Bei der Entscheidung über das Wahlverfahren für Arbeitnehmervertreter in einem Aufsichtsrat nach dem MitbestG zählen Zeitarbeiter mit. Die Bedeutung des entsprechenden BAG-Beschlusses erklärt Alexander Bissels.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat sich schon im Jahr 2012 von dem bis dahin überwiegend vertretenen Grundsatz, nach dem im Betriebsverfassungsrecht Zeitarbeitnehmer "wählen, aber bei Schwellenwerten nicht zählen" sollen, verabschiedet. Jetzt hat der 7. Senat bestätigt, dass dies auch für das Mitbestimmungsgesetz (MitbestG) gelten soll.
Nach dem Beschluss des BAG sind auf Stammarbeitsplätzen eingesetzte, wahlberechtigte Zeitarbeitnehmer bei der Ermittlung der Anzahl der Arbeitnehmer grundsätzlich mitzuzählen (Beschl. v. 04.11.2015, Az. 7 ABR 42/13). Wahlberechtigt sind Leiharbeitnehmer nach § 7 Satz 2 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG), wenn sie länger als drei Monate in dem Betrieb eingesetzt werden (sollen).
Delegiertenwahl oder unmittelbare Wahl?
Liegt die Anzahl der gesamten Belegschaft dann über dem Schwellenwert von mehr als 8.000 Arbeitnehmern, so ist die Wahl der von den Arbeitnehmer gestellten Aufsichtsratsmitglieder nach dem MitbestG grundsätzlich nicht mehr als unmittelbare Wahl, sondern als so genannte Delegiertenwahl durchzuführen.
Hat ein Unternehmen mehr als 8.000 Arbeitnehmer, so sind nach § 9 Abs. 1 MitbestG die Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer durch Delegierte zu wählen - es sei denn, die wahlberechtigten Arbeitnehmer beschließen die unmittelbare Wahl. Im Gegensatz dazu ist in § 9 Abs. 2 MitbestG festgelegt, dass die Wahl in Unternehmen mit in der Regel weniger als 8.000 Arbeitnehmern in unmittelbarer Wahl erfolgt, sofern nicht die wahlberechtigten Arbeitnehmer die Wahl durch Delegierte beschließen.
In dem Verfahren vor dem BAG hatten nun 14 in dem Unternehmen beschäftigte Mitarbeiter verlangt, die Wahl als unmittelbare Wahl durchzuführen. Der Hauptwahlvorstand hatte unter Berücksichtigung von 444 auf Stammarbeitsplätzen eingesetzten wahlberechtigten Zeitarbeitnehmern eine Gesamtbeschäftigtenzahl von 8.341 Personen festgestellt. Der Antrag wurde vom BAG – wie auch von den Vorinstanzen – zurückgewiesen. Nach Ansicht des 7. Senats entspricht der Beschluss des Hauptwahlvorstandes, die Aufsichtsratswahl als Delegiertenwahl durchzuführen, der vom Gesetz in § 9 Abs. 1MitbestG vorgesehenen Regelwahlart.
Das MitbestG definiere – so das BAG - den Begriff "Arbeitnehmer" nicht selbst, sondern verweise in § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 MitbestG auf den betriebsverfassungsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff des § 5 Abs. 1 BetrVG. Nach der neueren Rechtsprechung des BAG solle die Berücksichtigung von Zeitarbeitnehmern als Mitarbeiter des Einsatzbetriebs insbesondere von einer normzweckorientierten Auslegung des jeweiligen gesetzlichen Schwellenwertes abhängen. In Fortführung dieser Judikatur wären bei der Entscheidung über das korrekte Wahlverfahren jedenfalls wahlberechtigte Zeitarbeitnehmer auf Stammarbeitsplätzen des Einsatzunternehmens mitzuzählen.
BAG fügt weiteren Mosaikstein hinzu
Auch wenn bislang nur die Pressemitteilung des BAG zu der obigen Entscheidung vorliegt, ist diese für die Praxis von besonderem Interesse – indes wohl weniger wegen der konkreten streitgegenständlichen Rechtsfrage. Vielmehr stellt der Beschluss einen weiteren Mosaikstein in der Entwicklung der Rechtsprechung dar. Aus der ergibt sich, dass die Richter Zeitarbeitnehmer bei Schwellenwerten zusehends wie Stammbeschäftigte behandelt wissen wollen. Dies hat das BAG durch den Beschluss vom 4. November nunmehr erstmals auch für das MitbestG entschieden.
Das BAG hatte sich dazu zuvor nur zu betriebsverfassungsrechtlichen Schwellenwerten geäußert und in der jüngeren Vergangenheit die reine "Zwei-Komponenten-Lehre" aufgegeben. Diese hatte dazu geführt, dass Zeitarbeitnehmer "wählten, aber nicht zählten". Denn zu den konstitutiven Merkmalen der Betriebszugehörigkeit gehörte ein Arbeitsverhältnis mit dem Betriebsinhaber (diese Voraussetzung fehlt bei Zeitarbeitnehmern) und die tatsächliche Eingliederung des Arbeitnehmers in dessen Betriebsorganisation.
Diese Lehre führe – so das BAG – zumindest beim drittbezogenen Personaleinsatz und einer "aufgespaltenen Arbeitgeberstellung" aber nicht zu sachgerechten Ergebnissen. In diesen Fällen seien vielmehr differenzierende Lösungen geboten, die zum einen die ausdrücklich normierten spezialgesetzlichen Konzepte, zum anderen aber auch die Funktion des Arbeitnehmerbegriffs im jeweiligen betriebsverfassungsrechtlichen Zusammenhang angemessen berücksichtigten (vgl. BAG Beschl. v. 05.12.2012, Az. 7 ABR 48/11).
So hat das BAG in der Folge anerkannt, dass regelmäßig im Kundenbetrieb beschäftigte Zeitarbeitnehmer bei der Bestimmung der Größe des Betriebsrats gem. § 9 BetrVG grundsätzlich zu berücksichtigen sind (BAG Beschl. v. 13.03.2013, Az. 7 ABR 69/11; so auch: LAG Rheinland-Pfalz Beschl. v. 06.02.2015, Az. 1 TaBV 23/14). Die Instanzrechtsprechung hat Zeitarbeitnehmer auf Grundlage der geänderten Rechtsprechung des BAG sodann auch bei der Festlegung der Anzahl von freizustellenden Betriebsratsmitgliedern gem. § 38 BetrVG mitgezählt (vgl. LAG Rheinland-Pfalz Beschl. v. 14.07.2015, Az. 8 TaBV 34/14; LAG Baden-Württemberg Beschl. v. 27.02.2015, Az. 9 TaBV 8/14).
2/2: Geht das BAG noch weiter?
An sich stellt die Übertragung dieser Rechtsprechungsgrundsätze vom BetrVG auf das MitbestG keine Überraschung dar. Denn das MitbestG knüpft an den im BetrVG definierten Arbeitnehmerbegriff an; insoweit war ein Gleichlauf zu erwarten. Spannend wird aber, ob das BAG noch einen Schritt weiter gehen wird und Zeitarbeitnehmer bei den Schwellenwerten berücksichtigt, die entscheidend dafür sind, ob überhaupt ein drittelmitbestimmter oder paritätisch mit Arbeitnehmern besetzter Aufsichtsrat zu bilden ist (mehr als 500 Arbeitnehmer nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 DrittelbG; mehr als 2.000 Arbeitnehmer nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 MitbestG). Das "Mitzählen" von Zeitarbeitnehmern könnte sodann zur Folge haben, dass bei einem Unternehmen überhaupt erst ein mit Arbeitnehmervertretern besetzter Aufsichtsrat zu bilden wäre. Dies hätte – anders als die Entscheidung über ein Wahlverfahren – für die Organisation und Steuerung einer Gesellschaft tiefgreifende Auswirkungen.
Die herrschende Ansicht in der Rechtsprechung lehnt dies – selbst unter Anwendung der geänderten Judikatur des BAG – zu Recht weiterhin ab (vgl. OLG Hamburg Beschl. v. 31.01.2014, Az. 11 W 89/13). Ziel des MitbestG sei es, die Fremdbestimmung von Arbeitnehmern durch ihre Beteiligung an unternehmerischen Entscheidungen zu mildern und die ökonomische Legitimation der Unternehmensleitung durch eine soziale zu ergänzen, hatten die OLG-Richter geurteilt. Zeitarbeitnehmer könnten allerdings in den Betrieb des Personaldienstleisters zurückkehren; eine betriebsbedingte Kündigung des Verleiherbetriebes sei allein aufgrund des Wegfalls des Beschäftigungsbedürfnisses beim Kundenunternehmen ausgeschlossen. Daher seien Zeitarbeitnehmer von unternehmerischen Entscheidungen anders betroffen als die Stammbeschäftigten – ihre Berücksichtigung bei den mitbestimmungsrechtlichen Schwellenwerten für die Besetzung von Aufsichtsräten mit Arbeitnehmervertretern sei daher nicht erforderlich.
Ob dies auch Erfurt überzeugt, bleibt abzuwarten. In der zur Entscheidung vom 4. November veröffentlichten Pressemitteilung des BAG heißt es ausdrücklich dazu, dass der Senat nicht darüber zu befinden hatte, ob Zeitarbeitnehmer auch bei anderen Schwellenwerten der Unternehmensmitbestimmung in die Berechnung einbezogen werden müssen. Das BAG hält sich letztlich alle Möglichkeiten offen. Interessant ist aber, dass sich der 7. Senat befleißigt gesehen hat, in einer Pressemitteilung einen Hinweis darauf zu geben, was das Gericht gerade nicht entschieden hat. Im Zweifel ist dies ein Indiz dafür, dass die hiesige Entscheidung aus Erfurt zumindest als Indikator hätte angesehen werden können, wie es um die Beantwortung der Frage zu den "Eintrittsschwellenwerten" zur Anwendung von Gesetz über die Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat (DrittelbG) bzw. MitbestG bestellt ist – aufgrund der (vorbeugend) klarstellenden Aussage des BAG aber mit nicht vorhersehbarem Ausgang.
Dr. Alexander Bissels ist Partner und Fachanwalt für Arbeitsrecht bei CMS Hasche Sigle. Er berät Unternehmen auf sämtlichen Gebieten des Individual- und Kollektivarbeitsrechts, insbesondere zu Fragen im Bereich des Fremdpersonaleinsatzes (Arbeitnehmerüberlassung und Werkvertrag). Alexander Bissels ist u.a. Autor Mitherausgeber eines Kommentars zum AÜG. Darüber hinaus hält er regelmäßig Vorträge zu aktuellen arbeitsrechtlichen Themen, insbesondere mit Bezug zur Arbeitnehmerüberlassung.
Dr. Alexander Bissels, BAG zur Berücksichtigung von Zeitarbeitnehmern bei Schwellenwerten nach MitbestG: "Und sie zählen doch…" . In: Legal Tribune Online, 10.11.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17491/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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