
Ich halte das für völlig abwegig, weil kein Laie alle denkbaren pathologischen Zustände und Behandlungsmethoden kennt und benennen kann. Bislang habe ich meinen Mandanten immer davon abgeraten, aus ihrer Patientenverfügung ein Medizinlexikon zu machen, weil man eigentlich der Meinung war, dass zu große Spezifizität vor Gericht eher schadet: Wenn ein komatöser Patient fünf Behandlungsformen aufgezählt hat, die er alle nicht will, und der Arzt ihn dann mit einer sechsten am Leben hält, könnte das Gericht im Umkehrschluss folgern, dass der Patient mit dieser Maßnahme wohl einverstanden war – dabei hat er bloß nicht an sie gedacht bzw. kannte sie gar nicht. Dasselbe gilt für die denkbaren Krankheitsbilder.
2/2: "Offenbar hat die Pro-Leben-Fraktion die Überhand gewonnen"
LTO: Wie viele Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen dürften von der Entscheidung betroffen sein?
Putz: Deutschlandweit mehrere hunderttausend, schätze ich. Die Frau in dem BGH-Verfahren hatte ein Muster der evangelischen Kirche verwendet. Das war recht weit verbreitet, und etliche andere Institutionen haben ähnliche Formulare ausgegeben.
LTO: Der 12. Zivilsenat des BGH hat noch 2014 eine Entscheidung erlassen, die die Geltungsmacht von Patientenverfügungen deutlich stärkte (Beschl. v. 17.09.2014, Az. XII ZB 202/13). Wie kam es zu diesem Kurswechsel?
Putz: Ich kann mir das nur über personelle Änderungen im Senat erklären, wo die Pro-Leben-Fraktion offenbar die Überhand gewonnen hat.
"Der Sterbewunsch wird oft von den nächsten Verwandten vereitelt"
LTO: Was würden Sie Menschen raten, die bereits eine Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht haben oder jetzt eine anfertigen wollen?
Putz: Man sollte sichergehen, dass die Formulierung spezifisch genug ist, um den Anforderungen des BGH zu genügen. Bei den Formularen, die z.B. der Beck-Verlag anbietet, ist das der Fall. Auch die Musterdokumente, die meine Kanzlei kostenlos anbietet, sind nach dem Urteil weiterhin wirksam.
Mindestens ebenso wichtig ist allerdings die Auswahl der Person, die man bevollmächtigt – auch das führt der aktuelle Fall ja deutlich vor Augen. Es ist häufig so, dass der- oder diejenige sich im Fall der Fälle nicht in der Lage sieht, die emotionale Last und Verantwortung für den endgültigen Tod der Mutter (des Partners, Geschwisterteils, etc…) zu tragen. Viele kommen nicht damit zurecht, dass ein ihnen nahe stehender Mensch aus dem Leben scheidet, und versuchen ihn so lang es irgend geht bei sich zu halten.
Manchmal kommt auch ein gewisser Okkultismus hinzu, z.B. die Vorstellung, mit dem Komatösen irgendwie telepathisch oder emotional kommunizieren zu können. Selbst, wenn die Patientenverfügung dann wirksam ist, können Jahre vergehen, bis ein Verwandter sich durch sämtliche Instanzen geklagt und das Vertretungsrecht anstelle des Bevollmächtigten erhalten hat.
Dafür braucht man einen langen Atem, und für die Kläger kann es sehr belastend sein, zusehen zu müssen, wie ein Angehöriger Tag für Tag im Krankenhaus dahinsiecht. Wissen Sie, wie ein Komapatient nach drei Jahren aussieht? Nicht wie im Film, friedlich schlafend. Der Körper ist nicht dafür gemacht, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr regungslos dazuliegen. Diese Menschen sehen meistens grotesk deformiert aus, es ist ein furchtbares Bild.
LTO: Ihre Mandantin macht trotzdem weiter?
Putz: Sie und ihre Schwester, ja. Der BGH hat die Sache nicht endgültig entschieden, sondern ans Landgericht zurückverwiesen. Dort soll geprüft werden, ob sich der "mutmaßliche Wille" der Mutter z.B. durch Zeugenaussagen o.ä. ermitteln lässt, weil er aus der Patientenverfügung ja angeblich nicht hervorgeht.
In solchen Beweisaufnahmen wird dann alles Mögliche ausgegraben: Wie die Betroffene sich zum Thema Behandlungsabbruch und Sterbehilfe geäußert hat, wann und aus welcher Situation sie ihre eigene Patientenverfügung verfasst hat, etc. Letztlich ist das ein ziemlich wildes Heruminterpretieren in der Psyche eines anderen. Es dürfte nach dem BGH-Beschluss wohl sehr viel häufiger werden.
Wolfgang Putz ist Rechtsanwalt in München und Lehrbeauftragter an der Ludwigs-Maximilian-Universität. Er ist spezialisiert auf Medizinrecht, insb. Patientenrechte am Ende des Lebens und Verfasser zahlreicher Publikationen und Vorträge. In einer Entscheidung, die Rechtsgeschichte schrieb, wurde er 2010 durch den BGH vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen, nachdem eine Mandantin auf sein Anraten den Schlauch zur Magensonde ihrer todkranken Mutter durchtrennt hatte.
Das Interview führte Constantin Baron van Lijnden.
Constantin Baron van Lijnden, Rechtsanwalt Wolfgang Putz im Interview: "Der BGH hat hunderttausende Patientenverfügungen zunichte gemacht" . In: Legal Tribune Online, 12.08.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20276/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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