Behinderung demokratischer Mitbestimmung: "Ein­schüch­te­rung von Betriebs­räten ist nicht mar­ginal"

Interview von Hasso Suliak

21.01.2022

Die Ampel will härter gegen die Behinderung von Betriebsräten vorgehen. U.a. soll die geltende Strafvorschrift zum Offizialdelikt hochgestuft werden. Aktionismus – angesichts eines Randphänomens? Fragen an Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler

LTO: Bundesarbeitsminister Hubertus Heil will § 119 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG), der Straftaten gegen die Betriebsverfassungsorgane und ihre Mitglieder regelt, als Offizialdelikt einstufen. Störungen oder Behinderung von Betriebsratsgründungen sollen künftig von der Justiz auf Verdacht von Amts wegen auch ohne Anzeige verfolgt werden. Laut Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) verringert die derzeitige Rechtslage "die praktische Relevanz des Straftatbestands", die beabsichtigte abschreckende Wirkung auf die Arbeitgeber trete nicht ein. Hat das Ministerium Recht?

Prof. Dr. Wolfgang Däubler: Ja. Nach § 119 Abs. 2 BetrVG werden Verstöße nur auf Antrag des Betriebsrats oder weiterer dort aufgezählter Betriebsverfassungsorgane, einer im Betrieb vertretenen Gewerkschaft, des Wahlvorstands oder des Unternehmers, verfolgt. Eine Strafverfolgung scheidet damit in betriebsratslosen Betrieben ohne gewerkschaftliche Präsenz aus. Und wenn es dem Arbeitgeber gelingt, bereits die Bestellung eines Wahlvorstands zu verhindern, der ja eine Betriebsratsgründung überhaupt erst auf den Weg bringen soll, läuft § 119 BetrVG derzeit "leer".

Wie verbreitet ist das Phänomen denn?

Die Einschüchterung von Betriebsräten oder solchen, die es werden wollen, ist nicht marginal. Das BMAS verweist auf Umfragen unter hauptamtlichen Gewerkschaftern, wonach insbesondere die Behinderung von Betriebsratsgründungen in bisher betriebsratslosen Betrieben relevant ist. Demnach berichteten 42 Prozent der Befragten, dass ihnen für ihren Zuständigkeitsbereich Versuche einer Be- oder Verhinderung von Betriebsratswahlen bekannt waren. Einer Untersuchung zufolge kam es in 15,6 Prozent der erstmaligen Betriebsratswahlen zu Behinderungsversuchen. Häufig werden Kandidatinnen und Kandidaten für den Betriebsrat eingeschüchtert oder es wird die Bestellung des Wahlvorstands verhindert.

Insgesamt trägt die aktuelle Rechtslage aus meiner Sicht zu einer unguten Entwicklung bei: Denn nur noch in neun Prozent aller vom Gesetz erfassten Betriebe existiert heute ein Betriebsrat. Vor zwanzig Jahren waren es noch zwölf Prozent. Da in größeren Betrieben häufiger als in kleinen eine Wahl zustande kommt, werden gut 40 Prozent aller vom Gesetz erfassten Arbeitnehmer durch einen Betriebsrat vertreten. Der Betriebsrat ist damit ein Minderheitsphänomen. Vor zwanzig Jahren waren noch über 50 Prozent der Arbeitnehmer vertreten.

Foto Prof. Dr. Wolfgang Däubler

"Subtile Mechanismen und Angst vor dem Chef"

Für den Rückgang sind allein die Arbeitgeber verantwortlich?

Eine der Ursachen für diese Entwicklung liegt darin, dass der Arbeitgeber wenig riskiert, wenn er von einer Wahl "abrät" oder damit droht, wegen der Kosten des Betriebsrats gebe es in Zukunft kein Weihnachtsgeld mehr. Auch sind schon Fälle vorgekommen, in denen mit einer Verlagerung des Betriebs nach Osteuropa gedroht wurde, sollte ein Betriebsrat gewählt werden. Wenn sich dann niemand traut, zu einer Betriebsversammlung einzuladen und dort einen Wahlvorstand zu wählen, steht § 119 BetrVG auf dem Papier. Nach der geplanten Neuregelung würde eine Strafanzeige bei der Polizei genügen, um ein Verfahren in Gang zu setzen. Auch ein anonymer Hinweis käme in Betracht – dieser müsste dann aber von der Polizei als glaubwürdig eingestuft werden. 

Die Arbeitgeber warnen, die Hochstufung zum Offizialdelikt würde dazu führen, dass durch Dritte erst Streitigkeiten in die Betriebe getragen würden. 

Dieses Argument halte ich nicht für überzeugend, auch wenn nach meiner persönlichen Einschätzung grobe Verstöße wie die Drohung mit wirtschaftlichen Nachteilen oder gar mit Verlagerung des Betriebes eher die Ausnahme sind.

In vielen Betrieben sind subtile Mechanismen zu beobachten. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wissen beispielsweise, dass der Chef "sauer" ist, wenn man gegen seinen Willen einen Betriebsrat wählt. Das führt dann nicht zu Drohungen oder zu einer Kündigung. Aber wer durch Initiativen unangenehm aufgefallen ist, bekommt die weniger interessanten Arbeitsaufträge, von der begehrten Entsendung ins Ausland ganz zu schweigen. Wahrscheinlich werden auch die Abrechnungen von Dienstreisen viel sorgfältiger als bei "unauffälligen" Kolleginnen und Kollegen geprüft. Und wenn die betroffene Person einen Fehler gemacht und sich verrechnet hat, wird gleich eine Abmahnung ausgesprochen. Auch kann es sein, dass im Betrieb erfundene oder auch wahre Dinge kolportiert werden, die "den Außenseiter" in schlechtem Licht erscheinen lassen.

Ein "vernünftiger“ Mensch wird daher die Finger von solchen Initiativen lassen. Dies gilt auch dann, wenn der Arbeitgeber gar nicht ernsthaft daran denkt, einen Arbeitnehmer in der beschriebenen Weise zu schikanieren. Schon die Angst davor führt dazu, dass kein Betriebsrat gewählt wird. Diese vorgestellte Angstkulisse verliert an Bedeutung, wenn die Arbeitnehmer wissen, dass die Wahlbehinderung unschwer die Staatsanwaltschaft auf den Plan rufen kann. Man hat dann sehr viel mehr Grund, auf ein korrektes Verhalten der Arbeitgeberseite zu vertrauen.

"Vor dem Arbeitsgericht schneller zum Erfolg"

Auch die Störung bereits gewählter Betriebsräte würde künftig nicht mehr nur auf Antrag verfolgt werden. Bekommen die Staatsanwaltschaften demnächst jede Menge Arbeit auf den Tisch?

Existiert ein Betriebsrat und wird er bei der Ausübung seiner Rechte vom Arbeitgeber behindert, so ist auch dies eine Straftat. Allerdings kann es sehr viel sinnvoller sein, das Arbeitsgericht anzurufen und eine einstweilige Verfügung gegen den Arbeitgeber zu erwirken. Hier kommt man nicht nur schneller zum Erfolg. Man behält auch die Möglichkeit, sich wieder in die Augen zu schauen und nach einem vernünftigen Kompromiss zu suchen. Eine strafgerichtliche Verurteilung, eine Bestrafung der anderen Seite zerschneidet das Tischtuch und führt zu einer Art Krieg mit verdeckten Waffen. Daran kann niemand interessiert sein.

Der Strafrahmen des § 119 BetrVG lautet bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe oder Geldstrafe. Den Gewerkschaften ist das zu niedrig: Die Taten würden in den unteren Bereich der Bagatellkriminalität eingeordnet, vergleichbar mit Hausfriedensbruch oder der Beförderungserschleichung. Muss der Strafrahmen des § 119 angehoben werden?

Nein, das Strafrecht ist für absolute Ausnahmefälle gedacht. Es ist nützlich und derzeit das einzige Mittel, wenn es um die erstmalige Wahl eines Betriebsrats geht. Gibt es dagegen einen Betriebsrat, so können andere Mittel aussichtsreicher sein, um Verhandlungen auf Augenhöhe zu erreichen.

Einer meiner Doktoranden hat vor vielen Jahren einmal untersucht, wie die Verfahren verlaufen sind, in denen der Arbeitgeber keine ausreichende Auskunft gegeben und deshalb eine Ordnungswidrigkeit begangen hatte. Das drohende Bußgeld wurde nur in wenigen Fällen verhängt, weil die Beteiligten sich vorher verständigt hatten. Dies führte dann in der Regel dazu, dass der Betriebsrat in Zukunft dem Gesetz entsprechend, d. h. umfassend über alle betrieblich relevanten Vorgänge informiert wurde. Nur in wenigen Fällen, in denen ein Bußgeld verhängt wurde, war einige Jahre später kein Betriebsrat mehr im Amt. Ersichtlich hatte er den "Krieg" verloren.

Übertragen auf den Straftatbestand des § 119 BetrVG bedeutet dies: Es ist gut, dass es ihn gibt und dass ein Verfahren eingeleitet werden kann. Aber dann sollte eine Verhandlungsphase beginnen. Denn was hat der Betriebsrat davon, wenn der Arbeitgeber 5.000 Euro bezahlen muss oder zu einem Monat Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt wird? Wirksame Mitbestimmung in der Zukunft ist bei weitem die bessere Alternative.

Die Gewerkschaften hätten auch gerne deliktspezifische Schwerpunktstaatsanwaltschaften, deren Zuständigkeit über den jeweiligen OLG-Bezirk hinausgeht und die über spezielle Sachkenntnis, spezialisiertes Personal und Material verfügen. Sollte das BMAS diese Forderung bei der Ausarbeitung seiner Reform beherzigen? 

Ja, als Staatsanwältin oder Staatsanwalt kommt man mit arbeitsrechtlichen Fragen so gut wie nie in Berührung. Und man kennt erst recht die informellen Mechanismen nicht, wie man im Betrieb "unangepasste" Leute (die einen Betriebsrat wollen) unter Druck setzen kann. Deshalb wäre es vernünftig, die Zuständigkeit in jedem Land bei einer Staatsanwaltschaft zu konzentrieren; dort würde dann nach einiger Zeit auch die nötige Erfahrung vorhanden sein.

"Digitales Zugangsrecht für die Gewerkschaften ist eilbedürftig"

Sehen Sie neben dem Herumdoktern an einer Strafvorschrift noch weitere Möglichkeiten für den Gesetzgeber, für mehr betriebliche Mitbestimmung in den Betrieben zu sorgen?

Zur Gründung von Betriebsräten gibt es auch die Idee, ein Modell aus der Personalvertretung im Öffentlichen Dienst zu übernehmen.

In Betrieben ohne Betriebsrat müsste danach der Arbeitgeber jedes Jahr eine Betriebsversammlung veranstalten, in der er die Vorzüge und Nachteile des BetrVG erläutert.

Anschließend entscheiden dann die Arbeitnehmer in geheimer Abstimmung, ob sie einen Betriebsrat wollen.

In der Personalvertretung ist das als Pflicht des Dienststellenleiters vorgeschrieben, wenn es keinen Personalrat gibt. Die Folge: 92 Prozent aller im öffentlichen Dienst Beschäftigten sind durch einen Personalrat repräsentiert. Ob sich das ggf. in das BetrVG übertragen lässt, ist eine Frage, derer man sich im Ministerium definitiv annehmen sollte.

Herr Prof. Däubler, das BetrVG feiert in diesem Jahr einen runden Geburtstag. Vor 50 Jahren kam die Demokratie in die Betriebe. Welches "Geburtstagsgeschenk" sollte der Gesetzgeber dem BetrVG in diesem Jahr noch machen?

Im Koalitionsvertrag hat sich die Ampel ja einiges im Arbeitsrecht vorgenommen, u.a., den digitalen Zugang für Gewerkschaften auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen.

Dieses Vorhaben halte ich geradezu für eilbedürftig. Nicht erst seit der Pandemie hat sich die Kommunikation in vielen Betrieben zunehmend ins Digitale verlagert. Um ihre Aufgaben erfüllen zu können, müssen Betriebsräte und Gewerkschaften Zugang zu dieser Sphäre haben. Sonst droht die grundgesetzlich geschützte Koalitionsfreiheit ins Leere zu laufen. Die geltende Gesetzeslage räumt solche digitalen Zugangsrechte zwar bereits ein stückweit ein. Da die Rechtsanwendung bisher aber kompliziert ist und sich Unternehmen widersetzen, bräuchte es eine gesetzliche Klarstellung.

Verorten sollte der Gesetzgeber diese am besten in § 2 BetrVG. In Absatz 2 der Vorschrift ist schon heute das betriebsverfassungsrechtliche Zugangsrecht der Gewerkschaften geregelt.

Professor Dr. Wolfgang Däubler ist Hochschullehrer an der Universität Bremen für deutsches und europäisches Arbeitsrecht, Bürgerliches Recht und Wirtschaftsrecht. Obwohl "offiziell" im Ruhestand, ist er weiterhin in Lehre und Forschung aktiv. Erst im vergangenen Oktober hat er für das Hugo-Sinzheimer-Institut (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung ein Rechtsgutachten zum Digitalen Zugangsrecht im Betrieb erarbeitet.

Zitiervorschlag

Behinderung demokratischer Mitbestimmung: . In: Legal Tribune Online, 21.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47280 (abgerufen am: 10.12.2024 )

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