Von rund 165.000 Anwälten sind nur 36 beim BGH zugelassen. Das hat gute Gründe, meinen die einen; die anderen kritisieren nicht nur die umständliche Wahl. Ein Reformvorschlag könnte von der Politik ignoriert werden, meint Philipp Heinrichs.
Am 20. September 2024 hat die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) auf ihrer Hauptversammlung die Abschaffung der Singularzulassung beim Bundesgerichtshof (BGH) beschlossen. Dem Antrag der Rechtsanwaltskammer Berlin folgte die Hauptversammlung mit 48 zu 46 Stimmen. Es war knapp. Und auch die Pressemitteilung fällt knapp aus. Der Reformvorschlag sieht eine Öffnung für alle Rechtsanwält:innen vor, welche sich besonders fortgebildet haben.
Bisher gelten am BGH strenge Zulassungsregeln. An dem obersten deutschen Zivilgericht können gemäß § 78 Abs. 1 S. 3 Zivilprozessordnung (ZPO) nur Rechtsanwält:innen auftreten, welche vor diesem zugelassen sind. An allen anderen obersten Gerichtshöfen existiert keine besondere Zulassung. Derzeit sind 36 Rechtsanwält:innen beim BGH zugelassen. Sie bilden die Rechtsanwaltskammer beim BGH, welcher Brunhilde Ackermann als Präsidentin vorsteht. Der Kreis der BGH-Rechtsanwält:innen ist männlich dominiert, lediglich fünf Frauen sind als Rechtsanwältin beim BGH zu gelassen. Zum Zeitpunkt des letzten Wahlverfahrens im Jahre 2013 waren 37 BGH-Anwält:innen über 60 Jahre, 16 hiervon über 65 Jahre alt.
Wer wird bislang Rechtsanwält:in beim BGH?
Zugelassen werden kann nur, wer das 35. Lebensjahr vollendet und den Beruf mindestens fünf Jahre ausgeübt hat. Wer zugelassen werden will, muss ein mehrstufiges Wahlverfahren durchlaufen. Gemäß der §§ 164 ff. Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) werden Kandidat:innen entweder durch die regionalen Rechtsanwaltskammern oder durch die Rechtsanwaltskammer beim BGH vorgeschlagen. Die BRAK konsolidiert diese Vorschläge und legt sie einem Wahlausschuss vor.
Der Wahlausschuss besteht gemäß § 165 Abs. 1 BRAO aus der Präsident:in und den Senatspräsident:innen der Zivilsenate des BGH sowie aus den Mitglieder:innen des Präsidiums der Bundesrechtsanwaltskammer und des Präsidiums der Rechtsanwaltskammer bei dem BGH. Demnach gehören dem Präsidium vierzehn richterliche und zwölf anwaltliche Mitglieder:innen an. Das Ergebnis der Wahl wird dem Bundesministerium der Justiz mitgeteilt, welches schließlich die Zulassung zum BGH erteilt.
Die Einleitung des Wahlverfahrens steht im Ermessen der BGH-Präsident:in. Nachdem das letzte Wahlverfahren im Jahr 2013 stattfand, leitete die Präsidentin im vergangenen Jahr ein neues Wahlverfahren ein, welches derzeit noch läuft. Wie viele BGH-Rechtsanwält:innen ernannt werden liegt gemäß § 168 Abs. 2 BRAO im Ermessen des Wahlausschusses, welcher die Zahl der Neuzulassungen anhand der Eingangszahlen beim BGH bemisst.
RAK Berlin als treibende Kraft
Die Präsidentin der Rechtsanwaltskammer Berlin, Vera Hofmann, hatte gemeinsam mit ihrem Vorstandskollegen Marc Wesser, die Singularzulassung mit einem Initiativantrag im April 2024 erneut auf die Tagesordnung der BRAK gebracht. Und das obwohl die 156. Hauptversammlung der BRAK im Mai 2019 sich bereits für eine Reform des Wahlverfahrens, jedoch nicht für eine Abschaffung der Singularzulassung ausgesprochen hatte. So sollte die Zulassung nicht mehr durch das Bundesjustizministerium erfolgen und die Zusammensetzung des Wahlausschusses angepasst werden. Anzumerken ist dabei, dass bei der damaligen Abstimmung noch jede der 28 Rechtsanwaltskammern eine Stimme hatte. Inzwischen wird bei der Hauptversammlung der BRAK mit Stimmgewichtung abgestimmt, sodass den großen Kammern wie Berlin, München oder Hamburg mehr Gewicht zukommt.
Die Berliner Rechtsanwaltskammer hat in ihrem Antrag die Öffnung der Singularzulassung für die gemeine Anwaltschaft vorgesehen, wobei sie an einer Sonderregelung für das Auftreten vor dem Bundesgerichtshof in Zivilsachen festgehalten hat. So sollen Rechtsanwält:innen mindestens fünf Jahre innerhalb der letzten sieben Jahren vor Antragstellung zugelassen sein und innerhalb von drei Jahren vor Antrag mindestens 60 Stunden theoretischer Ausbildung mit drei schriftlichen Aufsichtsarbeiten absolvieren. Zudem soll für die Rechtsanwält:innen eine Fortbildungspflicht im Revisionsrecht von 15 Zeitstunden pro Jahr bestehen.
Zu den Reformvorschlägen der BRAK hatte ihr Präsident Ulrich Wessels resümiert: "Das bisherige System der Singularzulassung beim BGH hat sich generell bewährt, und zwar zum Wohl der Rechtspflege und der Mandantinnen und Mandanten".
Schon immer ein Reizthema in der Anwaltschaft
Das Institut der Singularzulassung sowie auch die Wahl der BGH-Rechtsanwält:innen war stets umstritten. Bereits im Gesetzgebungsverfahren zur Reichsrechtsanwaltsordnung im Jahre 1878 herrschte unter den Reichstagsabgeordnet:innen Uneinigkeit über das Institut der Singularzulassung als auch die Wahl bzw. Ernennung der BGH-Rechtsanwält:innen.
Im Jahre 1995 wurde im Auftrag der damaligen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ein (weitestgehend unbeachteter) Kommissionsbericht angefertigt, welcher zwar die Beibehaltung der Singularzulassung befürwortete, jedoch die mangelnden Auswahlkriterien kritisierte.
Für die Jahre 2007 und 2017 hat der auf das Anwaltsrecht spezialisierte Kölner Professor Matthias Kilian im Rahmen des sog. Berufsrechtsbarometer des Soldan Instituts das Meinungsbild zur Singularzulassung in der Anwaltschaft untersucht. So sprachen sich 2007 noch 61 Prozent der Rechtsanwält:innen für die Beibehaltung der Singularzulassung aus. Im Jahr 2017 hingegen stimmten nur noch 33 Prozent der Teilnehmer:innen für den Status Quo.
Der Bundestag hat sich ebenfalls mit dem Thema auseinandergesetzt und 2013 eine Petition abgelehnt, welche die Streichung der Beschränkungen für die Zulassung von BGH-Rechtsanwält:innen gefordert hatte.
Bundesverfassungsgericht steht zur Singularzulassung
Immer wieder hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den Kritikern der Singularzulassung in seinen Entscheidungen eine Absage erteilt, zuletzt im Jahr 2017.
Die Kammer des Ersten Senats entschied letztmalig, dass der Eingriff in die Berufsfreiheit nach Art. 12 Grundgesetz durch hinreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt sei. Der Eingriff diene der Sicherstellung einer besonders qualifizierten Anwaltschaft in Revisionssachen, sowie der Filterfunktion der BGH-Rechtsanwält:innen und damit dem Schutz vor Überlastung des Bundesgerichtshofs.
Die letzte Entscheidung des BVerfG betraf den Anwalt Volker Römermann, welcher im Jahr 2013 nicht durch den Wahlausschuss gewählt worden war. Das BVerfG bestätigte indes nochmals die Rechtmäßigkeit des Wahlverfahrens und den "eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraum" des Wahlausschusses bei der Auswahl der Kandidat:innen. Römermann hatte die Schriftsätze und damit auch die Angaben zur Art und Weise des Wahlverfahrens in dem vorgelagerten Verfahren vor dem BGH auf seiner Kanzleihomepage öffentlich gemacht und damit auf Missstände des Verfahrens hingewiesen. Ein LTO-Interview mit ihm findet sich hier.
Was droht bei einer Öffnung für "alle"?
Inzwischen dürfte weitestgehend Einigkeit darüber herrschen, dass das Wahlverfahren insbesondere wegen der Zusammensetzung des richter-dominierten Wahlausschusses, der mangelnden Kriterien zur Auswahl der Rechtsanwält:innen und der Art und Weise der Wahl der Kandidat:innen reformbedürftig ist.
Hoch umstritten bleibt jedoch die Frage der Notwendigkeit einer gesonderten Zulassung beim BGH in Zivilsachen. Die Befürworter:innen der Singularzulassung führen insbesondere die Filterfunktion der BGH-Rechtsanwält:innen ins Feld und befürchten bei einer Öffnung der Zulassung für die gemeine Anwaltschaft neben einem Qualitätsverlust auch eine Eroberung des Marktes durch Großkanzleien und die mangelnde Bearbeitung wirtschaftlich weniger attraktiver Mandate. Die Kritiker:innen hingegen räumen der Berufsfreiheit der gemeinen Rechtsanwält:innen sowie dem Recht des Mandanten auf die freie Wahl des Rechtsbeistands einen höheren Stellenwert ein.
DAV zögert noch
Der Deutsche Anwaltverein (DAV) hat sich noch zu keiner Äußerung durchringen können. Derzeit wird intern diskutiert, ob der Zivilverfahrens- oder Berufsrechtausschuss für eine etwaige Stellungnahme zur BRAK-Beschlusslage zuständig ist. Zumindest gilt der Berufsrechtsausschuss, dem unter anderem auch Kritiker wie Anwalt und Autor Markus Hartung angehören, als progressiver.
Der DAV als maßgeblicher Interessensverband der deutschen Anwaltschaft könnte die Diskussion befeuern und das Thema auf die Tagesordnung der Politik setzen. Es bleibt spannend, ob sich der DAV als Reformer positioniert oder nicht zu Stellungnahme durchringen kann.
Die Singularzulassung kein politisches "Lieblingsthema"
Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die BRAO ergibt sich aus Artikel 74 Abs. 1 Nr. 1 GG, "das gerichtliche Verfahren" und "die Rechtsanwaltschaft". Inwieweit das Bundesjustizministerium von Marco Buschmann (FDP) den Beschluss der BRAK ohne weitere Stellungnahme des DAV aufgreift, bleibt abzuwarten.
Es spricht vieles dafür, dass das Bundesjustizministerium aufgrund der aktuellen politischen Lage und augenscheinlich vorrangiger Themen wie etwa die mangelnde personelle und materielle Ausstattung der Justiz die Beschlusslage der BRAK schlichtweg ignoriert. Dass ein Gesetzgebungsverfahren in der derzeitigen Legislaturperiode noch angestoßen wird, dürfte unwahrscheinlich sein.
Selbst die Neuregelung des Wahlverfahrens für BGH-Rechtsanwält:innen hat das Bundesjustizministerium trotz massiver Kritik aus der Literatur und eines Beschlusses der 156. BRAK-Hauptversammlung nicht forciert. Vielmehr hat der Gesetzgeber eine erneute Wahl von BGH-Rechtsanwält:innen unter der geltenden – nicht reformierten – Regelung in diesem Jahr zugelassen. So dürfte es wieder zu Klagen der unterlegenen Bewerber:innen kommen.
Der Autor ist Rechtsanwalt bei Oppenhoff in Köln und wurde im Jahre 2021 mit einer Arbeit zur Singularzulassung beim Bundesgerichtshof durch die Westfälische Wilhelms-Universität Münster promoviert.
Nach BRAK-Beschluss: . In: Legal Tribune Online, 01.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55537 (abgerufen am: 10.11.2024 )
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