Nicht immer nur Corona. Der BGH urteilte 2021 zum Abgasskandal, werbenden Influencerinnen, randalierenden Fußballfans und strafbaren Cum-Ex-Geschäften.
Als der Bundesgerichtshof (BGH) 2020 seinen 70. Geburtstag feierte, betonten viele Gratulanten, dass sich in der Arbeit des höchsten Instanzgerichts das gesamte gesellschaftliche Spektrum an Rechtsfragen abbilde. Dass das Vertrauen in die Justiz laut dem alljährlichen Roland Rechtsreport stabil bleibt – trotz einiger Unzufriedenheit –, daran hat auch der BGH Anteil, wenn er Recht vereinheitlicht und fortbildet. Anders als viele Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts scheinen die BGH-Entscheidungen näher am alltäglichen Rechtsleben. Vom gutgläubigen PKW-Erwerb über Schönheitsreparaturen in der Mietwohnung bis zu Schadensersatz in der Baubranche.
Immer wieder sind aber auch Urteile darunter, die sich mit Grenzbereichen beschäftigen, die in unbekannte Welten und Abgründe des Zusammenlebens führen. Dann muss der BGH grundsätzliche Entscheidungen in Extremfällen treffen. Auch 2021 bilden die BGH-Urteile diese Mischung ab.
1/6: Diesel, Diesel, Diesel
Auch 2021 stand die Rechtsprechung des BGH wieder unter dem Eindruck der Coronapandemie. Aber auch ein weiteres Dauerthema beschäftigte die Karlsruher Richterinnen und Richter wie im Vorjahr: Das juristische Nachspiel zum Diesel-Abgasskandal. Der BGH hat dazu 2021 sogar einen Hilfssenat eingerichtet.
Zwar ist ein großer Teil durch die Musterfeststellungsklage oder Vergleiche schon abgearbeitet, in immer neuen BGH-Entscheidungen geht es um die Feinheiten bei der Abwicklung des Skandals: Die Rückzahlung von Leasing-Raten, die Verjährung für die Schadensersatzansprüche, der sog. "kleine Schadensersatz". Was passiert mit dem Schadensersatzanspruch, wenn man sein betroffenes Fahrzeug weiterverkauft hat? Und gehören zum Schadensersatz auch Extrakosten einer Ratenfinanzierung? Damit Sie den Überblick behalten, haben wir eine Übersicht zu bereits entschiedenen Themen angefertigt.
2/6: Ist das schon (Influencer-)Werbung?
Es gehört zum Geschäftsmodell von Influencerinnen und Influencern bei ihren Social-Media-Auftritten, auf Produkte hinzuweisen. Das können teure Klamotten oder eine bestimmte Himbeermarmelade sein. Die entscheidende Frage war aber: Wann müssen sie das als Werbung kennzeichnen? Geradezu salomonisch hatte der BGH in einer ersten Entscheidung nun dazu festgestellt: Verwendet werden dürfen Fotos mit Produkten auch ohne einen Hinweis auf Werbung - wenn es nicht zu werblich wird. Die Richterinnen und Richter entschieden, dass es auf die Art und die Umstände ankommt, wie auf die Produkte hingewiesen wird.
Verwenden Influencerinnen und Influencer zum Beispiel sogenannte "Tap tags", dann geht das grundsätzlich auch ohne Werbehinweis. Bei "Tap tags" handelt es sich um Markierungen in Posts auf der Social-Media-Plattform Instagram, die erst durch ein Antippen sichtbar werden. Markiert werden damit häufig Firmen oder Hersteller von Produkten, die in dem geposteten Bild zu sehen sind. Durch ein weiteres Tippen gelangt der Nutzer oder die Nutzerin dann auf deren Seite. Maßgeblich soll laut BGH unter anderem sein, ob die Influencerinnen und Influencer für ihre Hinweise eine Gegenleistung erhalten. Diesen Aspekt greift auch der Gesetzgeber auf: Eine entsprechende Vorschrift soll in das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) eingefügt werden und ab Ende Mai 2022 in Kraft treten.
3/6: Haftung für Fans im Stadion
Müssen Fußballvereine für Ihre Fans haften? Der BGH hat an dieser Club-Verantwortlichkeit keine rechtlichen Bedenken. Und so darf der Deutsche Fußball-Bund (DFB) Vereine weiterhin wegen des Verhaltens ihrer Anhänger und Zuschauer mit Geldstrafen belegen. Die Praxis verletze keine elementaren Grundsätze der Rechtsordnung, so die BGH-Richterinnen und Richter. Denn die Strafen seien reine Präventivmaßnahmen, und deshalb auch ohne Verschulden der Vereine zulässig.
Der Regionalligist FC Carl Zeiss Jena wollte die Frage grundsätzlich klären lassen– und unterlag in letzter Instanz. Zuvor hatte bereits das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt entschieden, dass die Haftung eines Fußballvereins für das Abbrennen von Pyrotechnik durch seine Anhänger nicht gegen die Grundsätze der öffentlichen Ordnung ("ordre public") verstößt. Dieser Rechtsansicht schloss sich nun auch der BGH an.
4/6: Grenzen für Legal Tech?
Der BGH traf 2021 eine lang erwartete und wegweisende Entscheidung zum Geschäftsfeld Legal Tech. Die Legal-Tech-Anwendung Smartlaw des Informationsdienstleisters Wolters Kluwer, zu dem auch die LTO gehört, ist zulässig. Der digitale Vertragsgenerator stelle keine wettbewerbswidrige Rechtsdienstleistung dar, sondern sei eher mit einem Formularhandbuch vergleichbar, so der BGH.
Der Generator wendet sich an Verbraucher und kleinere Unternehmen und erstellt mithilfe eines Frage-Antwort-Katalogs im Multiple-Choice-Verfahren Rechtsdokumente, insbesondere Verträge zu Rechtsthemen. Der BGH stellte nun fest: Der Informationsdienstleiser Wolters Kluwer werde nicht in einer konkreten Angelegenheit des Nutzers des Vertragsgenerators tätig, sondern habe diesen lediglich auf Grundlage von denkbaren typischen Sachverhaltskonstellationen programmiert und im Vorgriff auf die vorgegebenen Antworten standardisierte Vertragsklauseln entwickelt. Ob der Gesetzgeber in diesem Legal-Tech-Bereich für mehr klare Vorgaben sorgt, bleibt abzuwarten. Im Koalitionsvertrag heißt es dazu recht knapp: "Wir erweitern den Rechtsrahmen für Legal Tech-Unternehmen".
5/6: NSU vor dem BGH
Fast 14 Jahre lebte Beate Zschäpe mit ihren Freunden Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im Untergrund. In dieser Zeit ermordeten die Männer acht türkischstämmige und einen griechischstämmigen Kleinunternehmer sowie eine Polizistin. Das Oberlandesgericht München verurteilte Zschäpe 2018 nach mehr als fünf Jahren und über 400 Verhandlungstagen wegen zehnfachen Mordes, mehrfach versuchten Mordes, Raubüberfalls sowie schwerer Brandstiftung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung als Mittäterin zu lebenslanger Haft – obwohl es keine Beweise dafür gibt, dass sie selbst an einem der Tatorte war.
Mit Spannung war erwartet worden, ob diese Bewertung in der Revision Stand halten würde. Und sie hielt, der BGH hat die Revision verworfen. Zschäpe habe sowohl Tatherrschaft als auch Tatinteresse besessen. "Sie leistete gewichtige objektive Tatbeiträge und hatte ein starkes Tatinteresse". Zschäpe, so das Gericht, habe schließlich "maßgeblichen Einfluss auf die Planung der Taten sowie auf den gemeinsamen Tatentschluss und den weiteren Willen ihrer Komplizen zur Tatbegehung" besessen.
Mit einem weiteren Urteil Mitte Dezember ist die juristische Aufarbeitung der NSU-Terrorserie zu einem vorläufigen Ende gekommen. Der BGH hat den Teilfreispruch für den NSU-Helfer André E. bestätigt. Nun sind alle fünf NSU-Urteile, die das Oberlandesgerichts München 2018 verkündet hatte, rechtskräftig. Weitere Verfahren sind derzeit nicht absehbar.
6/6: Cum-Ex-Geschäfte sind Steuerhinterziehung
Wer sich mit dem Thema Cum Ex beschäftigt, stellt sehr schnell fest: Es ist unglaublich kompliziert. Eine sehr klare Entscheidung dazu hat der BGH im Sommer getroffen. Die Cum-Ex-Geschäfte waren eine strafbare Steuerhinterziehung. Punkt.
Mit Cum-Ex-Deals hatten Investoren, Banken und Aktienhändler den deutschen Fiskus über Jahre um etliche Milliarden Euro geprellt. Dabei wurden Aktien mit ("cum") und ohne ("ex") Dividendenanspruch um den Stichtag hin- und hergeschoben. Für diese Transaktionen ließen sich die Beteiligten Kapitalertragssteuer erstatten, die sie nie gezahlt hatten. Möglich machte das eine Gesetzeslücke, die erst 2012 geschlossen wurde.
Mit der Entscheidung des BGH wurde das bundesweit erste Strafurteil zu den Cum-Ex-Geschäften rechtskräftig.
Sollte man kennen: Sechs wichtige BGH-Entscheidungen 2021 . In: Legal Tribune Online, 23.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47034/ (abgerufen am: 18.04.2024 )
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