Von der deutschen Öffentlichkeit kaum beachtet haben die Regierungen der Euro-Staaten am 2. Februar den Vertrag über den "Europäischen Stabilitätsmechanismus" unterschrieben. Bundestag und Bundesrat werden ihn voraussichtlich am 29. Juni ratifizieren. Der Bund der Steuerzahler macht dagegen seit Monaten mobil – mit ungewöhnlich deutlichen Worten. Arnd Diringer erläutert die Kritik.
Der Bund der Steuerzahler (BdSt) ist mit über 300.000 Mitgliedern die größte unabhängige Interessenvertretung der deutschen Steuerbürger. Seine wissenschaftlichen Analysen, Fachpublikationen und Musterklagen finden normalerweise sowohl in den Medien als auch in der Politik viel Beachtung.
Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass über seine seit Monaten andauernde Kampagne gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) kaum berichtet wird und auch die politische Klasse die Kritik geflissentlich ignoriert.
Dabei hat der Verein das Vertragswerk in einer ausführlichen Analyse mit ungewöhnlich scharfen Worten kritisiert. Er führt unter anderem aus, dass die deutsche Regierung mit dem ESM "den finanziellen Schutz des einfachen Bürgers hinsichtlich seines Einkommens und seiner Ersparnisse (…) aufgehoben und diesen zur Plünderung freigegeben" habe. Weiter heißt es, dass, es sich bei dem Vertragswerk um eine Art "Ermächtigungsgesetz" handele und die "Installation des ESM" auf einen "gewollten Sturz der Nationalstaaten und offenen Staatsstreich" hinauslaufe.
Deutschland haftet unbegrenzt
Der BdSt stellt klar, dass durch den ESM-Vertrag kein Rettungsschirm, sondern eine "Mega-Bank" etabliert werden soll. Ihr höchstes und mächtigstes Gremium ist der so genannte Gouverneursrat, der sich aus den Finanzministern der Euro-Staaten zusammensetzt.
Das "genehmigte Stammkapital" dieser Bank beträgt zunächst 700 Milliarden Euro, von denen 80 Milliarden direkt einzuzahlen sind und 620 Milliarden jederzeit abgerufen werden können. Der deutsche Anteil daran beträgt über 27 Prozent. Das sind mehr als 190 Milliarden Euro.
Zwar müssen alle Euro-Länder einen Teil der Haftungssumme aufbringen. Der Anteil zahlungsunfähiger Staaten, wie zum Beispiel Griechenlands, ist aber bloße Theorie. Wenn sie, was absehbar ist, ihre Beitragspflicht nicht erfüllen, erhöht sich der deutsche Anteil, gegebenenfalls bis auf 100 Prozent der Gesamtsumme.
Das bedeutet aber nicht, dass das Risiko der deutschen Bürger damit dauerhaft auf 700 Milliarden Euro beschränkt ist. Zwar bleibt nach dem ESM-Vertrag die Haftung für jeden Mitgliedstaat auf seinen Anteil am "genehmigten Stammkapital" begrenzt. Der Gouverneursrat kann dieses Stammkapital und damit auch die Haftungssumme aber jederzeit durch einen bloßen Beschluss beliebig erhöhen. Wirksamkeit erlangt dieser Beschluss, wenn die ESM-Mitglieder "den Abschluss ihrer jeweiligen nationalen Verfahren notifiziert", also mitgeteilt haben – wie auch immer diese Verfahren aussehen werden. Ein Beschluss der nationalen Parlamente ist jedenfalls nicht zwingend.
Eurobonds: Es gibt sie doch!
Nach dem Vertragstext kann der ESM einzelnen Staaten Kreditlinien einräumen, Banken finanzieren, Darlehen an Euro-Staaten vergeben und Staatsanleihen am Primär- und am Sekundärmarkt erwerben. Falls dem Gouverneursrat diese Finanzierungsinstrumente nicht ausreichen, kann er jederzeit beschließen, andere im Vertrag nicht genannte Maßnahmen zu ergreifen – ohne, dass die nationalen Parlamente und damit die haftenden Staaten dem zustimmen müssen.
Um all das zu finanzieren, kann der ESM "an den Kapitalmärkten bei Banken, Finanzinstituten oder sonstigen Personen und Institutionen" unbegrenzt Kredite aufnehmen. Gedeckt werden diese Kredite durch das "genehmigte Stammkapital", das zu Lasten der einzelnen Staaten jederzeit erhöht werden kann. Wie der BdSt in einer Kurzanalyse zutreffend ausführt, werden damit Eurobonds eingeführt ohne dies auszusprechen.
Das ist aber nicht alles. Der ESM ist nicht nur berechtigt, "Mittel aufzunehmen, indem er Finanzinstrumente begibt". Er kann auch "mit ESM-Mitgliedern, Finanzinstituten oder sonstigen Dritten finanzielle oder sonstige Vereinbarungen oder Übereinkünfte" treffen. Das ist, wie auch der BdSt feststellt, eine "Blankovollmacht, unbeschränkt Geschäfte jeder Art mit jedermann abzuschließen".
Immunität und steuerfreie Mega-Gehälter
Die Finanzminister und die Bediensteten des ESM agieren dabei in einem nahezu rechtsfreien Raum. Denn sowohl der ESM selbst als auch die für ihn tätigen Personen sind juristisch unantastbar.
Der ESM hat "Immunität von gerichtlichen Verfahren jeder Art", ebenso vor jeder Form "des Zugriffs durch vollziehende, gerichtliche, administrative oder gesetzgeberische Maßnahmen". Seine Archive und Unterlagen sind ebenso "unverletzlich" wie seine Geschäftsräume. Darüber hinaus ist sein Nachrichtenverkehr geschützt, sein Eigentum, seine Mittel und alle Vermögenswerte sind "von Beschränkungen, Verwaltungsvorschriften, Kontrollen und Moratorien jeder Art befreit".
Die Finanzminister und alle anderen Personen, einschließlich der Beschäftigten, die für den ESM tätig werden, brauchen sich bei Straftaten und sonstigen Verfehlungen keine Sorgen zu machen. Denn auch sie genießen "Immunität von der Gerichtsbarkeit". Dieser Schutz scheint sogar besonders dringlich, denn der Vertrag verpflichtet die Staaten "unverzüglich alle Maßnahmen zu treffen", damit die Immunität im jeweiligen nationalen Recht verankert wird.
Die Privilegien gehen sogar noch weiter: Der BdSt geht in seiner Analyse des Vertrags davon aus, dass die Vertragsstaaten für den ESM und seine Bediensteten "die lästigen Steuern abgeschafft" haben und kommentiert dies mit einem ironischen "Bravo!". Tatsächlich ist der ESM von allen direkten Steuern befreit. Die Euro-Staaten sollen zudem "geeignete Maßnahmen für den Erlass oder die Erstattung" von indirekten Steuern treffen, die anfallen, wenn "der ESM für seinen Dienstbedarf größere Einkäufe tätigt".
Die Bediensteten müssen keine nationale Einkommenssteuer zahlen. Ihre "vom ESM gezahlten Gehälter und sonstigen Bezüge (sic!)" unterliegen einer vom Gouverneursrat festzulegenden "internen Steuer zugunsten des ESM" Sie zahlen also an ihren Dienstherrn einen Teil ihres Gehalts zurück. Die Höhe der Entgeltzahlung bestimmt dieser ebenso wie den Rückführungsbetrag.
Wie geht es weiter?
Das Karl-Bräuer-Institut des BdSt hat ausgerechnet, dass sich die Risiken des deutschen Steuerzahlers aus der europäischen Krisenpolitik und dem negativen Target2-Saldo der griechischen Notenbank bislang auf fast 350 Milliarden Euro summieren. Mit dem ESM kommen nun mindestens 190 Milliarden Euro hinzu, wobei die deutsche Haftungssumme unbeschränkt erweitert werden kann. Zum Vergleich: Im Entwurf für den Bundeshaushalt geht die Regierung 2012 von Steuereinnahmen in Höhe von gerade einmal 243 Milliarden Euro aus.
Anscheinend funktioniert wieder einmal, was der Vorsitzende der Euro-Gruppe Jean-Claude Juncker einmal über das Vorgehen der EU gesagt hat: "Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt."
Der Autor Prof. Dr. Arnd Diringer lehrt an der Hochschule Ludwigsburg und leitet dort die Forschungsstelle für Personal und Arbeitsrecht. Vor seiner Berufung war er u.a. als Leiter Zentrale Dienste Arbeits- und Tarifrecht einer privaten Klinikgruppe und Leiter Personal eines Versicherungsunternehmens tätig. Er hat im Verfassungsrecht promoviert und ist Autor zahlreicher verfassungsrechtlicher Veröffentlichungen.
Arnd Diringer, Bund der Steuerzahler kritisiert ESM-Vertrag: . In: Legal Tribune Online, 15.06.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6400 (abgerufen am: 08.11.2024 )
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