BGH zum Recht auf Vergessenwerden: Das Per­sön­lich­keits­recht geht nicht immer vor

Gastbeitrag von Prof. Dr. Nadine Klass, LL.M.

27.07.2020

Mit Blick auf Auslistungsbegehren gegenüber Suchmaschinenbetreibern hat der BGH die umfassende Abwägung aller involvierten Interessen betont. Ein weiteres Verfahren zu umstrittener Berichterstattung legte er dem EuGH vor.

Muss es in der digitalen Welt nach einem gewissen Zeitablauf einen Vorrang des Vergessens vor dem Erinnern geben? Und gewährt das Recht auf Vergessenwerden dem Einzelnen einen Löschanspruch gegenüber unliebsamen oder reputationsschädigenden Berichten aus der Vergangenheit?

Mit diesen Fragen musste sich der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) in einem am Montag verkündeten Urteil (VI ZR 405/18) befassen und seine Antwort lautet: Es kommt darauf an. 

Bei der Entscheidung, ob ein Link zu einem kritischen Artikel aus der Trefferliste einer Internetsuchmaschine zu entfernen ist, muss nämlich stets eine umfassende Grundrechtsabwägung vorgenommen werden. Ein Auslistungsanspruch auf der Basis von Art. 17 Abs. 1 der Datenschutzgrundverordnung (DS-GVO) erfordert nach Ansicht des Senats daher grundsätzlich eine Einzelfallabwägung auf der Basis aller relevanten Umstände. Hierbei müssen nicht nur die Grundrechte der betroffenen Personen, sondern auch die Grundrechte der Beklagten, die Interessen der Suchmaschinennutzer und der Öffentlichkeit sowie die Grundrechte der Inhalteanbieter der beanstandenden Ergebnislinks Berücksichtigung finden.

Insbesondere gilt nach Ansicht des Gerichts insofern auch keine Vermutung des Vorrangs der Schutzinteressen des Betroffenen. Die gegenüberstehenden Grundrechte sind vielmehr gleichberechtigt in die Abwägung einzustellen. Ein pauschales Ergebnis verbietet sich. 

BGH betont multipolare Interessenlage bei Auslistungsbegehren

In dem zugrunde liegenden Verfahren begehrte der frühere Geschäftsführer eines regionalen Wohlfahrtsverbandes vom Suchmaschinenbetreiber Google, es zu unterlassen, bei einer gezielten Suche nach seinem Namen einen Presseartikel aus dem Jahr 2011 in der Ergebnisliste nachzuweisen, in welchem darüber berichtet wurde, dass der Verband ein finanzielles Defizit von knapp einer Million Euro verzeichnete und sich der namentlich genannte Kläger kurze Zeit zuvor krank gemeldet hatte.  Der Kläger sah sich hierdurch in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt und machte auf der Basis von Art. 17 der DS-GVO einen Auslistungsanspruch geltend.

Das Landgericht Frankfurt a.M. hatte die Klage abgewiesen und auch die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg. Nun scheiterte er auch in der Revisionsinstanz.

Der BGH betont zu Recht die in derartigen Fällen bestehende multipolare Interessenlage, die die Entscheidung maßgeblich prägt und auch prägen muss. So streiten einerseits für die Betroffenen Art. 7 und Art. 8 der Grundrechtecharta (GRCH), die dem Schutz der Privatsphäre sowie personenbezogener Daten dienen, während sich der Suchmaschinenbetreiber Google auf sein Recht auf unternehmerische Freiheit aus Art. 16 GRCH berufen kann. In die Bewertung einzubeziehen ist jedoch auch Art. 11 GrCh, die Freiheit der Meinungsäußerung. Zwar ist diese für die Verbreitung von Suchergebnissen mangels journalistisch-redaktioneller Tätigkeit selbst nicht einschlägig ist, sie ist aber als unmittelbar betroffenes Grundrecht Dritter ebenso zu berücksichtigen wie die Informationsfreiheit der Nutzer. 

Betroffen ist im vorliegenden Fall nämlich die Meinungsäußerungsfreiheit der Inhalteanbieter, deren Berücksichtigung insofern zu den "objektiven Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen von Einschränkungen der Unternehmensfreiheit, die unter Berufung auf das eigene Grundrecht aus Art. 16 GrCh geltend gemacht werden können", gehört. Das hatten auch schon die Richter des Bundesverfassungsgerichts in ihrer "Recht-auf-Vergessen-II"-Entscheidung  Ende 2019 betont. Denn schließlich könne man dem Suchmaschinenbetreiber nichts aufgegeben, was die Grundrechte Dritter verletze.

Kein pauschaler Vorrang des Persönlichkeitsrechts

Der BGH positioniert sich zum Hierarchieverhältnis der involvierten Grundrechte mithin in gleicher Weise wie das BVerfG und verneint – anders als der Europäische Gerichtshof (EuGH) in der Entscheidung "Google Spain"  – einen grundsätzlichen Vorgang der Interessen des Betroffenen. Der EuGH hatte im Jahr 2014 festgestellt, dass das Persönlichkeitsrecht "grundsätzlich nicht nur gegenüber den wirtschaftlichen Interessen des Suchmaschinenbetreibers, sondern auch gegenüber dem Interesse der breiten Öffentlichkeit daran, die Information bei einer anhand des Namens der betroffenen Person durchgeführten Suche zu finden, überwiegt" . Eine andere Beurteilung sei lediglich in besonders gelagerten Fällen angebracht, wobei insbesondere maßgeblich sei, welche Rolle die betroffene Person im öffentlichen Leben spiele.

Der BGH verneint nun zu Recht ein solches pauschales Vorrangverhältnis und es bleibt abzuwarten, ob und wie sich der Senat in den Urteilsgründen mit Blick auf die Google Spain-Entscheidung positioniert. Das BVerfG hatte im Verfahren Recht auf Vergessen II recht knapp darauf verwiesen, dass dem Google Spain-Verfahren eine spezifische Konstellation, konkret eine behördliche Verlautbarung, zugrunde lag. Ob die Rechtsprechung des EuGH jedoch tatsächlich allein den besonderen Umständen des Verfahrens geschuldet war, werden künftige Entscheidungen aus Luxemburg zeigen. 

In dem in Karlsruhe entschiedenen Fall gingen die BGH-Richter jedenfalls davon aus, dass das Interesse des Klägers – selbst unter Berücksichtigung des Zeitablaufs – hinter den Interessen der Suchmaschine, den Interessen der Nutzer und der Öffentlichkeit sowie den Interessen der für die verlinkten Zeitungsartikel verantwortlichen Presseorgane zurücktrete müsse. Die Richter verweisen dabei auf die fortdauernde Rechtmäßigkeit der verlinkten Berichterstattung. Die beanstandenden Ergebnisse dürfen also auch weiterhin in der Ergebnisliste auftauchen, wenn der Name des Klägers gegoogelt wird. 

Die Entscheidung des BGH von Montag enthält jedoch noch einen weiteren zentralen Punkt: Der BGH schlussfolgert nämlich aus dem Gebot der gleichberechtigten Abwägung, dass der Verantwortliche einer Suchmaschine nicht erst dann tätig werden muss, wenn er von einer offensichtlichen und auf den ersten Blick klar erkennbaren Rechtsverletzung des Betroffenen Kenntnis erlangt. Insofern rückt der Senat deutlich von seiner noch zur Rechtslage vor Inkrafttreten der DS-GVO entwickelten Rechtsprechung ab und nimmt Google und Co. stärker in die Pflicht.

Wahrheitsgehalt des verlinkten Berichts umstritten: Vorlage an den EuGH

Dem BGH lag jedoch noch ein zweiter Fall vor. Auch in diesem Verfahren (VI ZR 476/18) ging es um die Frage, unter welchen Umständen Google Suchergebnisse löschen muss. Gegenstand des Verfahrens waren Verlinkungen auf kritische Berichterstattungen über ein Anlagemodell. Geklagt hatte ein Paar aus der Finanzdienstleistungsbranche, das von Google Unterlassung mit Blick auf die verlinkten Artikel sowie die Anzeige von Fotos als sog. Thumbnails verlangte. Anders als im ersten Verfahren war hier jedoch der Wahrheitsgehalt des in der Trefferliste aufgeführten Berichts umstritten. 

Dieses Verfahren setzten die Richter aus, um zentrale Fragen vom EuGH klären zu lassen. Insbesondere soll dieser die Frage beantworten, wie mit Konstellationen umzugehen ist, in denen umstritten ist, ob die verlinkte Berichterstattung wahr oder falsch ist. Kann oder muss der Kläger in diesen Fällen beispielsweise durch eine einstweilige Verfügung die Frage der Wahrheit des verlinkten Inhalts zumindest vorläufig klären lassen? Ebenso sollen die Luxemburger Richter die Frage beantworten, wie mit Vorschaubildern umzugehen ist, die in der Trefferliste auftauchen, ohne dass der konkrete Kontext ersichtlich ist. Die Entscheidungen des BGH reihen sich nahtlos ein in die jüngste Rechtsprechung des BVerfG zum Recht auf Vergessen(-werden) und bestätigen dass dieses stets vom Einzelfall abhängig ist und selbst nach einem gewissen Zeitablauf nicht automatisch ein digitaler Radiergummi zum Einsatz gebracht werden kann. 

Nicht alles, von dem der Einzelne wünschte, es würde vergessen, kann auch gelöscht werden. Andererseits muss – insbesondere angesichts der erheblichen Gefährdungspotenziale der Internetkommunikation sowie der veränderten tatsächlichen Nutzungsgewohnheiten – auch im digitalen Zeitalter ein Vergessen möglich sein. Der Einzelne muss die Chance haben, dass Fehltritte und unliebsame Ereignisse aus der Vergangenheit in Vergessenheit geraten – nur so kann ein dynamischer Persönlichkeitsschutz gewährleistet werden. 

Das Recht muss daher auf der Basis einer einzelfallorientierten Abwägung und unter Berücksichtigung aller involvierten Interessen sowie des Faktors Zeit dafür sorgen, dass ein Gleichgewicht zwischen dem Erinnern und dem Vergessen auch im digitalen Zeitalter besteht. 

Prof. Dr. Nadine Klass ist Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Recht des Geistigen Eigentums und Medienrecht sowie Zivilverfahrensrecht der Universität Mannheim. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des Medien- und Urheberrechts, insbesondere im Bereich des Presserechts. 
 

Zitiervorschlag

BGH zum Recht auf Vergessenwerden: . In: Legal Tribune Online, 27.07.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42324 (abgerufen am: 08.12.2024 )

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