Provozieren Lockspitzel der Polizei Bürger zur Begehung von Straftaten, ist dies ein Verfahrenshindernis. Diese neue BGH-Rechtsprechung erläutert Robert Esser.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) hat mit seinem Urteil vom Mittwoch (Urt. v. 10.06.2015, Az. 2 StR 97/14) die prozessualen Folgen einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation deutlich konkretisiert und dabei einen Rechtsprechungswandel vollzogen. Statt der bislang von den Strafgerichten praktizierten Strafzumessungslösung, bei der die Strafe nur reduziert wurde, erkannte das höchste deutsche Strafgericht im konkret zu entscheidenden Fall erstmals ein Strafverfahrenshindernis an und stellte das Verfahren ein.
Die Vorinstanz, das Landgericht Bonn, hatte zwei Angeklagte jeweils wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt.
Nach dessen Feststellungen hatte gegen die Männer zunächst nur ein vager Tatverdacht bestanden, diese könnten in Geldwäsche- und Betäubungsmittelstraftaten verstrickt sein. Nachdem eine langfristige Observation sowie umfangreiche Überwachungsmaßnahmen diesen Verdacht nicht bestätigt hatten, setzte die Polizei mehrere Verdeckte Ermittler aus Deutschland und den Niederlanden ein, die über einen Zeitraum von mehreren Monaten versuchten, die Verdächtigen dazu zu bringen, ihnen große Mengen "Ecstasy"-Tabletten aus den Niederlanden zu besorgen. Sie weigerten sich aber, dies zu tun. Erst als einer der Verdeckten Ermittler drohend auftrat und ein anderer wahrheitswidrig behauptete, wenn er seinen Hinterleuten das Rauschgift nicht besorge, werde seine Familie mit dem Tod bedroht, halfen die Beschuldigten in zwei Fällen ohne jedes Entgelt bei der Beschaffung und Einfuhr von Ecstasy aus den Niederlanden.
Mit seinem Urteil hat der 2. Strafsenat des BGH nun in mehrfacher Hinsicht Rechtsgeschichte geschrieben. Es wird eingehen in die überschaubare Zahl von Entscheidungen deutscher Strafgerichte, in denen Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) aus Straßburg zur Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) konsequent auf den deutschen Strafprozess angewandt und umgesetzt werden – und dabei sogar zu einer Rechtsprechungsänderung führen können.
Rechtsstaatswidrige Tatprovokation
Die Provokation einer Person zur Begehung einer Straftat durch Strafverfolgungsbehörden (Verdeckte Ermittler) oder dem Staat zurechenbare Privatpersonen (V-Personen) verstößt sowohl gegen die internationalen Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, Art. 6 Abs. 1 EMRK, als auch gegen das aus der deutschen Verfassung abzuleitende Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG). Kerngedanke ist dabei, dass der Staat der zu einer Straftat provozierten Person kein faires Verfahren mehr gewährleisten kann.
Nicht ganz deckungsgleich sind allerdings die genauen Kriterien, die darüber Auskunft geben, wann im konkreten Einzelfall noch von einem polizeitaktisch zulässigen, passiven verdeckten Ermitteln oder eben schon von einem prozessual nicht mehr akzeptablen provozierenden Verhalten auszugehen ist. Eine latente "Neigung" zur Begehung von Straftaten, wie sie im Drogenmilieu durchaus anzutreffen ist, reicht jedenfalls nach der Rechtsprechung des EGMR nicht aus, um ein aktiv-initiatives, provozierendes Verhalten von Verdeckten Ermittlern oder V-Personen legitimieren zu können.
Doch darum ging es in dem mit Spannung erwarteten Urteil des BGH im Grunde nur am Rande. Zentraler Punkt der Entscheidung ist vielmehr die Frage, wie der Staat prozessual auf eine verbotswidrige und damit unzulässige Tatprovokation im anschließenden Strafverfahren prozessual reagieren muss.
Bestrafung ja, aber milde
Bislang hatten die deutschen Strafgerichte hier den Standpunkt vertreten, dass eine Bestrafung des Täters auch möglich ist, wenn er durch Verdeckte Ermittler oder V-Personen unzulässig zur Tat provoziert wurde, solange das Strafgericht einen bestimmten Teil von der an sich schuldangemessenen Strafe abzieht, die sogenannte Strafmilderung.
Beharrlich wiederholte Forderungen aus der Wissenschaft nach einem Beweisverwertungsverbot bis hin zu einem Verfahrenshindernis, was die endgültige, sanktionslose Einstellung des Verfahrens zur Folge hat, erfuhren keinen Widerhall.
Zahlreiche Urteile des EGMR gegen andere europäische Staaten hatten in den letzten Jahren den Bedenken, ob die Strafabschlagslösung als Form der Kompensation mit internationalen Vorgaben in Einklang steht, neue Nahrung verliehen – ohne die deutschen Strafgerichte nachhaltig zu beeindrucken.
Schwung in die Sache hatte erst eine Verurteilung Deutschlands durch den EGMR gebracht. Dieser hatte am 23. Oktober 2014 entschieden, dass eine solche "Strafzumessungslösung" nicht ausreiche, um die Menschenrechtsverletzung zu kompensieren, die darin liege, dass ein unschuldiger, unverdächtiger Mensch zum "Werkzeug" der Kriminalpolitik gemacht werde, indem staatliche Behörden selbst ihn anstiften, eine Straftat zu begehen, um diese anschließend – zur Abschreckung anderer – bestrafen zu können (Urt. v. 23.10.2014, Az. 54648/09). Damit hatte er die deutsche "Strafzumessungslösung" mit deutlichen Worten verworfen.
2/2: Wie die deutschen Gerichte auf den EGMR reagierten
Auf die vom EGMR entschiedene Rechtssache "Furcht" und die darin ausgesprochene Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland wegen eines Verstoßes gegen das faire Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) hatte bereits das BVerfG reagiert (Beschl. v. 18.12.2014, Az. 2 BvR 209/14 u.a.). Dabei hatte es wie schon zuvor der 5. Strafsenat des BGH die Tatprovokation als solche deutlich gebrandmarkt, ohne dabei allerdings klare Vorgaben für die von den Gerichten geforderte Reaktion festzulegen. Die Annahme eines Verfahrenshindernisses – der weitreichendsten Reaktion, die das deutsche Prozessrecht vorsieht – hatte das BVerfG als Option nicht ausgeschlossen, aber letztlich nur für "extreme Ausnahmefälle" im Sinn.
Der 2. Strafsenat des BGH hat sich nun auf der Rechtsfolgenseite offensichtlich klarer positioniert und in dem von ihm konkret zu entscheidenden Fall ein Verfahrenshindernis angenommen – obwohl es sich bei der beschriebenen Konstellation eher nicht um einen "extremen" Fall der Tatprovokation handeln dürfte.
Das lässt aufhorchen, denn selbst der EGMR hat in der Rechtssache "Furcht" für den Fall der Tatprovokation nicht ausdrücklich ein Verfahrenshindernis als Reaktion vorgeschrieben - was er völkerrechtlich auch nicht dürfte -, wohl aber ein Verbot der Verwertung der aus der Provokation gewonnenen Erkenntnisse oder eine "ähnliche Reaktion" gefordert.
Eine solche sieht der 2. Strafsenat des BGH im konkreten Fall offensichtlich nur durch die Annahme eines Verfahrenshindernisses gewährleistet und verwirft damit die konstante bisherige Rechtsprechung aller fünf Strafsenate des BGH wegen zwischenzeitlicher "Überholung" durch den EGMR, ohne die Frage dem Großen Senat für Strafsachen zur Entscheidung vorzulegen.
Legitimer Zweck heiligt nicht alle Mittel
Auch wenn man die genaue Begründung des Urteils noch abwarten muss, verdient der Ansatz Zustimmung. Das Urteil ist zudem mutig, weil es sich klar zu rechtsstaatlichen Standards im Strafprozess verhält, die aber der viel beschworenen "Effektivität der Strafverfolgung" auch signifikante Grenzen setzen werden. Es gilt an dieser Stelle einmal mehr: der legitime Zweck der Strafverfolgung heiligt eben nicht alle Mittel. Dieses Credo setzt der 2. Strafsenat mustergültig um – auch wenn er zugleich klarstellt, dass ein Verfahrenshindernis möglicherweise nicht für jeden Fall der Tatprovokation die gebotene Rechtsfolge ist.
Das Urteil dürfte damit klare Maßstäbe setzen sowohl für den zulässigen verdeckten Einsatz staatlicher Stellen bei der Kriminalitätsbekämpfung, namentlich im Drogenbereich, als auch bei der Auswahl der Rechtsfolge im Falle einer Missachtung dieser Leitlinien. Auf die Strafverfolgungsbehörden dürfte das Urteil zudem eine disziplinierende Wirkung entfalten, weil beim Überschreiten der Grenze einer Tatprovokation von nun an stets damit gerechnet werden muss, dass das Strafverfahren gegen die Betroffenen eingestellt werden wird.
Die Einstellung des Strafverfahrens muss dann allerdings bereits durch die im Ermittlungsverfahren federführende Staatsanwaltschaft erfolgen, damit nicht rechtswidrig zu einer Straftat verleitete Personen – wie vermutlich auch im vorliegenden Fall – zunächst mehrere Monate in Untersuchungshaft verbringen, um dann vom erkennenden Gericht oder gar vom Revisionsgericht zu erfahren, dass ein Strafverfahren gegen sie von Anfang an gar nicht hätte geführt werden dürfen.
Erlaubt sei an dieser Stelle der Hinweis, dass für die bei BtM-Delikten übliche Untersuchungshaft im Falle ihrer Rechtswidrigkeit in Deutschland "für den Schaden der nicht Vermögensschaden ist" derzeit der stolze Betrag von 25 Euro pro Tag gezahlt wird. Aber das ist nur ein weiteres Thema aus dem weiten Feld der Menschenrechte im Strafverfahren. Bei der Tatprovokation ist Deutschland rechtsstaatlich ein großes Stück vorangekommen.
Prof. Dr. Robert Esser ist Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht und Strafprozessrecht sowie Wirtschaftsstrafrecht an der Universität Passau und Leiter der dortigen Forschungsstelle Human Rights in Criminal Proceedings (HRCP).
Prof. Dr. Esser, BGH zu Agent Provocateur: Hindernis für Verfahren . In: Legal Tribune Online, 11.06.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15817/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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