Ärzte können sich durch die Erhaltung eines Lebens nicht schadensersatzpflichtig machen, sagt der BGH. Nicht einmal die Behandlungskosten seien erstattungsfähig.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat am Dienstag die Klage eines Mannes zurückgewiesen, der im Namen seines verstorbenen Vaters Schadensersatz für die künstliche Verlängerung von dessen Leben verlangt hatte. Ein Leben könne nie als Schaden angesehen werden, urteilten die Karlsruher Richter (Urt. v. 02.04.2019, Az. VI ZR 13/18).
Zuständig war der VI. Zivilsenat, der u. a. Arzthaftungssachen bearbeitet. Geklagt hatte der Mann nämlich gegen einen Allgemeinmediziner, der seinen Vater, damals schwer demenzkrank und im Sterben liegend, geplagt von Entzündungen in Lunge und Gallenblase, mit einer Sonde künstlich ernährt hatte. Damit habe er das Leiden seines Patienten, der selbst nicht mehr in der Lage war, sich mitzuteilen, unnötig verlängert. Für dieses "erlittene Leben" forderte sein Sohn nun Schadensersatz aus übergegangenem Recht, genauer ein Schmerzensgeld sowie den Ersatz der Behandlungskosten, insgesamt rund 150.000 Euro.
Nachdem das Landgericht (LG) die Klage zunächst abgewiesen hatte, sprach das Oberlandesgericht in zweiter Instanz dem Sohn Schadensersatz i. H. v. 40.000 Euro zu. Unstreitig war in der ganzen Sache die Tatsache, dass der Mediziner durch die künstliche Ernährung ab einem bestimmten Punkt, in dem keine Aussicht auf Besserung mehr bestand, seine Pflichten verletzt hatte. Da keine Patientenverfügung vorlag, hätte er die Angehörigen bzw. den rechtlichen Vertreter des Mannes fragen müssen, ob eine Weiterbehandlung noch in seinem Sinne wäre.
Das Weiterleben als Schaden
Auch die ethisch und rechtlich hochumstrittene Frage, ob ein Weiterleben unter Qualen einen Schaden darstellen könnte, bejahten beide Vorinstanzen. Die Klage scheiterte vor dem LG lediglich deshalb, weil das Gericht nicht als nachgewiesen ansah, dass der Sohn und der Betreuer des Verstorbenen sich tatsächlich gegen eine Lebenserhaltung ausgesprochen hätten, wenn der Arzt sie pflichtgemäß zu Rate gezogen hätte.
Doch zu diesem Problem kam der BGH schon gar nicht mehr. Die Karlsruher Richter widmeten sich vor allem der Grundsatzfrage, ob ein menschliches Leben als Schadensposten in einem Zivilprozess anerkannt werden kann. Dass ein Leben einen ersatzähigen Schaden darstellen soll, oft plakativ als "Leben als Schaden" oder "wrongful life" bezeichnet, lehnten die Richter, die bereits in der Verhandlung Anfang März deutliche Zweifel hatten anklingen lassen, nun ab.
Das Problem ist nicht gänzlich neu, tauchte aber bisher eher am Anfang des Lebens denn an dessen Ende auf – so z. B. bei der Geburt eines behinderten Kindes. Prominent ist diesbezüglich der sog. "Röteln-Fall", den der BGH auch schon in der Verhandlung dieses Schadensersatzprozesses ins Spiel brachte. In dem Fall (Urt. v. 18.01.1983, Az. VI ZR 114/81), der bereits 36 Jahre zurückliegt, ging es um eine während ihrer Schwangerschaft an Röteln erkrankte Mutter, deren Kind dadurch eine Behinderung erlitten hatte. Weil ihr Arzt diese nicht in einem frühen Stadium erkannt und ihr damit die Möglichkeit zu einem Schwangerschaftsabbruch gegeben hatte, verlangte sie von ihm u. a. im Namen ihres Kindes Schadensersatz für dessen Leben mit Behinderung. Damals entschied man sich dagegen, ein Leben als Schaden anzuerkennen.
Eine ähnliche Ausgangslage sah der Senat nun auch hier. "Das menschliche Leben ist ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig" heißt es in der Mitteilung zum Urteil. Aufgrund der Menschenwürde und des hohen Stellenwerts des Lebens im Grundgesetz dürfe niemand über dessen Wert urteilen, fand der Senat. Der Patient selbst möge sein Leben als unwert erachten, der staatlichen Gewalt aber sei ein solches Urteil verwehrt. Deshalb dürften Gerichte auch kein Leben als Schaden anerkennen, ein Schmerzensgeldanspruch schied somit aus.
"25 Jahre Rechtsprechung über den Haufen geworfen"
Auch die weiteren Ausführungen des BGH dürften in der Praxis des Arzthaftungsrechts große Bedeutung entfalten: Den Ersatz der Behandlungskosten lehnte der Senat ebenfalls ab, da dieser Schadensposten nicht vom Schutzzweck der ärztlichen Behandlungspflichten umfasst sei. Hier geht es gerade nicht um die Bewertung des Lebens, sondern darum, ob ein Arzt auch die Behandlungskosten infolge einer Pflichtverletzung zu tragen hat. Dabei belaufen sich die Kosten, wie auch in diesem Fall, schnell auf eine sechsstellige Summe – ganz zu schweigen von Regressansprüchen der Pflegekassen.
Die ärztlichen Pflichten dienten aber nicht dazu, wirtschaftliche Belastungen, die mit dem Weiterleben des Patienten verbunden seien, zu verhindern, so der BGH; insbesondere auch nicht dazu, den Erben das Vermögen des Patienten möglichst ungeschmälert zu erhalten.
"Unerträglich" findet das Patientenanwalt Wolfgang Putz, der den Kläger vor dem BGH ebenfalls beraten hatte. "Wir sind fassungslos", erklärte Putz, der mit dieser Entscheidung "25 Jahre BGH-Rechtsprechung über den Haufen geworfen" sieht, nach der Urteilsverkündung gegenüber LTO. Im "Röteln"-Fall und der folgenden Rechtsprechung habe der BGH schließlich anerkannt, dass zwar kein Schmerzensgeld, wohl aber Behandlungskosten aufgrund eines "wrongful life" zugesprochen werden könnten. "Eine Lebenserhaltung kostet Geld, ganz neutral" meinte Putz. Ärzte könnten nun "sanktionslos weiterbehandeln" und müssten den Angehörigen nicht einmal die entstandenen Kosten ersetzen.
Strafanzeige als letztes Mittel?
Aus Sicht von Putz bleibt Patientenrechtlern damit künftig nur noch das "schärfste Schwert": eine Strafanzeige wegen Körperverletzung. "Man muss sich vergegenwärtigen: Die Folge wird die strafrechtliche Verfolgung von Ärzten sein", so Putz, der sonst kein Druckmittel mehr sieht, um Mediziner zu pflichtgemäßem Verhalten anzuhalten.
Mit seiner Entscheidung hob der BGH das Urteil des OLG auf und stellte das LG-Urteil wieder her. Der Rechtsweg ist für den Sohn des Verstorbenen damit erschöpft, es bliebe einzig die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde. Ob er zu diesem Mittel greifen wird, wird Putz erst nach der Veröffentlichung der Urteilsgründe entscheiden. Aber: Sollte sich der BGH auf verfassungsrechtliche Grundlagen gestützt haben, wie es die Mitteilung nahelegt, werde man den Gang zum Bundesverfassungsgericht in Erwägung ziehen.
BGH lehnt Arzthaftung für "Wrongful Life" ab: . In: Legal Tribune Online, 02.04.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34701 (abgerufen am: 06.10.2024 )
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