Auch, wer sich unerlaubt in Deutschland aufhält, hat gewisse Grundrechte. In Anspruch nehmen kann er sie oft nicht, weil seine Daten sofort der Ausländerbehörde gemeldet würden. Ein Entwurf der Grünen soll das ändern. Von Ibrahim Kanalan.
Die Grünen wollen mit ihrem Gesetzesentwurf ermöglichen, dass Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere zumindest ihre wesentlichen Menschen- und Grundrechte wahrnehmen können, ohne dadurch eine Abschiebung befürchten zu müssen. Ein aktueller Gesetzentwurf wirkt zwar in diese Richtung, geht allerdings nicht weit genug.
Nach Schätzungen leben einige hunderttausend Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere in Deutschland, viele davon Kinder. Der irreguläre Aufenthaltsstatus kann unter anderem durch Einreise ohne gültiges Visum, durch negativen Abschluss des Asylverfahrens oder durch den Ablauf des gültigen Aufenthaltstitels entstehen. Der irreguläre Status dieser Menschen ist also das Resultat der Gesetze, die zur Migrationssteuerung erlassen wurden.
Dass sie trotz ihres irregulären Aufenthaltsstatus nicht völlig rechtlos sein können, ist in einem Rechtsstaat mit menschenrechtlichen Verbürgungen keine Revolution. Denn die Menschenrechte, wie sie im Völkerrecht und im Grundgesetz kodifiziert sind, stehen jedem Menschen unabhängig von seinem aufenthaltsrechtlichen Status zu. Das sind beispielsweise das Recht auf ein Existenzminimum (Art. 11 UN-Sozialpakt, Art. 1 Absatz 1 GG), körperliche Unversehrtheit (Art. 12 UN-Sozialpakt, Art. 2 Absatz 2 GG), Bildung (Art. 13 UN-Sozialpakt, Art. 12 GG) oder die Garantie des gerichtlichen Rechtsschutzes (Art. 14 UN-Zivilpakt, Art. 19 Absatz 4 GG). Auch das Recht, seinen Lohn einklagen zu können, ist als Teil des Kerns der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) und über die Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 GG) geschützt.
Beim Gang zur Behörde droht die Abschiebung
Soweit zumindest die Theorie. In der Praxis bilden die Rechte, die Menschen ohne Aufenthaltspapiere zustehen, indes nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist ihre Wahrnehmung und gerichtliche Durchsetzung - und genau dort bestehen erhebliche Schwierigkeiten.
Aufgrund der sogenannten Übermittlungspflichten der öffentlichen Stellen haben Menschen ohne Aufenthaltserlaubnispapiere praktisch keine Möglichkeit, grundlegende Menschenrechte wie Existenzminimum und Gesundheit oder aber Ansprüche aus einer Beschäftigung – z.B. Arbeitslöhne, Lohnfortzahlung bei Krankheit – und Leistungen der Sozialversicherung – z.B. der Unfallversicherung – tatsächlich in Anspruch zu nehmen bzw. diese gerichtlich geltend zu machen.
Die Übermittlungspflichten schreiben den öffentlichen Stellen wie etwa öffentlichen Krankenhäusern, Sozialbehörden oder Gerichte vor, personenbezogenen Daten unverzüglich den Ausländerbehörden mitzuteilen, wenn sie Kenntnis von dem irregulären Aufenthaltsstatus erlangen. Die Folge ist, dass Menschen ohne Aufenthaltspapiere bei der Inanspruchnahme ihrer grundlegenden Menschenrechte die Abschiebung droht. Das ist rechtsstaatlich und verfassungsrechtlich problematisch, da der Staat Menschenrechte nicht nur theoretisch anerkennen muss, sondern auch verpflichtet ist, ihre Inanspruchnahme tatsächlich zu ermöglichen.
Einzelne Übermittlungspflichten bereits abgeschafft
Diesen Widerspruch hat der Gesetzgeber zunächst mit dem Recht der Kinder auf Bildung aufgelöst. Nach der Änderung des Paragraphen 87 Absatz 1 Aufenthaltsgesetz wurden die Schulen von der Übermittlungspflicht befreiet.
Über den sogenannten verlängerten Geheimnisschutz (Paragraphen 88 Absatz 2 Aufenthaltsgesetz) wurde auch ermöglicht, dass Menschen ohne Papiere Zugang zur medizinischer Grundversorgung in Notfällen erhalten. Die Übermittlungspflicht der Krankenhäuser, Ärzte usw. und Sozialbehörden wurde für Notfallversorgung aufgehoben. Schließlich hat der Gesetzgeber zuletzt klargestellt, dass Lohnansprüche bei irregulärer Beschäftigung nicht nur wirksam sind, sondern auch gerichtlich eingeklagt werden können (Paragraph 98 a Aufenthaltsgesetz).
Übermittlung bald nur noch bei Gefahrenabwehr und Strafrecht?
Der Gesetzesentwurf der Grünen versucht den vorhandenen Widerspruch weiter aufzulösen. Der Entwurf sieht vor, dass die Übermittlungspflichten der öffentlichen Stellen auf die Behörden beschränkt werden, die für die Gefahrenabwehr und Strafrechtspflege zuständig sind. Beispielsweise Sozialbehörden, Gerichte und Unfallversicherungsträger wären dann von der Mitteilungspflicht befreit.
Die Änderung der Übermittlungspflicht im Rahmen der Unfallversicherung ist insoweit richtig und konsequent, da diese Ansprüche unabhängig von einem regulären Aufenthaltsstatus, aufgrund faktischer Umstände entstehen, wenn also tatsächlich eine Beschäftigung ausgeübt wird oder der Schulbesuch stattfindet.
Die Regelungen hinsichtlich der Abschaffung der Übermittlungspflicht der Gerichte und somit der Durchsetzung der Lohnansprüche sind ebenso sachgerecht und notwendig, da auch in diesem Bereich die Ansprüche unabhängig von dem Aufenthaltsstatus und der Beschäftigungserlaubnis entstehen. Dies wurde bereits durch Paragraph 98 a Aufenthaltsgesetz – aufgrund europarechtlicher Vorgaben im Rahmen der Umsetzung der Sanktionsrichtlinie – klargestellt. Der Gesetzgeber hatte jedoch versäumt, die Vorgaben des Art. 6 Absatz 2 der Sanktionsrichtlinie, d.h. die Sicherstellung der Wirksamkeit des Verfahrens der Durchsetzung, umzusetzen. Die vorgeschlagene Regelung dient daher auch dazu, die Defizite der Umsetzung europarechtlicher Vorgaben zu beheben.
Die Änderungsvorschläge hinsichtlich Paragraphen 87 und 88 Aufenthaltsgesetz zur Wahrnehmung des Rechts auf Gesundheit ist erforderlich, um menschenrechtliche Vorgaben aus Völker-, Europa- und Verfassungsrecht umzusetzen. Zwar besteht Zugang zu medizinischer Grundversorgung aufgrund des verlängerten Geheimnisschutzes. Dieser Anspruch ist aber zum einen auf Notfälle eingeschränkt und zum anderen ist der Zugang in der Praxis nicht effektiv. Die Regelung ist daher auch aus Klarstellungsgründen und Gründen der Rechtssicherheit förderlich.
Auch ein Existenzminimum muss gewährleistet werden
Kritischer ist jedoch die vorgeschlagene Änderung der Übermittlungspflicht nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Zwar ist es grundsätzlich notwendig, die Übermittlungspflicht der Sozialbehörden zu regulieren. Es ist aber unzureichend, sie nur auf Fälle der Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt (Paragraph 4) und sonstige Leistungen (Paragraph 6) zu beschränken. Menschen ohne Papiere haben nicht nur Recht auf Gesundheit, sondern auch auf ein Existenzminimum, welches sich aus dem Völkerrecht und verfassungsrechtlich dem Grunde nach aus der Menschenwürde ergibt, wie das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2012 festgestellt hat.
Verfassungsrechtlich geboten ist es daher, die Inanspruchnahme des Rechts auf Existenzminimum sicher zu stellen, welches durch das Asylbewerberleistungsgesetz auch für Menschen ohne Papiere einfachgesetzlich kodifiziert ist. Daher muss die Übermittlungspflicht für Sozialbehörden gänzlich aufgehoben werden. Auch hier hat das Bundesverfassungsgericht den Maßstab gesetzt: Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.
Der Autor Dr. Ibrahim Kanalan ist wissenschaftlicher Koordinator des Centre for Human Rights Erlangen-Nürnberg (CHREN) – Interdisziplinäres Zentrum der FAU und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Universität Erlangen-Nürnberg.
Dr. Ibrahim Kanalan, Gesetzentwurf zur Übermittlungspflicht: Menschenrechte auch ohne Aufenthaltsrecht . In: Legal Tribune Online, 28.07.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16389/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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