Fallen Kündigung und Krankmeldung zeitlich unmittelbar zusammen, kann der hohe Beweiswert der ärztlichen Krankschreibung entfallen. Michael Fuhlrott ordnet ein aktuelles Urteil des Bundesarbeitsgerichts ein.
Wer arbeitsunfähig erkrankt ist, braucht nicht zu arbeiten. Existenzsorgen müssen sich Beschäftigte aber nicht machen: Erkrankte Arbeitnehmer bekommen gleichwohl vom Arbeitgeber bis zur Dauer von sechs Wochen den vollen Lohn gezahlt, erst danach springt die Krankenkasse ein und zahlt ein Krankengeld – so regelt es das Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG).
Der Beweis dafür, dass eine Arbeitsunfähigkeit besteht, wird mittels ärztlicher Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) erbracht, umgangssprachlich auch "gelber Schein" genannt. Einem solchen Attest kommt ein hoher Beweiswert zu, der nur bei konkreten Indizien erschüttert werden kann. Eine solche Erschütterung kann aber auch dann gegeben sein, wenn sich der Arbeitnehmer im Anschluss an eine vom Arbeitgeber erhaltene Kündigung krankmeldet oder das Attest passgenau bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses ausgestellt ist. Das haben die Richterinnen und Richter des Bundesarbeitsgerichts (BAG) in einer aktuellen Entscheidung klargestellt (Urt. v. 13.12.2023, Az.: 5 AZR 137/23, bislang nur vorliegend als Pressemitteilung).
Ob es sich dabei um eine Kündigung des Arbeitgebers oder um eine Arbeitnehmereigenkündigung handelt, ist indes nachrangig. Mit diesem Urteil setzt der fünfte Senat des BAG seine Rechtsprechung zu den geänderten Anforderungen an den Beweiswert ärztlicher Atteste fort, die er mit einer Entscheidung vor rund zwei Jahren eingeläutet hatte (Urt. v. 8.9.2021, Az.: 5 AZR 149/21).
Zeit perfekte Genesung zum Beginn des neuen Jobs
Anlass der Entscheidung vom Mittwoch war die Krankmeldung eines mit Hilfstätigkeiten betrauten Arbeitnehmers einer Zeitarbeitsfirma. Für diese war der Mann seit Mitte März 2021 tätig. Bereits rund einen Monat nach Beginn der Zusammenarbeit wurde der Mitarbeiter von dem Verleiher nicht mehr eingesetzt. Am 2. Mai 2022 reichte der Zeitarbeiter dann eine AU ein, die ihn aufgrund einer Infektion der oberen Atemwege bis zum 6. Mai 2022 krankschrieb. Als sie das Attest erhielt, kündigte die Zeitarbeitsfirma das Arbeitsverhältnis ordentlich fristgerecht zum 31. Mai 2022. Mit Attest vom 6. Mai 2022 bis einschließlich 20. Mai 2022 verlängerte der Gekündigte die Krankschreibung mit fortbestehender Diagnose; dann reichte er ein drittes Attest ein, das ihn bis zum 31. Mai 2022 als arbeitsunfähig einstufte. Dieses enthielt als weitere Diagnose einen nicht näher bezeichneten Stresszustand.
Das Unternehmen glaubte dem Mitarbeiter aber nicht, wirklich krank zu sein, und verweigerte die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall gem. § 3 EFZG. Dass die Krankschreibung passgenau bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses ausgestellt wurde, während die neue Tätigkeit des Mannes taggenau danach beginnen sollte, machte die Leitarbeitsfirma misstraurisch. Der Beweiswert der AU sei erschüttert, so die Argumentation des damaligen Noch-Arbeitgebers. Der Mitarbeiter klagte hiergegen und war mit seiner Zahlungsklage sowohl erstinstanzlich (ArbG Hildesheim, Urt. v. 26.10.2022, Az.: 2 Ca 190/22) als auch vor dem Landesarbeitsgericht Niedersachsen (LAG, Urt. v. 08.03.2023, Az.: 8 Sa 859/22) erfolgreich.
Passgenaue Krankschreibungen waren schon einmal Thema vorm BAG
Derartige Streitigkeiten über den Beweiswert ärztlicher Atteste vor den Arbeitsgerichten sind bei weitem kein Einzelfall. Die gestiegene praktische Bedeutung solcher Auseinandersetzungen vor Arbeitsgerichten ist Ausfluss der erwähnten höchstrichterlichen Entscheidung des Bundesarbeitsgericht (BAG) aus dem Jahr 2021. In dieser Entscheidung wiesen die höchsten deutschen Arbeitsrichterinnen und -richter die Zahlungsklage einer Zeitarbeiterin ab. Diese hatte eine Eigenkündigung ausgesprochen und am gleichen Tag ihrem Arbeitgeber eine AU überreicht. Übergabe der Kündigung und Ausstellung der Krankschreibung sowie Krankheitsdauer und Ende des Arbeitsverhältnisses fielen jeweils passgenau zusammen, sodass das BAG eine Erschütterung des Beweiswerts der AU annahm.
In der Folge dieser Entscheidung wurde die Rechtsprechung zum Beweiswert ärztlicher Atteste durch zahlreiche Gerichtsentscheidungen der Instanzgerichte weiter diskutiert; in der darauf folgenden Debatte war von einer juristischen "Spielwiese für die Arbeitgeber" die Rede.
BAG: Bei passgenauer AU egal, ob Arbeitnehmer oder Arbeitgeber kündigt
Vor diesem Hintergrund hob das BAG in seiner aktuellen Entscheidung auch die Entscheidung der Vorinstanz auf: Ausweislich der bisher vorliegenden Pressemitteilung sei „nicht entscheidend, ob es sich um eine Kündigung des Arbeitnehmers oder eine Kündigung des Arbeitgebers handelt und ob für den Beweis der Arbeitsunfähigkeit eine oder mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt werden“. Wichtig bleibe stets die einzelfallbezogene Würdigung der Gesamtumstände.
Dabei sei die zeitliche Koinzidenz zwischen Kündigung und Krankmeldung ein wichtiger Umstand, der den Beweiswert eines Attests erschüttern könne. Gleiches gelte für eine passgenau bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses attestierte Arbeitsunfähigkeit, wenn unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Stelle angetreten wird.
Diese Umstände hat die Vorinstanz laut BAG nicht ausreichend gewürdigt und eine Erschütterung des Beweiswerts fälschlicherweise nicht angenommen. Da der Beweiswert jedenfalls für die Krankmeldungen ab Mai 2022 im vorliegenden Fall als erschüttert anzusehen sei, müsse der Kläger nunmehr im fortgesetzten Verfahren vor dem LAG den vollen Beweis dafür erbringen, dass er tatsächlich krankheitsbedingt arbeitsunfähig war.
Was folgt aus dem Urteil?
Mit seiner aktuellen Entscheidung setzt das BAG einen weiteren durchaus bedeutenden Mosaikstein, allerdings keinen Schlussstein mit Blick auf die Angreifbarkeit des Beweiswerts ärztlicher Atteste. Die Umstände des Einzelfalls, die über eine Erschütterung entscheiden, bleiben maßgeblich.
Eines sollte aber in der Diskussion nicht vergessen werden, die teils plakativ verkürzt erfolgt: Selbst wenn die Erschütterung des Beweiswerts eines ärztlichen Attests bejaht wird, führt dies nicht automatisch zum Entfallen des Anspruchs auf Lohnfortzahlung des Arbeitnehmers. Die Folge ist, dass die Beweislast auf den Arbeitnehmer zurückfällt. Dieser muss dann darlegen, dass er tatsächlich erkrankt war. Dies kann er auch weiterhin machen, indem er etwa seine Krankheitsumstände näher erläutert, ärztliche Befundberichte beibringt oder den die AU ausstellenden Arzt als Zeugen im Zahlungsprozess nennt.
Der Arbeitnehmer wird also durch die Entscheidung keineswegs schutzlos gestellt oder das Entgeltfortzahlungsrecht ausgehöhlt. Die aktuelle Entscheidung des BAG stellt damit keinesfalls den Untergang des Abendlandes im Entgeltfortzahlungsrecht dar oder kann als Auftakt zu einer Verschlechterung des Schutzstandards für Beschäftigte verstanden werden. Dass Arbeitgeber bei Krankmeldungen im Zusammenhang mit Kündigungen nunmehr noch genauer hinsehen werden, könnte hingegen durchaus Folge der aktuellen Entscheidung sein.
Der Autor Prof. Dr. Michael Fuhlrott ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei FHM in Hamburg.
BAG zur Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung: . In: Legal Tribune Online, 13.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53410 (abgerufen am: 04.10.2024 )
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