BFH zu steuerlichen Nachzahlungszinsen: Und dann kamen die Zweifel

Gastbeitrag von Prof. Dr. Dennis Klein

18.05.2018

Innerhalb weniger Wochen musste sich der Bundesfinanzhof zweimal mit dem steuerlichen Zinssatz befassen. Dabei kam er zu ganz gegensätzlichen Entscheidungen. Was diese Divergenz bedeutet und wie es weitergeht, erläutert Dennis Klein.

Seit Jahrzehnten ist der gesetzliche Zinssatz für Steuernachzahlungen und Steuererstattungen in § 238 Abs. 1 S. 1 AO auf 0,5 Prozent pro Monat festgelegt, jährlich also sechs Prozent. Bis zur Niedrigzinsphase nahm hieran kaum jemand Anstoß. Seit aber die Zinsen an den Finanzmärkten im Keller sind, wachsen die Zweifel, ob das steuerliche Zinsniveau noch realitätsgerecht und mit dem allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist.

Die steuerliche Verzinsung soll nämlich Zins- und Liquiditätsvorteile für den Zeitraum zwischen Steuerentstehung und Steuerfestsetzung ausgleichen. Gleichzeitig soll sie den Zinsnachteil des Fiskus ausgleichen, der den (noch) nicht gezahlten Steuerbetrag nicht anderweitig nutzen kann. Wenn aber wie in der Niedrigzinsphase für die zwischenzeitliche Geldanlage gar keine Zinsen erzielbar sind und sich umgekehrt der Staat an den Kapitalmärkten fast zum Nulltarif finanzieren kann, entfällt dieses Argument.

BFH hat erste Chance vertan

Mit Spannung wurde daher eine lange angekündigte Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zu dieser Frage erwartet. Doch die Ende Februar 2018 veröffentlichte Entscheidung enttäuschte viele Beobachter (Urt. v. 09.11.2017, Az. III R 10/16): Der BFH vergab damals die Chance, sich konkret mit dem Zinsniveau und den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine realitäts- und gleichheitsgerechte Besteuerung auseinanderzusetzen.

Stattdessen begnügte sich der BFH damit, lapidar aus einem Monatsbericht der Bundesbank zu zitieren, der im Zeitraum 2013 eine Zinsbandbreite zwischen 0,15 Prozent und 14,70 Prozent festhielt. Sechs Prozent lägen innerhalb dieser Bandbreite, damit bewege sich der Gesetzgeber innerhalb der ihm zuzubilligenden Typisierungs- und Pauschalierungsbefugnis. Dass der zitierte Zinssatz von 14,70 Prozent mit Kreditkartenkrediten an private Haushalte einen seltenen Sonderfall betraf und sich die Mehrzahl der Einlagenzinsen in einer Bandbreite zwischen 0,15 Prozent und 1,8 Prozent bewegte, ignorierten die Münchner Richter.

Der sonst so gerne eine differenzierte und realitätsgerechte Betrachtung beanspruchende BFH drückte sich vor einer konkreten statistischen Befassung mit dem Marktzinsniveau. Fast schien es, als wolle er auf Biegen und Brechen den gesetzlichen Zinssatz erhalten und sich vor einer ansonsten unvermeidbaren Vorlage an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) drücken.

Zweite Chance nun genutzt

Ganz anders nun die am 14. Mai 2018 veröffentlichte Entscheidung vom 25. April 2018 (Az. IX B 21/18). Dabei ging es um einen Fall, in dem das Finanzamt nach einer Betriebsprüfung den ursprünglichen Steuerbescheid Jahre später änderte und für die Zwischenzeit über 240.000 Euro Zinsen verlangte. Klipp und klar hält der BFH in seiner aktuellen Entscheidung die gesetzliche Zinshöhe für verfassungswidrig. Die realitätsferne Bemessung des Zinssatzes mit sechs Prozent verletze den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG und das aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG folgende Übermaßverbot. Die realitätsferne Bemessung der Zinshöhe wirke während eines strukturellen Niedrigzinsniveaus wie ein rechtsgrundloser Steuerzuschlag.

Deutlicher können sich die Positionen kaum unterscheiden. Innerhalb weniger Wochen also ein Wechsel der Sichtweise um 180 Grad?

Zunächst einmal ist zu berücksichtigen, dass zwei unterschiedliche Senate des BFH entschieden haben. Während der 3. Senat den gesetzlichen Zinssatz billigte, hat der 9. Senat aktuell deutlich seine Zweifel artikuliert. Dem 9. Senat gehört im Übrigen auch der Präsident des BFH an, der schon zuvor in der Fachliteratur und Fachöffentlichkeit Kritik am gesetzlichen Zinssatz erkennen ließ.

Gewöhnlich wäre die Abweichung in derartig zentralen Rechtsfragen ein Fall für den Großen Senat des BFH, der die Rechtsprechung des Bundesgerichts auf Linie bringen könnte. Formal liegen die Dinge aber etwas anders: So sind zunächst unterschiedliche Steuerjahre betroffen. Während der 3. Senat über den Zinszeitraum 2013 zu richten hatte, befasste sich der 9. Senat mit dem Verzinsungszeitraum ab 2015. Bis dahin hatte sich die Niedrigzinsphase weiter verstetigt. Insofern können die beteiligten Senate bereits wegen unterschiedlicher Streitjahre und Sachverhalte um eine Anrufung des Großen Senats umhinkommen.

Vom Fachgericht direkt nach Karlsruhe?

Hinzu kommen ferner zwei unterschiedliche Verfahrensarten, in denen die Entscheidungen ergingen. Während der 3. Senat ein Urteil in einem Hauptsacheverfahren fällen musste, ging es im aktuellen Fall des 9. Senats um einen Beschluss im Verfahren einstweiligen Rechtsschutzes (§ 69 Abs. 3 FGO). Im Steuerrecht haben Einspruch und Klage regelmäßig keinen Suspensiveffekt, vielmehr muss die Aussetzung der Vollziehung gesondert angeordnet werden. Ein Steuerpflichtiger kann insofern parallel zum Hauptsacheverfahren einstweiligen Rechtsschutz beantragen.

Im einstweiligen Rechtsschutz wird freilich nur eine summarische Prüfung der Rechtslage vorgenommen. Wenn danach ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen, darf das Gericht dessen Vollziehung ganz oder teilweise aussetzen. Ernstliche Zweifel können auch verfassungsrechtliche Zweifel an der Gültigkeit der zugrundeliegenden Norm sein. Dementsprechend fiel es dem 9. Senat verhältnismäßig leicht, zunächst lediglich über die Aussetzung der Vollziehung zu entscheiden. Das weitere verfassungsrechtliche Schicksal der Norm konnte er dem Hauptsacheverfahren überlassen.

Im Hauptsachverfahren muss das Fachgericht hingegen eine endgültige Entscheidung treffen. Dabei hat das Fachgericht keine eigene Verwerfungskompetenz. Hält es eine entscheidungserhebliche Norm für verfassungswidrig, muss es stattdessen gem. Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG das Verfahren aussetzen und die Entscheidung des BVerfG einholen. Naturgemäß ist die Hemmschwelle für ein solches Verfahren höher, die Vorlage an das BVerfG verlangt eine umfangreiche verfassungsrechtliche Auseinandersetzung. Die summarische Prüfung im Aussetzungsverfahren geht demgegenüber leichter von der Hand.

Entscheidung nur eine Frage der Zeit

Materiellrechtlich wird die Rechtsprechung letztlich nicht um eine Entscheidung umhinkommen. Der Ball ist jetzt wieder in das Hauptsacheverfahren zurückgespielt. Mit der Positionierung und Rückendeckung des BFH wird das Finanzgericht des Hauptsacheverfahrens Farbe bekennen zu haben, ob es das Verfahren aussetzt und das BVerfG anruft.

Beim BVerfG sind im Übrigen bereits Verfassungsbeschwerden zum steuerlichen Zinssatz anhängig. In der Vergangenheit waren derartige Verfassungsbeschwerden noch gescheitert. Freilich betrafen sie Jahre ohne Niedrigzinsphase bzw. noch nicht so lang andauernde Niedrigzinsphase. Insofern ist der aktuelle jüngere Fall aus 2015 anders gelagert.

BVerfG bestraft Untätigkeit des Gesetzgebers

In der Vergangenheit hat das BVerfG durchaus bewiesen, notfalls von der Verwerfungskompetenz auch Gebrauch zu machen. Unlängst hat der Gesetzgeber beispielsweise mit der Grundsteuer Schiffbruch vor dem BVerfG erlitten. Deren im Jahr 1964 stehengebliebene Bemessung hatte sich mittlerweile so weit von den realen Grundstückswerten entfernt, dass das BVerfG einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz erkannte. Die jetzt in Frage stehenden Zinsregelungen gehen auf das Jahr 1961 zurück, auch hier hat die Marktrealität die Gesetzeslage überholt.

Parallelen zum steuerlichen Nachzahlungszins drängen sich also auf und der Gesetzgeber wäre gut beraten, selbst aktiv zu werden. Die im Zivilrecht erprobte Methode, auf den sich dem allgemeinen Zinsniveau anpassenden Basiszins abzustellen, liefert eine Blaupause für eine flexibilisierte Zinsberechnung. Es sind keine überzeugenden Argumente ersichtlich, warum dieser Weg nicht auch im Steuerrecht praktizierbar sein sollte. Der Gesetzgeber hat es in der Hand, entweder von sich aus aktiv zu werden – oder aber am Ende des Tages von den Karlsruher Richtern gezwungen zu werden.

Der Autor Prof. Dr. Dennis Klein ist Professor für Wirtschafts- und Steuerrecht sowie Rechnungslegung an der Leibniz-Fachhochschule in Hannover und zugleich Steuerberater, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht in Toppenstedt bei Hamburg.

Zitiervorschlag

Prof. Dr. Dennis Klein, BFH zu steuerlichen Nachzahlungszinsen: Und dann kamen die Zweifel . In: Legal Tribune Online, 18.05.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/28709/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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