Bundesarbeitsgericht zum Initiativrecht von Betriebsräten: Arbeits­zeit muss künftig erfasst werden

Gastbeitrag von Prof. Dr. Michael Fuhlrott

13.09.2022

Paukenschlag aus Erfurt: Laut BAG sind Unternehmen verpflichtet, die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter zu erfassen. Das gilt unabhängig davon, ob ein Betriebsrat besteht oder nicht. Michael Fuhlrott ordnet die Entscheidung ein.

Der Fall begann eigentlich ganz harmlos mit einem Streit um die Kompetenzen eines Betriebsrats im Rahmen der Mitbestimmung. Denn wenn ein Betriebsrat im Betrieb besteht, hat der Unternehmer diesen in vielen Fällen zu beteiligen. Dabei variiert die Intensität der gesetzlich vorgesehenen Partizipation. So unterscheidet sich die Beteiligung bei einer Einstellung von der bei einer Betriebsschließung.  

Die fein ausdifferenzierte Palette des Betriebsverfassungsrechts reicht damit von bloßen Informationsrechten über Anhörungs- und Beratungsrechte bis hin zu Bereichen echter und gleichberechtigter Mitbestimmung zusammen mit dem Arbeitgeber. Viele dieser echten Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bestehen in sozialen Angelegenheiten, also bei Fragen des gemeinsamen Miteinanders im Betrieb und sind in § 87 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) geregelt.  

Danach unterfällt etwa die Einführung einer Dienstuniform als Teil des sogenannten Ordnungsverhaltens dem Mitbestimmungstatbestand (§ 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG) oder darf der Betriebsrat bei der Einführung eines betrieblichen Bonussystems zur Incentivierung der Mitarbeiter mitentscheiden (§ 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG). Kommt keine Einigung zustande, müssen die Betriebsparteien den Weg in die Einigungsstelle gehen, also eine Art außerbetriebliche Schlichtung unter Vorsitz eines externen Schlichters, meist in Form einer Arbeitsrichterin oder eines Arbeitsrichters unternehmen. Diese Einigungsstelle entscheidet dann verbindlich.

Grundsätzlich kein betriebsratsseitiges Initiativrecht

Gemein ist fast allen Mitbestimmungstatbeständen, dass dem Betriebsrat kein Initiativrecht zukommt. Sprich: Will der Arbeitgeber eine Entscheidung in einem der Mitbestimmungsbereiche treffen, muss er sich mit dem Betriebsrat einigen. Ob der Arbeitgeber sich aber entschließt, einen Bereich zu regeln, entscheidet er selbst. Er darf die Initiative ergreifen, nicht die Arbeitnehmervertretung.  

Diese Grundsätze stellte ein Betriebsrat in einer vollstationären Wohneinrichtung nunmehr in Frage. Hintergrund waren Verhandlungen über die Einführung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung. Auch dies ist ein Gegenstand der betrieblichen Mitbestimmung iSv. § 87 BetrVG, da der Katalog mitbestimmungspflichtiger Gegenstände des Gesetzgebers auch die „Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen“ umfasst (§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG).  

Folgerichtig nahm der Arbeitgeber also Verhandlungen mit dem Betriebsrat hierzu auf, verlor aber anscheinend nach einigen Gesprächsrunden das Interesse an der weiteren Verfolgung der Angelegenheit. Der Arbeitgeber brach die Gespräche dazu ab und teilte mit, die Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung nicht weiter verfolgen zu wollen. Dies gefiel dem Betriebsrat aber nicht, der nunmehr auf die weitere Verhandlung und Einführung eines entsprechenden Zeiterfassungssystems drängte.  

Der Betriebsrat rief die Einigungsstelle an und begehrte die weitere Verhandlung des Zeiterfassungssystems. Diese setzte zunächst die Verhandlungen aus. Es sei ungeklärt, ob die Einigungsstelle in diesem Fall zuständig sei, wenn der Betriebsrat initiativ die Einführung einer Arbeitszeiterfassung verlange und die Einigungsstelle hierüber sodann eine verbindliche Regelung treffen solle. Dies sollten die Betriebsparteien zuvor im Wege eines gerichtlichen Beschlussverfahrens prüfen.

Vorinstanz bejaht Initiativrecht  

Das erstinstanzlich entscheidende Arbeitsgericht Minden (Beschluss v. 15.09.2020, Az.: 2 BV 8/20) gab dem Arbeitgeber Recht. Es berief sich auf die bisherige, wenngleich ältere Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG, Beschl. v. 28.11.1989, Az.: 1 ABR 97/88). Danach sei das Mitbestimmungsrecht bei technischen Überwachungseinrichtungen eher als Abwehrrecht des Betriebsrats zum Schutz der Arbeitnehmer zu verstehen, aus dem sich jedoch kein Initiativrecht des Betriebsrats ergebe. Diese Argumentation überzeugte die im Wege der Beschwerde angerufenen Landesarbeitsrichter hingegen nicht: Sie sprachen dem Betriebsrat ein Initiativrecht zu (Beschl. v. 27.7.2021, Az.: 7 TaBV 79/20). Wortlaut und Verständnis der betriebsverfassungsrechtlichen Norm verlangten ein anderes Verständnis, als es die Vorinstanz im Einklang mit dem BAG angenommen habe.  

In eine ähnliche Richtung dachten auch andere Arbeitsgerichte: So etwa eine Kammer des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf (Beschl. v. 24.8.2021, Az.: 3 TaBV 29/21) und des Landesarbeitsgerichts München (Beschl. v. 10.8.2021, Az.: 3 TaBV 31/21), die ein entsprechendes Initiativrecht des Betriebsrats bei der Arbeitszeiterfassung jedenfalls für möglich ansahen und somit die Einsetzung betrieblicher Einigungsstellen auf Wunsch des Betriebsrats bejahten. Es sei nicht auszuschließen, dass dem Betriebsrat ein solches aktives Mitbestimmungsrecht zukomme. Teils beriefen sich die Richter dabei auch ausdrücklich auf die "Stechuhr-Entscheidung" des EuGH (v. 14.5.2019, C-55/19). Denn diese verpflichte die europäischen Mitgliedsstaaten, ein objektives und verlässliches System zur Arbeitszeiterfassung zu schaffen. Diese Überlegungen seien auch bei der Diskussion um ein Initiativrecht des Betriebsrats mit zu berücksichtigen.

Pyrrhussieg für den Arbeitgeber  

Das BAG indes sah die Sache nunmehr ganz anders (Beschl. v.13.9.2022, Az.: 1 ABR 22/21): Auf die Frage eines Initiativrechts des Betriebsrats komme es gar nicht an. Ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bestehe nämlich überhaupt nur dann, wenn es keine gesetzliche Regelung gebe. Eine solche gesetzliche Regelung gebe es aber vorliegend. Denn § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) sehe vor, dass Arbeitgeber zur Sicherung des Gesundheitsschutzes "für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen" habe.

Das umfasse auch die Messung und Erfassung der Arbeitszeit, so die höchsten deutschen Arbeitsrichterinnen und Arbeitsrichter. Damit wies das BAG zwar den Antrag des Betriebsrats zurück und gab dem Arbeitgeber insoweit Recht. Das dürfte sich aber im Ergebnis als Pyrrhussieg für den Arbeitgeber herausstellen. Denn die Konsequenzen dieser Sichtweise sind ungleich gravierender.

Arbeitszeiterfassung: Für alle, für jede und jeden?

Was mit einer Streitigkeit um Beteiligungsrechte begann und damit nur die Reichweite des Normenkatalogs der Mitbestimmungsrechte des Betriebsverfassungsgesetzes betroffen hätte, hat durch den Paukenschlag aus Erfurt nunmehr eine völlig andere Dimension bekommen: Das Arbeitsschutzgesetz gilt für alle Betriebe in Deutschland, gleich, ob ein Betriebsrat besteht oder nicht. Damit sind nach der Lesart des BAG alle Unternehmen, gleich welcher Größe, verpflichtet, die Arbeitszeit künftig zu erfassen.  

Die Pflicht zur Einführung eines Systems zur allumfassenden Arbeitszeiterfassung und damit das einhergehende Ende der Vertrauensarbeitszeit zeichnen sich nun nicht mehr als Ergebnis eines Gesetzgebungsverfahrens als denkbares Ende am Horizont ab, sondern sind – ohne Umsetzungsfrist – durch die heutige Entscheidung Realität geworden. Ob und welche Freiheiten das BAG Unternehmen zubilligt, kann der am Dienstag allein vorliegenden Pressemitteilung des Gerichts nicht entnommen werden. Dort lautet es nur recht schnörkellos "Der Arbeitgeber ist nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann."

 Der Gesetzgeber ist durch die heutige Entscheidung durch das BAG links überholt worden. Ohne Frage wird dies neuen Schwung in das Gesetzgebungsverfahren bringen, das nunmehr auf der Agenda ganz oben stehen dürfte. Für die Zukunft bleibt eine einfache Lehre: Bleibt der Gesetzgeber bei der Umsetzung europäischer Vorgaben untätig, werden Gerichte nach und nach im Wege der Rechtsprechungsentwicklung für eine Umsetzung und die Ausgestaltung der einzelnen rechtlichen Vorgaben zur Arbeitszeiterfassung sorgen.

Der Autor Prof. Dr. Michael Fuhlrott ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei FHM – Fuhlrott Hiéramente & von der Meden Partnerschaft von Rechtsanwälten in Hamburg.

Zitiervorschlag

Bundesarbeitsgericht zum Initiativrecht von Betriebsräten: Arbeitszeit muss künftig erfasst werden . In: Legal Tribune Online, 13.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49610/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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