Die Netzgemeinde feiert die Leitlinien zur Netzneutralität als Befreiungsschlag wider den Ausverkauf digitaler Grundprinzipien an Großkonzerne. Die Ängste mögen übertrieben sein – die Begeisterung ist es gewiss, sagt Hans Peter Lehofer.
"Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch." Mit diesen Worten Hölderlins kann man das Narrativ zusammenfassen, das von NetzaktivistInnen rund um die gestern veröffentlichten BEREC-Leitlinien zur Netzneutralität gewoben wurde: Die Netzneutralität sei in großer Gefahr gewesen und nun von der Zivilgesellschaft gerettet worden ("Zivilgesellschaft rettet Netzneutralität", titelte etwa MEP Julia Reda, um nur ein Beispiel von vielen zu zitieren).
Dass fast eine halbe Million Menschen im Konsultationsverfahren zu den BEREC-Leitlinien Stellung genommen haben, ist natürlich ein deutliches politisches Signal. Das ändert aber nichts daran, dass die tatsächliche Bedeutung der Leitlinien eine andere (und zwar: deutlich geringere) ist, als sie etwa den von der US-Regulierungsbehörde FCC erlassenen Regelungen zum "Open Internet" zukommt: Während die FCC für den amerikanischen Raum Regelungen schafft, stellen die BEREC-Leitlinien für Europa nur eine unverbindliche Auslegungshilfe der bereits vergangenes Jahr erlassenen Netzneutralitäts-Verordnung dar. Daher zunächst ein paar Basics zu dieser Verordnung:
Die "Netzneutralitäts-Verordnung"
Seit dem 30. April dieses Jahres gilt in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union - unmittelbar, ohne nationale Umsetzungsmaßnahmen - die Verordnung (EU) 2015/2120, oft auch als "Netzneutralitäts-Verordnung" bezeichnet (obwohl das Wort Netzneutralität darin gar nicht vorkommt). Der Verordnungstext ist Ergebnis einer mühsamen Kompromissfindung im komplexen Gesetzgebungsverfahren der EU (zu dem hier einiges nachzulesen ist), und infolgedessen in manchen Punkten nicht so klar, wie es für die reibungslose Anwendung in der Praxis wünschenswert wäre.
Art. 3 der Verordnung verlangt von den Anbietern von Internetzugangsdiensten die Gleichbehandlung des gesamten Datenverkehrs - "ohne Diskriminierung, Beschränkung oder Störung, sowie unabhängig von Sender und Empfänger, den abgerufenen oder verbreiteten Inhalten, den genutzten oder bereitgestellten Anwendungen oder Diensten oder den verwendeten Endgeräten."
Angemessene Verkehrsmanagementmaßnahmen sind zulässig, und auch das Anbieten von "Spezialdiensten" wird explizit erlaubt (auch wenn die Verordnung das Wort "Spezialdienste" vermeidet und sie etwas verunglückt umschreibt: "andere Dienste, die keine Internetzugangsdienste sind, [...] die für bestimmte Inhalte, Anwendungen oder Dienste oder eine Kombination derselben optimiert sind"). Schließlich verpflichtet die Verordnung in ihrem Art. 4 die Anbieter von Internetzugangsdiensten auch zu gewissen Transparenzmaßnahmen.
Leitlinien sollen einheitliche Umsetzung gewährleisten
Den nationalen Regulierungsbehörden (NRAs) wird in Art. 5 der Verordnung die Aufgabe übertragen, die Einhaltung der in Art. 3 und 4 enthaltenen Verpflichtungen zu überwachen und durchzusetzen. Hier kommt nun auch BEREC ins Spiel (deutsch GEREK, das durch die Verordnung (EG) Nr. 1211/2009 eingerichtete Gremium Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation): "Um einen Beitrag zur einheitlichen Anwendung dieser Verordnung zu leisten", so Art. 5 Abs. 3 der Netzneutralitäts-Verordnung, "gibt das GEREK spätestens bis zum 30. August 2016, nach Anhörung der Interessenträger und in enger Zusammenarbeit mit der Kommission, Leitlinien für die Umsetzung der Verpflichtungen der nationalen Regulierungsbehörden nach diesem Artikel heraus."
Pünktlich am letzten Tag der dafür eingeräumten Frist hat BEREC diese Leitlinien nun veröffentlicht. Sie richten sich an die nationalen Regulierungsbehörden und sollen sicherstellen, dass diese ihre Aufsicht über die Umsetzung der Verordnung möglichst einheitlich handhaben. Zwar ist BEREC den nationalen Behörden gegenüber nicht weisungsbefugt; einen gewissen Hebel für die Beachtung der Leitlinien bildet jedoch Art. 3 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1211/2009: demnach tragen die Regulierungsbehörden allen von BEREC verabschiedeten Leitlinien "weitestgehend Rechnung."
2/3: "Weiche" Zero-Rating-Modelle bleiben möglich
Die Leitlinien lesen sich über weite Strecken wie ein juristischer Kommentar zu einem neu geschaffenen Gesetz: Die Verordnung und ihre Erwägungsgründe werden darin zitiert, vorsichtig neu formuliert und um einige Querverweise, Zitate und Fußnoten ergänzt, um den spröden Rechtstext besser erschließbar zu machen. Wo man sich halbwegs sicher ist, werden Beispiele genannt, aber in strittige Fragen bleibt man vage (zB "might" in Abs. 73, "could" in Abs. 115), verweist auf die umfassende Würdigung aller maßgeblichen Umstände ("comprehensive assessment", zB in Abs. 46) bzw. auf die notwendige Prüfung im Einzelfall ("case-by-case" in Abs. 112) – und überlässt den Rest den Behörden und Gerichten.
Dennoch enthalten die Leitlinien viele brauchbare Erläuterungen zur Verordnung und auch einige Entscheidungen, die man von BEREC – selbst durchaus kein monolithischer Block einheitlicher Interessen – gar nicht erwartet hätte. Dies betrifft etwa das vor allem im Bereich des mobilen Internets bedeutsame "zero-rating"-Modell, bei dem der Datenverbrauch gewisser Anwendungen gegenüber demjenigen anderer Anwendungen privilegiert behandelt wird. Eindeutig unzulässig soll dies jedenfalls dann sein, wenn bei Überschreiten des monatlichen Datenvolumens des Kunden sämtliche normalen Anwendungen gestoppt oder gebremst werden, die privilegierten Anwendungen hingegen in vollem Tempo weiterlaufen. Andere Spielarten des zero-Rating-Modells (beispielsweise diejenige, dass der Datenverbrauch der privilegierten Dienste nicht vom monatlichen Datenvolumen des Kunden abgezogen wird) sollen jeweils einer umfassenden Abwägung unterzogen werden, die auch die Marktpositionen der Beteiligten berücksichtigen soll.
Spezialdienste: nichts Genaues weiß man nicht
Zur zweiten großen Streitfrage, den Spezialdiensten, sind die Leitlinien etwas vorsichtiger. Das im Konsultationsdokument von BEREC noch enthaltene Erfordernis logischer Trennung zwischen Spezialdiensten und Internetzugangsdiensten in Abs. 110 wurde etwas aufgeweicht: nunmehr ist die diese logische Trennung lediglich ein Beispiel (allerdings vorerst das einzige) für die zulässige Ausgestaltung von Spezialdiensten. Ein wenig schlägt auch die Ratlosigkeit durch, die die gesamte Spezialdienste-Diskussion kennzeichnet: wir wissen eigentlich nicht, von welchen (kommenden) Diensten wir da überhaupt reden (Abs. 112: "we do not know what specialised services may emerge in the future").
Aktuell werden nur Voice over LTE, lineare IP-basierte Rundfunkdienste mit besonderen Qualitätsanforderungen und Echtzeit-Gesundheitsdienste als mögliche Anwendungsfälle genannt, sowie Dienste der Maschine-Maschine-Kommunikation und die in Erwägungsgrund 16 etwas kryptisch erwähnten "einigen" Dienste, "die einem öffentlichen Interesse entsprechen".
Dass für das Anbieten von Spezialdiensten keine vorherige Bewilligung der Regulierungsbehörde erforderlich ist, halten die Leitlinien ausdrücklich fest, ist aber ebenso eine Selbstverständlichkeit wie der vollkommen gehaltfreie doppelte Hinweis auf die Grundrechtecharta in Abs. 20 und 82. Dieser Hinweis hat aber immerhin die offenbar gewünschte symbolische Wirkung: So mutmaßt man auf netzpolitik.org etwa, dass der Hinweis in Abs. 20 der Leitlinien "zu einem späteren Zeitpunkt noch entscheidend werden [könnte], wenn der Europäische Gerichtshof über Netzneutralität zu entscheiden hat." Rechtlich kann man dazu nur sagen: nein, dieser Hinweis wird nie entscheidend sein, er ist nur wörtlich von Erwägungsgrund 33 der Verordnung - wo er genauso überflüssig ist - abgeschrieben. Ob die Verordnung tatsächlich die Grundrechte wahrt, wird der EuGH nicht anhand dieses Erwägungsgrunds, und noch weniger anhand der Wiederholung des Erwägungsgrunds in den Leitlinien, entscheiden.
3/3: Die (überschaubaren) Rechtsfolgen der Leitlinien
Wie schon erwähnt, schaffen die Leitlinien kein neues Recht: was nicht schon aus der Verordnung abzuleiten ist, kann durch die Leitlinien nicht eingeräumt werden. Weder gewähren sie den Endnutzern und Zugangsdiensteanbietern irgendwelche Rechte, noch erlegen sie ihnen Verpflichtungen auf (vgl. zu den - rechtstechnisch ähnlich verankerten - Marktanalyse-Leitlinien der Kommission das Urteil des EuGH vom 12.05.2011, C-410/09, Polska Telefonia Cyfrowa). Dass die Regulierungsbehörden den Leitlinien "weitestgehend Rechnung" zu tragen haben, gebietet im Streitfall eine Auseinandersetzung mit den Leitlinien, nicht aber deren "Befolgung" – ganz davon abgesehen, dass die Leitlinien wirkliche Streitfälle ohnehin offen lassen und der Einzelfall-Beurteilung der Regulierungsbehörden überantworten.
Hinzu kommt, dass Anbieter von Internetzugangsdiensten sich nicht notwendigerweise an die in den Leitlinien getroffenen (eher spärlichen) Festlegungen halten werden. Es ist z.B. durchaus denkbar, dass ein Netzbetreiber eine Form des zero-rating praktiziert, die gemäß Abs. 41 der Leitlinien unzulässig ist. Will die Regulierungsbehörde die in den Leitlinien zum Ausdruck kommende Rechtsansicht von BEREC durchsetzen, muss sie gegen diesen Anbieter nach Art. 5 der Verordnung vorgehen - und natürlich hat der Anbieter gegen die Entscheidung der Regulierungsbehörde einen Rechtsbehelf im Sinne des Art. 4 der Rahmenrichtlinie.
Am Ende spricht der EuGH
Letztlich wird es am EuGH liegen, die sich aus der Netzneutralitäts-Verordnung ergebenden Rechte und Pflichten abzugrenzen. Dabei wird er die Leitlinien zwar gewiss berücksichtigen; gebunden ist er daran aber nicht. Wiederum anders als in den USA ("Chevron deference"), gibt es im Europarecht nämlich auch keinen Grundsatz, wonach sich ein Gericht in der Regel an jene Auslegung einer Rechtsvorschrift halten muss, die von der Behörde vertreten wird, die diese Rechtsvorschrift zu vollziehen hat.
Dass die in den BEREC-Leitlinien vertretenen Rechtsansichten nicht widerspruchslos von allen Betroffenen geteilt werden, zeigt die Stellungnahme von ETNO, eines Verbands vor allem großer europäischer Netzbetreiber. Dort werde man, so heißt es in der Stellungnahme, die Leitlinien gründlich analysieren und dabei besonders darauf achten, ob sie mit der Netzneutralitäts-Verordnung und den darin den Regulierungsbehörden zugewiesenen Aufgaben konsistent sind. Das ist diplomatisch ausgedrückt, heißt aber nicht viel mehr als: wir werden uns wohl vor Gericht sehen.
Vielleicht muss ja das Internet demnächst wieder einmal gerettet werden.
Der Autor Prof. Dr. Hans Peter Lehofer ist Richter am österreichischen Verwaltungsgerichtshof und Honorarprofessor der Wirtschaftsuniversität Wien. Unter blog.lehofer.at publiziert er regelmäßig zum Recht der elektronischen Kommunikationsnetze und –dienste.
Prof. Dr. Hans Peter Lehofer, BEREC-Leitlinien zur Netzneutralität: Als wieder einmal das Internet gerettet wurde . In: Legal Tribune Online, 01.09.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20446/ (abgerufen am: 30.11.2023 )
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