Am 8. Dezember feierte die Bayerische Verfassung ihren 70. Geburtstag. Sie ist angesichts von Altersarmut, Wohnungsknappheit, zunehmender sozialer Ungleichheit und der Diskussion um eine Leitkultur aktueller denn je, meint Herbert Grziwotz.
Am 8. Dezember 1946 trat die Bayerische Verfassung in Kraft. Sie ist damit älter als das Grundgesetz. Sie beruht auf den Vorarbeiten des bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Wilhelm Hoegner (SPD) und des Münchener Staatsrechtslehrers Dr. Hans Nawiasky. Beide waren vor der Nazidiktatur in die Schweiz geflohen. Die amerikanische Militärregierung beauftragte Hoegner nach dem 2. Weltkrieg am 8. Februar 1946 mit der Einsetzung eines kleinen Ausschusses zur Vorbereitung der Verfassung. Grundlage der Arbeit war ein Entwurf von Dr. Hoegner, der nach Auffassung der Militärregierung "voll von sozialdemokratischer Philosophie" war. Die sich daran anschließende verfassunggebende Versammlung wählte einen Verfassungsausschuss von 21 Mitgliedern, der in zweimonatiger Arbeit die Verfassung fertigstellte.
Nach Einarbeitung von "Anregungen" der amerikanischen Militärregierung, insbesondere der Ablehnung einer Planwirtschaft und von Konkretisierungen zur bayerischen Staatsangehörigkeit, wurde der Verfassungstext mit 136 gegen 14 Stimmen, die von den Abgeordneten der KPD, der Wirtschaftlichen Aufbauvereinigung (WAV) und der FPD stammten, angenommen. In der Volksabstimmung am 1. Dezember 1946 stimmten 70 % mit Ja. Am 8. Dezember wurde die Verfassung im Bayerischen Gesetz- und Verordnungsblatt veröffentlicht.
Das Programm des neuen bayerischen Staates
Die Verfassung beginnt mit fünf Postulaten zur Staatlichkeit: "Bayern ist ein Freistaat." (Art. 1 Abs. 1 BV). "Bayern ist ein Volksstaat. Träger der Staatsgewalt ist das Volk." (Art. 2 Abs. 1 BV). "Bayern ist ein Rechts-, Kultur- und Sozialstaat. Er dient dem Gemeinwohl." (Art. 3 BV).
Damit ist der Charakter des bayerischen Staates programmatisch in Abgrenzung zum nationalsozialistischen Unrechtsstaat beschrieben. Gleichzeitig setzt sich der Staat zum Ziel, "allen Schichten der Bevölkerung, insbesondere aber den mit materiellen Gütern wenig 'gesegneten', zu einem menschenwürdigen Dasein zu verhelfen", wie es in der Kommentierung von Nawiasky heißt.
Frohe Arbeit, frohes Feiern, reiche Ernten jedem Gau
Die Bayerische Verfassung ist – trotz ihrer mitunter eher kraftvollen Sprache – in vielen Teilen modern: "Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten." (Art. 151 Abs. 1 BV).
Dieser Grundgedanke der Ablehnung einer rein individualistisch gestalteten kapitalistischen Wirtschaftsordnung betrifft vor allem die Kapitalbildung sowie das Geld- und Kreditwesen (Art. 157 BV): "Jede ehrliche Arbeit hat den gleichen sittlichen Wert und Anspruch auf angemessenes Entgelt. Männer und Frauen erhalten für gleiche Arbeit gleichen Lohn." (Art. 168 Abs. 1 BV). Auch für die Landwirtschaft soll ein angemessenes landwirtschaftliches Einkommen sichergestellt und die Überschuldung landwirtschaftlicher Betriebe möglichst verhindert werden (Art. 164 Abs. 1, 165 BV). Sogar zur aktuellen Erbschaftsdebatte enthält Art. 123 Abs. 3 BV einen Hinweis: "Die Erbschaftsteuer dient auch dem Zwecke, die Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen einzelner zu verhindern. Sie ist nach dem Verwandtschaftsverhältnis zu staffeln."
2/2: Bauen unseres Glückes Herd
Nicht aus dem kommunistischen Manifest, sondern Programm der Bayerischen Verfassung ist die angesichts von Bodenspekulationen bedeutsame Forderung nach einer sozialgerechten Bodennutzung: "Steigerungen des Bodenwertes, die ohne besondere Arbeits- oder Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen."
Weniger bekannt ist die angesichts der Wohnungsknappheit weit vorausdenkende Statuierung eines subjektiven Rechts auf Wohnung: "Jeder Bewohner Bayerns hat Anspruch auf eine angemessene Wohnung." (Art. 106 Abs. 1 BV). Insbesondere kinderreiche Familien haben Anspruch auf angemessene, d. h. bezahlbare Wohnungen (Art. 125 Abs. 3 BV).
Das Zusammenleben der Menschen soll nach der Bayerischen Verfassung in Respekt und Frieden erfolgen. Deshalb werden typische nationalsozialistische Prinzipien strikt abgelehnt: "Rassen- und Völkerhaß zu entfachen ist verboten und strafbar." (Art. 119 BV). Und "an allen Schulen sind beim Unterricht die religiösen Empfindungen aller zu achten." (Art. 136 Abs. 1 BV). Hierin kommt auch der demokratische und vor allem der bayerische Grundsatz der Toleranz "leben und leben lassen" als Bildungszweck zum Ausdruck.
Wider die Hakenkreuzmentalität
Die Bayerische Verfassung ist vor allem auch Reaktion auf die vorangegangene "Hakenkreuzmentalität". Der Neubau des bayerischen Staates sollte deshalb mit der Hervorhebung "großer Staatsgrundsätze beginnen, deren rücksichtslose Verleugnung für das Dritte Reich charakteristisch war" (Nawiasky).
Hierfür steht insbesondere der Vorspruch: "Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt hat, in dem festen Entschlusse, den kommenden deutschen Geschlechtern die Segnungen des Friedens, der Menschlichkeit und des Rechtes dauernd zu sichern, gibt sich das Bayerische Volk, eingedenk seiner mehr als tausendjährigen Geschichte, nachstehende demokratische Verfassung."
Gott mit dir, du Land der Bayern
Die Schilderung des vom Unrechtsregime angerichteten Chaos und die nahezu polemische Betonung der mehr als tausendjährigen Geschichte Bayerns im Gegensatz zum Hitlerschen 'tausendjährigen Reich' bezieht Gott mit ein. Die Ehrfurcht vor Gott, die auch in den Bildungszielen der Schule wieder erwähnt wird (Art. 131 Abs. 2 BV), wurde einvernehmlich von SPD und CSU formuliert.
Wenig Verständnis hätten die Väter der Bayerischen Verfassung, selbst gezeichnet von der Erfahrung eines gottlosen Regimes, deshalb wohl für die Entscheidung des Kieler Landtags vom Sommer 2016 gehabt. Gott hatte dort keine Chance, in der Verfassung genannt zu werden. Eine entsprechende gemeinsame Volksinitiative von Juden, Muslimen und Christen wurde abgelehnt. Die Erinnerung scheint wohl nicht mehr so präsent zu sein wie 1946.
Der Autor Prof. Dr. Dr. Herbert Grziwotz ist Historiker und Honorarprofessor an der Universität Regensburg.
Herbert Grziwotz, Bayerische Verfassung feiert 70. Jubiläum: Der Bayern heilig Recht . In: Legal Tribune Online, 10.12.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21411/ (abgerufen am: 23.04.2024 )
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