Das höchste deutsche Gericht hat zwei Befangenheitsanträge in Verfahren gegen den ESM auf dem Tisch. Obwohl neben der Bürgerrechtlerin Hassel-Reusing, deren Verfassungsbeschwerde vom BVerfG zurückgestellt wurde, auch ein Kläger in dem Verfahren, in dem nächste Woche entschieden werden soll, Bedenken gegen die Unbefangenheit von Richter Peter Huber hat, wird ohne Verzögerung entschieden werden, sagt Karlsruhe. Rüdiger Zuck erklärt, warum.
Die Wuppertaler Bürger- und Menschenrechtlerin Hassel-Reusing hat, wie andere auch, unter anderem gegen das Zustimmungsgesetz zum Fiskalpakt und die Ratifizierung des ESM-Vertrags Verfassungsbeschwerde erhoben und entsprechende Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat ihr nach Angaben der Zeitung Die Welt mitgeteilt, die Bearbeitung ihrer Verfassungsbeschwerde werde angesichts der Vielzahl der zu denselben Themen anhängigen Verfahren zunächst zurückgestellt.
Berichterstatter in den anhängigen Verfahren ist Peter Huber, den die Menschenrechtlerin nun wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnt. Sie stützt sich darauf, dass der 53-Jährige früher Mitglied des Kuratoriums "Mehr Demokratie e.V." und Mitherausgeber des von diesem Verein verantworteten "Jahrbuch Demokratie" gewesen sei. Auch der Verein, der einen Volksentscheid zum ESM anstrebt, hat nämlich das BVerfG angerufen.
Beschwerdeführerin Hassel-Reusing will dagegen den ESM ganz verhindern. Sie hält Huber nach Angaben der Welt vor, er habe im Jahr 2011 in einem Interview gegenüber der Süddeutschen Zeitung zur Frage einer Europäischen Wirtschaftsregierung geäußert, dazu müsse das Grundgesetz geändert werden. Das hat er in der Sache selbst für eine Revolution gehalten. Die Beschwerdeführerin meint infolgedessen, mit dieser Äußerung identifiziere sich Huber mit den aus ihrer Sicht schwächeren Zielen des Vereins "Mehr Demokratie e.V.".
Das Phänomen Massenverfassungsbeschwerde
Frau Hassel-Reusing ist vermutlich ein Opfer der Massenverfassungsbeschwerden gegen den ESM. Die Unsitte, Vollmachten zu sammeln, greift immer mehr um sich. Damit soll wohl Bedeutung signalisiert werden. Aber selbst 37.500 Vollmachten (wie im ESM-Verfahren) sind, bezogen auf eine 80 Millionen Bevölkerung, eine Marginalie. Menge verbessert auch die Qualität nicht. Im Übrigen vermag das BVerfG auch ohne Waschkörbe mit Vollmachten zu erkennen, wann eine Sache die Öffentlichkeit bewegt.
Ganz interessant sind auch die Hintergründe solcher populistischen Aktionen. Müssen die 37.500 Auserwählten Anwaltskosten tragen? Der Mindestgegenstandswert in Verfassungsbeschwerdesachen beträgt nach § 37 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz 4.000 Euro. Nach dem anzuwendenden Berechnungsfaktor 1,6 ist die Verfahrensgebühr (einschließlich Mehrwertsteuer und Auslagen) je Beschwerdeführer mit rund 500 Euro zu veranschlagen. Der Gebührenverzicht ist berufsrechtlich nicht ganz unproblematisch.
Und wissen die Beschwerdeführer eigentlich, woran sie sich beteiligt haben? Dazu müsste jeder von ihnen zumindest den Verfassungsbeschwerdeschriftsatz in Händen halten. Auch das Einsammeln von Vollmachten kostet Geld. Mit anderen Worten: Die 37.500 Beschwerdeführer sind eigentlich nur die Tentakeln eines einzigen Finanziers.
Wenn auch ohne Rechtsgrundlage: Zurückgestellt ist zurückgestellt
Es entspricht gängiger Praxis des BVerfG, in solchen Fällen nur einige ausgewählte Verfahren zu behandeln und die anderen zunächst zurückzustellen. Ganz unbedenklich ist diese Praxis nicht. Bei Massenklagen gegen Großvorhaben gibt das Verwaltungsprozessrecht den Gerichten die Möglichkeit, Musterverfahren auszuwählen und die anderen Verfahren erst nach Abschluss der Musterverfahren zu bescheiden.
Dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz aber fehlt eine solche gesetzliche Grundlage. Die Untätigkeit des höchsten deutschen Gerichts könnte man deshalb nach einem Jahr mit dem Mittel der neugeschaffenen Verzögerungsbeschwerde rügen.
Das alles ändert aber nichts daran, dass das Verfahren von Beschwerdeführerin Hassel-Reusing zunächst einmal "liegt". Auch wenn sie nun meint, ihr Fall hätte nicht zurückgestellt werden dürfen, weil er wegen der unterschiedlichen Zielsetzungen der Verfassungsbeschwerden nicht gleichgelagert sei, bleibt Gegenstand des Verfahrens bei allen anhängigen Verfassungsbeschwerden die Antwort auf die Frage, ob der ESM verfassungsgemäß ist. Von einer Abweichung kann deshalb nicht gesprochen werden.
Verfassungsbeschwerden gegen den ESM: . In: Legal Tribune Online, 07.09.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7023 (abgerufen am: 03.10.2024 )
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