BGH zum Vergabeverfahren: Ruinöser Kalkulationsirrtum kann Vertrag vernichten

von Prof. Dr. Stephan Lorenz

12.11.2014

2/2: Zuschlag als "culpa in contrahendo"?

Damit bleibt nur ein letzter Ausweg, den die Bundesrichter auch am Dienstag nahmen: Verstieße der Auftraggeber durch die Annahme des Vertragsangebots gegen eine Rechtspflicht gegenüber dem Bieter, würde dies eine Pflichtverletzung im Sinne von § 280 Absatz 1 BGB darstellen. Dann wäre er  nach § 249 Absatz 1 BGB im Wege der schadensersatzrechtlichen Naturalrestitution verpflichtet, den Bieter aus dem geschlossenen Vertrag weder auf Leistung noch auf Schadensersatz statt der Leistung in Anspruch zu nehmen.

Eine solche Lösung hatte der BGH bereits in der zitierten Entscheidung aus dem Jahr 1998 zu einem ganz ähnlichen Sachverhalt angedeutet. Damals konnten die Karlsruher Richter die Frage aber offen lassen, weil der Auftraggeber den Fehler in der Kalkulation nicht bemerkt hatte. Dann gibt es jedenfalls keine vorvertragliche Pflicht, die Berechnung im Interesse des Bieters auf ihre Wirtschaftlichkeit zu überprüfen.

Wenn aber dem Auftraggeber noch vor dem Zuschlag klar wird, dass es sich um ein für den Bieter extrem schädliches Angebot handelt, verstößt er durch die Vertragsannahme gegen die Pflicht, auf die - auch wirtschaftlichen - Interessen des anderen Teils Rücksicht zu nehmen (§§ 311 Absatz 2, 241 Absatz 2 BGB – culpa in contrahendo). Diese Pflicht wird bereits durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen begründet.

Das löst den beschriebenen schadensersatzrechtlichen Mechanismus aus, demzufolge der Auftraggeber den Bieter aus dem Vertrag nicht in Anspruch nehmen darf und sich darüber hinaus mit einer Vertragsaufhebung einverstanden erklären muss.

Aber: Keine Flucht aus dem Vertrag

Zu Recht stellt der BGH aber auch klar, dass sich dieser Rechtsbehelf auf Extremfälle beschränken muss. Das Risiko, zu günstig anzubieten und deshalb wirtschaftlich nachteilige Verträge zu schließen, ist dem Vergabeverfahren nämlich inhärent.

Deshalb hat der BGH auch betont, dass nicht jeder noch so geringe diesbezügliche Irrtum ausreicht. Außerdem muss sichergestellt sein, dass sich ein Bieter nicht unter dem Vorwand des Kalkulationsirrtums von einem bewusst sehr günstig kalkulierten Angebot löst, weil er es im Nachhinein als für ihn selbst nachteilig empfindet.

Der Auftraggeber ist nach Ansicht des BGH nur dann aus culpa in contrahendo verpflichtet, ein Angebot aus dem Verfahren auszuschließen, das heißt nicht anzunehmen, "wenn vom Bieter aus Sicht eines verständigen öffentlichen Auftraggebers bei wirtschaftlicher Betrachtung schlechterdings nicht mehr erwartet werden kann, sich mit dem irrig kalkulierten Preis als einer noch annähernd äquivalenten Gegenleistung für die zu erbringende Bau-, Liefer- oder Dienstleistung zu begnügen“. Der vom Senat sicher zutreffend entschiedene Fall bleibt damit ein Ausnahmefall.

Der Autor Prof. Dr. Stephan Lorenz ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie Richter am Bayerischen Verfassungsgerichtshof.

Zitiervorschlag

Prof. Dr. Stephan Lorenz, BGH zum Vergabeverfahren: Ruinöser Kalkulationsirrtum kann Vertrag vernichten . In: Legal Tribune Online, 12.11.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13780/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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