Revisionspraxis beim BGH: Sowieso egal?

von Prof. Dr. Thomas Fischer

17.01.2014

2/2: Wunder als Funktionsprinzip des Rechtsmittelverfahrens?

Nehm meint: Die Revisionsrichter sollten, statt Akten zu lesen, lieber ihre "eigentlichen Aufgaben" erfüllen. Was könnte das sein? Nach Nehms zutreffender Ansicht gehören Herstellung von Rechtseinheit und Rechtsfortbildung dazu. Er tut freilich so, als stünden diese beiden Aufgaben in Konkurrenz zur höchstrichterlichen Aufgabe "Genauigkeit". Das ist ein Trick: Rechtsfortbildung und Rechtseinheits-Sicherung stehen nicht neben der Genauigkeit, sondern neben der Einzelfallgerechtigkeit. Und die hat mit Genauigkeit sehr viel zu tun.

Was ist mit den Senats-Vorsitzenden, die alle Revisionsakten lesen? Würde dies die Erfüllung der "eigentlichen Aufgaben" hindern, hieße das, dass gerade die Allerhöchsten der Höchstrichter nur belangloses Zeug treiben.

Oder sollte es sich bei ihnen um Übermenschen handeln, die vom Moment ihrer Ernennung an – zu einer Zeit, da sich die menschlichen Kräfte schon gen Ruhestand neigen – plötzlich sechsmal so viel lesen und verstehen können wie andere Bundesrichter, zugleich noch die "eigentlichen" Aufgaben erfüllen, alle Sitzungen leiten und den Senat führen können? Darf man Wunder zum  Funktionsprinzip eines Rechtsmittelverfahrens machen?

Offensichtlich unbegründet und die Realität

Schließlich bringt Nehm doch noch ein wenig Revisions-Inhalt: Beschlussverfahren seien für offensichtlich unbegründete Revisionen. Das ist erstaunlich falsch, denn die für begründet erachteten Revisionen fehlen.

Vor allem aber hat sich das Revisionsrecht vom Offensichtlichkeits-Kriterium bekanntlich seit Jahrzehnten verabschiedet. Heute kommen jährlich hunderte von Anträgen der Bundesanwaltschaft "im Ergebnis letztlich" zur Ansicht, das Verfahren des Tatgerichts sei "noch vertretbar" oder "jedenfalls nicht willkürlich" gewesen, das angefochtene Urteil beruhe "wohl" nicht auf einem festgestellten Rechtsfehler usw. – und sie stellen den Beschluss-Antrag, "um dem Senat alle Möglichkeiten offen zu halten".

Wenn Nehms Behauptung stimmen und die – vom Wortlaut des Gesetzes noch immer vorgeschriebene – Offensichtlichkeit des Ergebnisses entscheiden würde, müsste auf der Stelle der Anteil der Urteilsverfahren von fünf auf mindestens fünfzig Prozent gesteigert werden.

Vorschläge für mehr Prüfung sind keine ärgerliche Zeitverschwendung

Jeder Richter entscheidet völlig unabhängig darüber, wie er sich umfassende Sachkenntnis verschafft, sagt das Bundesverfassungsgericht. "Wer sich mit dem Vortrag des Berichterstatters nicht zufrieden geben will, mag künftig selber lesen", mäkelt Nehm. Freilich handele es sich nicht nur um eine Frage individueller Berufsauffassung; die Zahl der Strafsenate könne nämlich nicht beliebig vermehrt werden.

Nehms Duktus signalisiert nicht allein herrschaftlichen Unwillen, sondern wirft – unfreiwillig, aber eindrucksvoll – ein kleines Licht ins Dunkel der Praxis: Wer sich nicht, wie die Mehrheit, "zufrieden geben will", wird Sand im Getriebe, am Ende gar missbraucht er seine Unabhängigkeit. Wie viele Höchstrichter haben auf dem langen Weg nach oben die Kraft bewahrt, das jahrelang auszuhalten?    

Unklar bleibt, wie Nehm auf eine beliebige Vermehrung von Senaten kommt. Niemand hat das verlangt; man erfährt auch nicht, wieso eine solche notwendige Folge der von ihm monierten Kritik sein soll. Zwar mag das Lesen von Voten oder Aktenauszügen zeitraubend sein. Gilt das nicht aber auch für das tagelange Anhören der Nacherzählungen von Senatskollegen?

Die fünf Strafsenate des BGH, die im Jahr 1989 am Rande ihrer Leistungsfähigkeit waren, bewältigten ab 1990 einen Zuwachs von 17 Millionen Bürgern - ohne jede Stellenvermehrung. Haben die Strafrichter des BGH seither 25 Prozent mehr gearbeitet? Sind alle Revisionen um 25 Prozent kürzer und leichter geworden? Nein: 25 Prozent mehr Revisionen werden in derselben Zeit von derselben Zahl von Richtern bearbeitet, und zwar mit derselben Genauigkeit. Es gibt Wunder!

Nehms Meinung, dass das derzeit praktizierte Vier-Augen-Prinzip ausreicht, wird bisher auch von einer Mehrheit der Strafsenatsmitglieder geteilt. Ich selbst vertrete eine andere Auffassung. Wenn darüber sachlich und mit Gründen gestritten wird, wird das die Ruhe der Bevölkerung nicht stören. Diese erwartet zu Recht, dass Revisionsrichter ihre Aufgabe erfüllen, bestmöglich über Revisionen zu entscheiden. Vorschläge zur Erhöhung der Prüfungstiefe sollte man nicht als ärgerliche Zeitverschwendung abtun.  

Der Autor Prof. Dr. Thomas Fischer ist Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof.

Zitiervorschlag

Prof. Dr. Thomas Fischer, Revisionspraxis beim BGH: Sowieso egal? . In: Legal Tribune Online, 17.01.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10681/ (abgerufen am: 18.04.2024 )

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