Auch wenn das Jahr sich inhaltlich anfühlte wie Corona, Corona und Corona: Der BGH urteilte über viel Relevantes abseits der Pandemie. Vom Abgasskandal über fiktiven Schadensersatz bis zum Zensurheberrecht.
Ein siebzigster Geburtstag
Im Jahr 2020 sind eine Menge Geburtstage nicht so gefeiert worden, wie das mal angedacht war. Das gilt auch für den 70. Geburtstag des Bundesgerichtshofs (BGH) und der Generalbundesanwaltschaft. Aus dem geplanten Festakt mit 1.400 Gästen aus dem In- und Ausland wurde eine Diskussion über den Rechtsstaat in Deutschland, übertragen im Regionalsender SWR.
Doch die Jura-Prominenz war – wenn auch teils virtuell - anwesend und die Jubilare schonten sich nicht. Die nationalsozialistisch belasteten Anfänge des höchsten deutschen Zivil- und Strafgerichts kamen bei der Geburtstagsfeier ebenso zur Sprache wie der noch immer eher niedrige Frauenanteil von 35 Prozent. Auch wenn viele Bürgerinnen und Bürgern die Justiz als zu langsam, zu milde oder zu kompliziert wahrnehmen, haben doch weiterhin stabil 65 Prozent der im Rahmen des Roland Rechtsreport befragten Deutschen Vertrauen in ihre Justiz. Gleich mehrere wichtige Urteile des BGH in 2020 dürften dieses Vertrauen gestärkt haben.
VW haftet für den Abgasskandal - ein bisschen
Es war die Entscheidung des Jahres - und selten war ein Urteil des BGH mit solcher Spannung erwartet worden. Am 25. Mai war es so weit:VW kassierte eine Menge Schelte vom VI. Zivilsenat. Der Verbau von Abschalteinrichtungen war eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung, basierend auf einer strategischen Entscheidung des Konzerns, um den Gewinn zu maximieren - bewusst getroffen und jahrelang verfolgt von den Entscheidern bei VW, zum Schaden ihrer ahnungslosen Kunden, so der BGH. Der Senat bejahte einen Schaden und billigte gleich auch denjenigen Kunden einen Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrags zu, die ihre Kfz gebraucht und gar nicht beim VW-Händler erworben haben. Strafschadensersatz allerdings gab es nicht, die gefahrenen Kilometer müssen sich die geprellten VW-Käufer anrechnen lassen.
Es war die erwartet deutliche Entscheidung des BGH. Und doch führte sie keineswegs dazu, dass nun halb Deutschland seinen Pkw zurückgeben und von VW sein Geld zurückbekommen konnte. Am Ende war vielmehr VW erfolgreich mit einer Verschleppungstaktik, die über Jahre zahlreiche Instanzgerichte beschäftigt hatte. So kam das Urteil des BGH erst, als der Autobauer sich mit über 240.000 Kunden im Rahmen der erste deutschen Musterfeststellungsklage schon geeinigt hatte.
Und die nachfolgenden Entscheidungen aus Karlsruhe in Sachen Dieselskandal fielen überwiegend zugunsten von VW aus. So änderten zwar die von dem Konzern angebotenen Software-Updates nichts daran, dass die Käufer einen Anspruch auf Schadensersatz haben, urteilte der BGH Ende Juli. Doch einen Anspruch auf Deliktszinsen gibt es nicht. Und wenn der Wert der gefahrenen Kilometer den zurückzuzahlenden Schadensersatzanspruch übersteigt, dann ist das eben so.
Wer seinen VW nach Herbst 2015 kaufte (sog. Kauf-nach-Kenntnis-Fälle), hat ebenso wenig einen Anspruch wie derjenige, der sein Auto zwar zuvor erworben, aber erst im Jahr 2019 Klage eingereicht hat. Im Herbst 2015, spätestens mit der Ad-hoc-Mitteilung und der Presseerklärung von VW vom 22. September 2015, sei der Skandal bekannt gewesen und auch, welche Fahrzeuge davon betroffen gewesen seien, so der BGH. Wer sich danach noch einen VW kaufte oder, obwohl er davon wusste, erst nach Ablauf der regelmäßigen Verjährungsfrist im Jahr 2018 klagte, sei selbst schuld, entschieden die höchsten Zivilrichterinnen und –richter Deutschlands im Dezember.
Doppelschlag: Das Zensurheberrecht und was das Sampling darf
Wichtiges gab es 2020 vom BGH auch im Bereich Urheberrecht - und das am selben Tag gleich in mehrfacher Hinsicht.
Den seit 20 Jahren laufenden Rechtsstreit über ein Sampling einer Sequenz aus dem Kraftwerk-Klassiker "Metall auf Metall" durch den Hip-Hop-Produzenten Moses Pelham verwies der BGH im April 2020 erneut zur Weiterverhandlung zum OLG Hamburg zurück. Fest steht aber, dass es für die Frage der Vervielfältigung auf die Wiedererkennbarkeit des Audioschnipsels ankommt – und dass - eine Vervielfältigung einmal festgestellt - seit der europäischen Harmonisierung im Jahr 2002 auch in Deutschland kein Raum mehr bleibt für eine freie Benutzung gemäß § 24 des deutschen Urheberrechtsgesetzes (UrhR).
Der zweite Fall, über den der BGH entschied, befasste sich mit den Afghanistan-Papieren. Für Kritiker dieser staatlichen Praxis allerdings lief er unter dem Stichwort "Zensurheberrecht".
In dem Rechtsstreit berief sich die Bundesregierung auf das Urheberrecht, um sich gegen die Veröffentlichung von Bundeswehrdokumenten durch die Westdeutsche Allgemein Zeitung (WAZ) zu wehren. Bei den Papieren handelte es sich um als Verschlusssache eingestufte Parlamentsunterrichtungen zur Sicherheitslage in Afghanistan, an die die Journalisten auf ungeklärte Art gekommen waren. Weil Soldaten der Bundeswehr die Lageberichte verfasst hätten, verstoße eine Veröffentlichung gegen deren Urheberrecht, so das Argument.
Der BGH aber sah in den Begleittexten der WAZ eine journalistische Auseinandersetzung und die Veröffentlichung damit als Berichterstattung über Tagesereignisse von § 50 UrhG gedeckt. Der I. Zivilsenat führt weiter aus, dass das Urheberrecht nicht dazu gedacht sei, staatliche Geheimhaltungsinteressen zu erfüllen. Solche würden bereits durch andere Vorschriften wie etwa § 93 Strafgesetzbuch geschützt.
Kauf- und Werkvertrag: Streit um fiktiven Schadensersatz
Im November gab es eine vielbeachtete Entscheidung des VII. Zivilsenats, obwohl der eigentlich bloß bei seiner Rechtsprechung blieb. Und dennoch sollten dieses Urteil neben den Praktikern aus der Bau- und Architektenbranche auch Juristinnen und Juristen in Ausbildung unbedingt kennen, denn es geht um Grundlagen des deutschen Schadensersatzrechts.
Der Ausgangspunkt ist ein Grundsatzurteil des VII. Zivilsenats aus dem Jahr 2018, das seitdem Rechtsprechung und Lehre beschäftigt. Der Baurechtssenat entschied damals, entgegen seiner bis dahin ständigen Rechtsprechung sei es im Werkvertragsrecht nicht mehr zulässig, den Anspruch auf Schadensersatz wegen Mängeln am Bauwerk anhand der voraussichtlich erforderlichen, aber (noch) nicht aufgewendeten (sog. fiktiven) Mängelbeseitigungskosten zu bemessen. Das war an sich schon bemerkenswert genug.
Hinzu kam aber nun, dass das Urteil eine Diskussion in Gang brachte, was das für das Kaufrecht bedeutet. Denn während der Baurechtssenat seine geänderte Rechtsauffassung mit den Besonderheiten des Werkvertragsrechts begründete und daher auch keinen Anlass für eine Vorlage an den Großen Zivilsenat sah, diskutierten nun große Teile der Literatur und der Instanzrechtsprechung eine Übertragbarkeit auf den Kauf- und Mietvertrag und sogar auf deliktische Schadensersatzansprüche. Könnte es zu der vom Baurechtssenat befürchteten Überkompensation durch eine fiktive Schadensersatzberechnung nicht auch außerhalb des Werkvertragsrechts kommen? Der für das Kaufrecht zuständige V. Senat wollte am fiktiven Schadensersatz festhalten, meinte aber auch, Kauf- und Werkvertragsrecht sollten diesbezüglich gleichlaufen. Und weil die kaufrechtliche Rechtsprechung sich auf die ehemalige zum Werkvertragsrecht stützt, fragten sie beim Bausenat an, ob dieser an seiner gerade erst geänderten Rechtsprechung festhalte. Dessen Antwort fiel im November denkbar deutlich aus.
Die Rechtsfrage der Schadensbemessung finde sich nicht ohne Grund im besonderen und nicht im allgemein Teil des Schuldrechts, so der Bausenat. Die Sach- und Rechtslage beim Kauf- und beim Werkvertrag sei aus gleich mehreren Gründen nicht miteinander vergleichbar, die Risikoverteilung völlig unterschiedlich und eine unterschiedliche Behandlung damit kein Problem. Das letzte Wort ist damit nicht gesprochen: Der Kaufrechtssenat muss nun entscheiden, ob er dennoch daran festhält, dass die Änderung im Werkvertragsrecht für seinen kaufrechtlichen Fall entscheidungserheblich ist. Dann müsste er die Rechtsfrage dem Großen Zivilsenat vorlegen.
Schönheitsreparaturen im Mietrecht: Ist geteiltes Leid halbes Leid?
Ja, es gibt sie immer noch, die oft fast quälend kleinteiligen höchstrichterlichen Entscheidungen zum Thema Schönheitsreparaturen des Wohnraummieters. Doch diese hier war anders: Im Juli entschied der für das Mietrecht zuständige VIII. Zivilsenat, dass langjährige Mieter, die ihre Wohnung in unrenoviertem Zustand bezogen haben, ihren Vermieter zum Renovieren verpflichten können, sich aber – in der Regel hälftig - an den Kosten beteiligen müssen.
Es ging um zwei Mieter aus Berlin, die 1992 und 2002 in ihre Wohnungen eingezogen waren. Seitdem hatte niemand dort Renovierungen durchgeführt, der Zustand der Wohnungen hatte sich seit dem Bezug deutlich verschlechtert. Die Wohnungen sind, auch wenn sie bei Einzug unrenoviert waren, also abgewohnter als zu Beginn. Würde der Vermieter renovieren, wäre ihr Zustand wiederum um einiges besser als am Anfang des Mietverhältnisses.
Seine Kompromisslösung stützte der Senat auf Treu und Glauben, § 242 Bürgerliches Gesetzbuch. Was wohl als salomonisches Urteil gedacht war, ruft seitdem bei Mietrechtlern auf Mieter- wie Vermieterseite eher Verwirrung hervor. Und die Mietrechtsszene fragt sich (an-)gespannt, ob diese Argumentation auch auf Gewerbemieten übertragen werden könnte.
Sollte man kennen: 5 wichtige BGH-Urteile aus 2020 . In: Legal Tribune Online, 23.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43829/ (abgerufen am: 28.09.2023 )
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